6598514-1953_22_08.jpg
Digital In Arbeit

Ein unvollendetes Meisterwerk

19451960198020002020

„Der Mann ohn$Eigenschaften.“ Roman. Von Robe rt Musil. Herausgegeben von Adolf Frise. Rowohlt-Verlag, Hamburg. 1671 Seiten

19451960198020002020

„Der Mann ohn$Eigenschaften.“ Roman. Von Robe rt Musil. Herausgegeben von Adolf Frise. Rowohlt-Verlag, Hamburg. 1671 Seiten

Werbung
Werbung
Werbung

Das Kernstück der „Handlung“ ist ein Dreipersonenentwurf mit Ulrich, dem „Titelhelden“, und dem befreundeten Ehepaar Walter und Cla-rissa aus Musils frühester Zeit. Daraus weitet sich allmählich das Panorama der Wiener Gesellschaft am Vorabend des ersten Weltkrieges von August 1913 bis Ende Juli 1914. — Während der erste und zweite Band als „Gesellschaftsspiegel“ und „Comedie humaine“ bezeichnet werden kann

— aber nicht als „historischer“, sondern als ein aus 'der Vergangenheit entwickelter Gegenwartsroman, tritt im dritten und vierten Band mehr das „ethische Moment“ in den Vordergrund, und die historische Landschaft dient gewissermaßen nur als Absprungbasis. Um so mehr bedauert man, daß sich im mittleren Teil des Werkes die Perspektive verengt und das Verhältnis Ulrich-Agathe zu' sehr in den Mittelpunkt rückt. In den 24 Nachlaßstücken und den 16 Kapiteln des Schlußtetles ist das Bestreben spürbar, die Motivfäden weiter-zuspinnen, zu verknüpfen und cfie ganze Handlung

— nach einer Schlußsitzung der „Parallelaktion“ ■— in die ersten Kriegstage münden zu lassen. Nach einer letzten Begegnung Ulrich-Agathe sollte dann der Held in einem Nachwort die „Utopie der indirekten Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustandes“ resümieren.

Einige gegenständlichere Kapitel und Motive dieses letzten, zum erstenmal veröffentlichten -Teiles, seien wenigstens genannt: „Beschreibung einer kakanischen Stadt“ (wahrscheinlich Brünns), ■die Einführung des Jungsozialisten Schmeißer und seine Begegnung mit dem Wahrheitsapostel Meingast, Ulrichs Besuch bei Clarissa auf der Insel der Gesundheit, Clarissas Wahnsinn, ihre Irrfahrten und ihre Internierung in einer Anstalt, unter dem Titel „Der geknickte Prometheus“, schließlich eine „Einschaltung über Kakanien: Der Herd des Weltkrieges ist auch der Geburtsort des Dichters Feuermaul“.

Von besonderem Interesse ist auch die Aufschlüsselung einiger Figuren. Der Mann ohne Eigenschaften, Ulrich, taucht in den ersten Entwürfen als Achilles, später als „Anders“ auf, denn „er fühlte sich oft anders ein. Gerade damit war er aber nicht so viel anders wie seine Mitmenschen“. Einige seiner Bestrebungen und Charaktereigentümlichkeiten decken sich mit denen des Dichters. Arnheim, dessen Identität mit Walter Rathenau von Musil nie in Abrede gestellt wurde, heißt im Manuskript einfach „Rathenau“. Der Schulmann, Hagauer, Agathes, Gatte, spielt auf den bekannten Schulreformer Kerschensteiner an. Zu dem wenig liebenswürdigen Porträt des Professors Lindner hat Friedrich Wilhelm Förster Modell gestanden, der Prophet Meingast ist die Chiffre für den Philosophen Ludwig Klages.

Zahlreiche der zum erstenmal mitgeteilten Kapitel machen den Eindruck des Abgeschlossenen, Vollendeten und hätten, nach einem Gesamtplan, nur noch eingefügt werden müssen. Andere, mehr theoretische und abstrakte, wollte Musil kürzen, auflockern und in Dialoge oder in Handlung auflösen. Leider hinterließ Musil keinerlei vorsorgliche Anweisungen, so daß die vorliegende Fassung als die zwar fragmentarische, aber endgültige angesehen werden muß.

Das Südreich. Roman der Germanenzüge. Von Kasimir, E d s c h m i d. Paul Zsolnay Verlag, Hamburg. 435 Seiten, 10 Tiefdrucktafeln.

Dieses Buch, nun schon im 19. Tausend vorliegend, ist lesbar, interessant, gut ausgestattet und jedenfalls ein sehr brauchbarer Baedeker für Intellektuelle, die Süditalien und seine faszinierenden Mischkulturen kennenlernen wollen.

Ein „gewaltiges Epos“, wie es der Klappentext rühmt, ist es aber nicht. Dazu fehlt es ihm im Sprachlichen an Sorgfalt und im Gedanklichen an Genauigkeit: „Und doch mißtrauen sie einander und haben sich immer mißtraut“ (27). Ein Satz wie dieser läßt uns Klappentexten mißtrauen. „Es war, als sei das, was da auf ihn eindrang, von der gleichen verwunderlichen und herben Schönheit des Gefühls getragen, mit welcher der Knabe Konradin... in halb kühner und halb süßer Bewegung sich den Kopf von der Schulter hauen ließ“ '(67). Das ist nicht episch und nicht gewaltig — höchstens gewaltig geschmacklos. „Die Italiener stahlen überhaupt fast nicht, teils aus Abneigung gegen das Stehlen, teils aus Furcht vor den gewaltigen Strafen“ (37). Aha — also aus denselben Gründen, aus denen die Deutschen und die Eskimos und Sie und ich und die Reiseschriftsteller auch fast überhaupt nicht stehlen. „Aber diese Germanenstämme waren das Kräftereservoir gewesen, welches die Vorsehung im Norden aufgespeichert hatte, um eines Tages durch sie die antike Weltmacht zu liquidieren“ (31). Wiederum ein Satz, der an alles mögliche Unsympathische, aber gewiß an kein uns bekanntes Epos erinnert... Laßt' uns weiterhin Klappentexten mißtrauen und

„Das Südreich“ in unsere Bücherregale, in die Nähe des „Baedeker, Süditalien“ stellen. Dort gehört's mit Fug und Recht hin, nicht neben die „Odyssee“.

Geliebtes, unglückliches Kind... 85 Seiten. — Die erste Frau. Novellen. 286 Seiten. Beide von Pearl S. B u c k. Paul Zsolnay Verlag.

Der hochbegabten Frau, die dieses ergreifende Buch geschrieben hat, ist nur ein einziges Kind beschieden gewesen — und dieses eine mußte „immer ein Kind bleiben“. Denn es war von Geburt schwachsinnig — ein zartes, liebenswertes, empfindsames Geschöpf, das aber, wie der englische Titel des Buches ausdrückt, „niemals heranwuchs“. Es ist ein Gipfel an Mutterliebe, zu dem diese Frau durch das Leiden ihres Kindes aufsteigt, ein Gipfel an Weisheit, Verständnis und selbst an Glück. „Es gibt eine ganze Persönlichkeit, die mit dem Geist nicht zusammenhängt und geistig beschränkte Kinder kompensieren ihren Mangel oft durch' andere wertvolle Eigenschaften“: Solche Erkenntnisse, wie sie dieses Buch ausspricht, verdienen nicht nur die Beachtung der Fachpädagogen, sinnvoll abgewandelt und angepaßt sollten Eltern überhaupt mit ihnen vertraut sein. Denn die „Training School“ in Vineland, New Jersey, die das Kind der Autorin betreut und der diese, wie auch der amerikanische Verlag das ganze Erträgnis des Buches gewidmet hat, konnte aus den in Vineland gesammelten besonderen Einblicken eine „Skala der sozialen Reife entwickeln, die in den USA in der Armee, in Elementar- und Mittelschulen und bei Befähigungsnachweisen verwendet wird, kurz überall, wo normale Menschen beurteilt werden sollen: „Wir haben den hilflosen Kindern die Lehre zu verdanken, daß bloße Intelligenz nicht genügt.“

Der Eintritt des traditionsgesättigten alten China in den westlichen Kulturkreis nach dem Sturz der Mandschudynastie ist vielleicht in der Geschichte des uralten Reiches nur eine Episode gewesen. Andere, gegensätzliche Strömungen haben es zu noch unbekannten Ufern mit sich fortgerissen. Wäre dies ohne die vorhergehende Zerstörung des festgefügten, autochthonen Gebäudes von Kult und Sitte möglich gewesen? Die Konflikte, die dieser Einbruch des Westens in die Seele des einzelnen trug, haben jedenfalls in den Schriften von Pearl S. Buck ein bleibendes und gültiges Zeugnis gefunden. Ihre Novellen, jede die Miniature eines Schicksales, stehen in Gehalt, Zartheit und Farbe ihren großen epischen Werken in nichts nach.

Mexikanische Legenden. Erzählt von Camilla Campbell. Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Star mountain and other Legends of Mexico.“ Uebertragung ins Deutsche: Dr. Ernst Koller. Buchschmuck: Diplomgraphiker A. Mat-tauch. Donau-Verlag, Wien.

Mit den von ihr gesammelten Legenden aus Mexiko stößt Camilla Campbell für uns ein Fenster in die Welt auf. Die Vorgeschichte und die Geschichte Mexikos mit den Azteken, mit Montezuma und seinem großen Gegenspieler Cortez rollt wie hinter einem schönen Schleier ab, der alle Schärfen mildert. Ja selbst ein Stück österreichischer Geschichte erscheint dämmerig in diesem Reigen, wir begegnen dem Habsburger Maximilian und seiner Gattin Charlotte bei ihrem tragischen kaiserlichen Abenteuer. Man spürt es, daß Camilla Campbell das UeberJieferte dort aufgenommen hat, wo noch kindliche Freude am Erzählen und Zuhören wach ist. Damit entsteht ein Legendenkranz, der als Dokument einer starken Volksindividualität eine bedeutsame Lektüre für uns bildet und der doch auch jedem Kind in die Hand gegeben werden kann.

Verständnisvolle Aufmerksamkeit verdient die Ausstattung des Buches, nicht sosehr der Ganzleineneinband als vielmehr der mehrfarbige Buchschmuck mit Initialen, Vignetten und ganzseitigen Bildern. Sie gehen in ihrer holzschnittartigen Manier auf aztekischen Darstellungen zurück, wie wir sie in der Bildhauerkunst und der Hieroglyphenschrift des alten Mexiko finden. Es muß anerkennend hervorgehoben werden, daß sich ein österreichischer Verlag der Mühe unterzogen hat, mit so viel Sinn für das völkerkundlich Typische den Gedanken und Worten aus überseeischer Ferne eine graphische Paraphrase hinzuzufügen.

Hamann-Magus und das deutsche Schicksal. Vom Sinn der Einfalt. Von Georg Koch. Köln und Berlin: Verlag Kiepenheuer und Witsch, 1952. 146 Seiten.

Dieses klug geschriebene kleine Buch bewahrt auch heute noch, nach dem Erscheinen von Nadlers großer Hamann-Monographie, seine eigene Bedeutung. Es stellt Hamann unter das Vorzeichen Kierkegaard (worauf der Begriff der „Einfalt“ hindeutet). Unter der Auf Weisung literarischer und besonders theologischer und philosophischer Bezüge wird der genuin christliche Ansatz des Hamannschen Existenzdenkens aufgezeigt, das, verbaut durch den Neuhumanismus und durch den deutschen Idealismus noch immer seiner völligen Tiefenwirkung in den entscheidenden Schichten der Gebildeten harrt. Das Buch will ein Helfer auf dem Wege zu diesem Ziele sein. Es bietet auch dem rein historisch Interessierten eine Fülle wertvollen Materials zur Einführung in Hamanns Gedankenwelt und wird in der Hamann-Literatur eine bevorzugte Stellung einnehmen, und dies nicht zuletzt durch seine solide theologische und existenzphilosophische Unterbauung: ein Beitrag zur Hamann-Renaissance des 20. Jahrhunderts, der, leicht faßlich geschrieben, berufen ist, Hamanns Gestalt und Denken in breitere Kreise zu tragen.

Das Ende der Herrlichkeit. Von R. V. S u m a-rov. Leykam-Verlag, Graz 1952. 583 Seiten

Das Ende des alten feudalen Rußland und seiner adeligen Herrenschicht und der Untergang ihrer hochverfeinerten, überzüchteten Kultur sind Gegenstand dieses Romans, der der erste einer nach dem Titelhelden Andrej Rodonowskij benannten Tri-logie sein soll. Der Autor schildert darin, mit sichtlichem Bemühen um Objektivität, wie sie aus der Perspektive der Hauptfigur des jungen Fürsten möglich ist, das Leben der russischen Adelsgesellschaft während der letzten drei Jahre vor der Revolution. Die Erzählung, die zu Neujahr 1917 abbricht, hat starken Memoirencharakter, um frei erfundene Gestalten bereichert und überstrahlt vom Glänze eines dahingegangenen Ancien regime. Die Charaktere sind, mit wenigen Ausnahmen, durchaus glaubhaft, ohne daß freilich Entwicklungslinien sichtbar werden. So bleibt das Werk als Gesellschaftsroman etwas vordergründig, stellt aber ein überaus lesenswertes und interessantes Kulturdokument dar. Die Schilderung schwelgt geradezu in der detaillierten Darstellung der Gesellschaftskultur des alten Rußland, seiner Prachtentfaltung und seiner Formen, ohne aber zu ermüden, ein breit ausladendes abendliches Gemälde in gedämpften Farben.

Zehnte Symphonie. Beethoven-Roman. Von Otto F. Beer. Volksbuchverlag, Wien 1952. 277 S.

Die Schicksale eines berühmten Künstlers in Romanform nachzugestalten und zu versuchen, die Urgründe für das geniale Schaffen aufzudecken, ist ein lockendes Unternehmen für den Schriftsteller.O. F. Beer nahm das Jahr 1824, da Beethovüh nach Vollendung der 9. Symphonie und der „Missa solemnis“ sich mit Gedanken an eine 10. Symphonie und eine „Fausf'-Komposition beschäftigte, zum Ausgangspunkt seines neuen Beethoven-Romans. Wir finden eine verständige, wenn auch nicht universelle Beethoven-Betrach- • tung, die in einer rückschauenden Schilderung das reiche Leben des Genius zu deuten versucht. Der kultivierte Stil, der in knapper, doch durchaus fesselnder Darstellung intensive Stimmungen zeichnet, macht das Buch von vornherein sympathisch. Es spielt in diesen Betrachtungen, in denen meist Beethoven selbst in (oft vielleicht etwas langatmigen) Dialogen und Monologen sein Innerstes und seine Kunstanschauung dem Leser enthüllt, nicht so sehr eine Rolle, ob die historische Wahrheit aus schriftlichen Zeugnissen gewonnen wurde. Solche Romane können und sollen in schriftstellerischer Freiheit „deuten und dichten“, solange sie nicht im Fundamentalen irren. Zentrum der Darstellung Beers ist eine Nacht der Besinnung, da das ganze Leben an Beethoven vorüberzieht und er sich zu neuer Erkenntnis durchringt: „Nur im reinsten, keuschesten Klang der vier Streicher läßt sich ausdrücken, was ich in meinem Inneren wahrnehme.“ Wir könnten froh sein, wenn alle Künstlerromane mit solch aufrichtigem Ernst und Geschmack geschrieben wären.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung