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Churchill und die Geburt Britanniens

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Im selben Augenblick, da der erste Band des großen Geschichtswerkes Winston Churchills, „A history of the English Speaking Peoples” (die fremdsprachigen Ausgaben tragen, über Wunsch des Autors, den kürzeren, aber etwas irreführenden Titel „Geschichte”), in Deutschland erscheint, begrüßt die englische Presse bereits den zweiten Band. Aus verschiedenen Andeutungen lassen sich indes bereits die Konturen des gesamten Werkes nachzeichnen. Während der erste Band die Geschichte der britischen Inseln von der Urzeit bis ins 15. Jahrhundert verfolgt — keine willkürliche Cäsur, formten sich doch in dieser Epoche jene Institutionen aus, die das englische Leben bis heute bestimmen —, überbrückt der zweite Band die Spanne zwischen 15. und 18. Jahrhundert, der dritte Band soll die Zeit zwischen Bienheim und Waterloo umfassen (in Manuskriptform vollendet!), dann soll sich der letzte Band mit den Jahren zwischen 1815 und 1901 befassen.

Der erste wie der zweite Band haben in England eine etwas geteilte Aufnahme gefunden, und es will uns scheinen, daß das Buch — die sogenannte „Chartwell Ausgabe” ist ein ungemein prächtiges Ding, mit wundervollem Druck, Papier und Goldschnitt sowie vielen Abbildungen, die in der deutschen Ausgabe fehlen — bei den anonym bleibenden Kritikern etwas schlechter abgeschnitten hat als bei denen, die, wie Sir Arthur Bryant, mit vollem Namen zeichneten. Manche Aspekte waren indes den Besprechungen beider Gruppen gemeinsam und ließen gewisse Erwartungen und Vorstellungen in einem zurück. Churchill, so vermutete man, hat sich hier auf einen etwas zu langen historischen Spaziergang eingelassen, im Verlaufe dessen er manchmal Zeichen von Langeweile oder Ermüdung nicht unterdrücken kann.

Gewiß zeigt er da und dort, wo die Situation „churchillischen” Anklang zeigt, noch die alte Lebendigkeit und ungebrochenes Feuer, sicherlich blitzen da und dort noch ungewöhnliche Erkenntnisse auf, aber im großen und ganzen ergibt sich doch der Eindruck einer innerlich nicht mehr ganz gedeckten „Gewaltanstrengung”, und die „Times” hat sogar, in einer etwas unbehaglich wirkenden Bonhotnie, angedeutet, daß dieses Nachlassen da und dort durch kolportagehafte Anklänge verdeckt werden soll.

Angesichts solcher Vorstellungen hat mich der erste Band (der, wie hinzugefügt werden soll, im wesentlichen schon 1939 fertig war, so daß die zitierten Kritiken nichts mit dem gegenwärtig hohen Alter des Verfassers zu tun haben) äußerst überrascht. Er ist wesentlich dichter und kräftiger als ich erwartet, die Erzählung wird nirgends brüchig und die Ironie ist höchstens sublimer geworden. Selten hat man früher einen Satz gelesen, wie den, der sich mit dem Auftauchen eines Kometen anläßlich der Krönung Harolds beschäftigt. „Der geschwänzte Komet”, heißt es da, „wird heute von den Astronomen als der Halleysche Komet bezeichnet, der bereits die Geburt unseres Herrn verkündet hatte. Es ist klar, daß dieses Beispiel göttlicher Oekonomie bei der Verwendung von Himmelskörpern zu weltweiten Zwecken durch geschickte Interpretation zum Vorteil Harolds hätte benutzt werden können …” Die Autorität, diesmal eine Autorität retrospektiver Art, ist gefestigt wie eh und je. Wenn Churchill etwa den Entschluß eines römischen Legionsbefehlshabers, London nicht gegen die Barbaren zu verteidigen, „hart, aber richtig” nennt, so hat man das angenehme Gefühl, die Angelegenheit sei damit ein für allemal geregelt. Auch der praktische Sinn des großen Marlborough-Spröß- lings kommt häufig zur Durchbruch. „Vom Jahre 400 bis zum Jahre 1900”, stellt er beispielsweise irgendwo fest, „gab es keine Zentralheizung mehr und nur wenige kannten heiße Bäder. Ein wohlhabender britisch-römischer Bürger dagegen, der sich ein Landhaus baute, erachtete ein Hypokaustum für unentbehrlich. 1500 Jahre lang lebten seine Nachkommen in der Kälte ungeheizter Wohnungen, die sie sich hin und wieder zu mildern suchten, indem sie vor riesenhaften Feuern schmorten.” Die zünftigen Historiker können hier natürlich einwenden, daß solche Abschweifungen — und Churchill tut sich in diesen Dingen wenig Zwang an — den seriösen Charakter der Arbeit beeinträchtigen. Dazu kann man natürlich nicht Stellung nehmen, ohne sich grundsätzlich mit der Einteilung des Werkes beschäftigt zu haben. Churchill hat sich mit seiner großen Marlborough-Biographie als befähigt erwiesen, mit den großen Historikern seiner Zeit in Wettstreit zu treten, denn bei dieser Arbeit ist es ihm gelungen, neue Quellen zu erschließen, unbekannte Fakten zu verarbeiten und ein gewaltiges Panorama zu entwerfen, dessen Authentizität nie bestritten wurde. Aber er hat diesen Versuch nicht wiederholt, weder in seiner Darstellung des zweiten Weltkrieges, die so stark episch geprägt ist, noch in der „Geschichte der englisch sprechenden Nationen”. Diese Arbeit, und hierin müssen wir den Historikern beipflichten, dürfte kaum als „Standardwerk” anerkannt werden wie die Biographie Marlboroughs. Sie wird trotzdem ein Denkmal bleiben und kommende Geschlechter werden sagen: „Hier und an dieser Stelle hat sich der große politische Genius Englands mit seiner Geschichte ein Stelldichein gegeben.”

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