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Das Maß Gottes und der Welt

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Auf Herz und Nieren. Roman. Von Paul Andre Angehörigen der Familie des Ernst-Albert Tüllmann.

L e s o r t. Mit einem Nachwort von Gabriel Marcel. Aus dem Französischen übertragen von Anton M. Rothbauer. Verlag Styria, Graz. 564 Seiten.

Zunächst scheint dieser Roman nichts anderes zu sein als einer der vielen Familienromane. Die Technik des Schreibens nennt Marcel in seinem Nachwort „Technik der Perspektive“ und damit ist angegeben, warum dieses Werk kein gewöhnlicher Familienroman ist, der bloß berichtet. Jedes Kapitel wird von der Blick- und Lebensrichtung eines der Glieder aus dem großen Familienverband der Drouet her geschrieben: der Autor verwandelt sich immer in eine der Personen seines Werkes — nicht, daß er diese jeweils in der Ich-Form berichten ließe, e r bleibt der berichtende Schriftsteller, der jeweils durch diese Stilart zu einem der Drouet wird. Auf diese Weise werden die Familie und jedes ihrer Glieder immer neu, anders gesehen und beschrieben: man kommt jedem einzelnen und dieser ganzen Sippe von allen Seiten der Beteiligten her näher. Das macht die zwingende Eigenart dieses Romans aus. — Was kann schon von einer Familie berichtet werden, wenn sie „bürgerlich“ und „normal“ ist? Viele Geburten, Verlobungen, Heiraten, Ehen, Tode, Zwistigkeiten und Familienzusammenkünfte. Lauter gewohnte und ganz gewöhnliche Geschichten. Lesort hat einen „christlichen Roman“ neuerer Art geschrieben, indem er immer die dritte Bitte des Vaterunsers umschreibt: Gottes Wille zeigt sich konkret immer in der gegebenen Situation. Unsere Freiheit ist meist nicht mehr als das Ja zu den Gegebenheiten, damit diese genau so .unfehlbar und „heilig“ geschehen auf dieser Erde wie sie im Himmel zusammengefügt bereits Gottes Ereignis sind. Gott prüft auf Herz und Nieren, indem er uns (manchmal verführend und über Umwege) zum Ja führt in dem ganz gewohnten und gewöhnlichen Leben unserer bedeutungslosen Tage. Der Sinn dieser vielen gemeinen Tage liegt darin, daß wir sie in die dritte Bitte des Herrengebetes hinüber- und hinausbringen, ohne den Anspruch zu erheben, daß dadurch mehr geschehe als das Alltägliche. Lesort hat für diesen Roman den „Großen katholischen Literaturpreis“ 1955 erhalten, was jeder kundige Leser verstehen und billigen wird.

Nichts als Agnes. Roman. Von Germaine B e a u-m o n t. Uebersetzt aus dem Französischen von W. Voigt. Gallus-Verlag. Wien. 312 Seiten.

Agnes ist die Schwiegertochter einer Irren und Schwägerin einer Exaltierten und Gattin eines Mannes, der nichts ist und nichts hat — nicht einmal die Liebe seiner Familie. Um Geld zu betteln, reist Agnes in das Elternhaus ihres Mannes, zu den „Robinsons der Langeweile“. Eine verrückte, irrationale, ungreifbare, lähmende, gespenstische, tötende Atmosphäre, in der nichts geschieht, nichts unternommen wird und doch alles tragisch zerbröselt und zerbricht — so schildert Beaumont diesen Ausschnitt aus dem Leben einiger Menschen und versetzt den Leser ins gnadelose Menschenleben: man ist Nichts und Wiedernichts!

Ein Testament. Roman. Von Joachim M a a ß. Kurt-Desch-Verlag, Wien. 453 Seiten.

„Es ist nicht Gottes, sich unserer Schwäche zu erbarmen, es ist unser Teil, sie vor Seinem ewigen, unerbittlichen Auge zu erleiden und am Ende sagen zu können: mehr vermag ich nicht.“ So leben die

Der schüchterne, schwache, gutmütige Hausherr verfällt dem Alkohol und kurz bevor er sich „totgesoffen“ hat, wird er ermordet. Seine exzentrische Frau Xenia wird des Mordes beschuldigt und ebenso seine drei Söhne. Durch den Kriminalbeamten Wimmer werden die jeweils Verdächtigen zum Sprechen gebracht: alle vier (und noch einige Nebenpersonen, unter denen auch der eigentliche Mörder, durch seinen Bruder vertreten) erzählen ihre Lebensgeschichte. Gnadeloses Ringen von vier Menschen, die das „Testament“, man könnte auch sagen „das Erbe“ eines Vaters und Großvaters, heroisch leben. Diese hamburgischen Brüder Karamassow, jeder ein Original, stammen von einer Mutter, die aus kleinen Verhältnissen kommt, eine bewunderte Tänzerin wurde, durch einen Unfall aber die Oeffentlichkeit verlassen mußte, ohne je ihren hohen Traum vergessen zu können. Ihren drei Söhnen vermacht sie den Ursprung ihrer eigenen Sehnsucht: das, was ihr eigener Vater als tatenloser, nichtschreibender Poet und Lebensleidender ihr an Sehnsucht und Unsterblichkeit vermacht hatte. Was der Alte nicht konnte, was die Tochte'r begann, haben die Söhne vollenden müssen: ein Leben ohne soziale Sicherung, aber mit personaler, freier Größe. Was in dem untergehenden Alten an Entwurf steckenblieb, mußte von den Enkeln ausgelebt werden — alle Liebesmacht, alle Furcht, die Angst, Krankheiten der Seele. Unerbittlich gegen sich selbst, übernehmen sie ihr Erbe in eigene Regie. Dadurch wird dem alten Großvater und der eigenen Mutter eine Unsterblichkeit des Familiengeistes geschenkt.

Dieser Roman ist erstmals 1939 erschienen. Er wird noch oft erscheinen und wird vielen Generationen von Denkern eine Quelle der Lebenskenntnis sein (vor allem das Kapitel „Angst“, eine an Heidegger erinnernde, romanhafte Darstellung dieses Phänomens). Das Werk hat Kraft des Inhalts und der Sprache — aber es hat keinen gültigen Gott. (Siehe oben!)

Ein Drama. Roman. Von Vittore F r i g e r i o. Uebersetzt aus dem Italienischen von Hildbrand Pfiffner. Rex-Verlag, München. 328 Seiten.

Ein Katechismusbeispiel: daß der Alkohol für die christlichen Familien Verderben bringt.

Im Zuge des Lebens. Roman. Von Zenta Maurina. Verlag Dietrich, Memmingen. 367 Seiten. Preis 12.80 DM.

Die Balten und ihr Land sind für uns seltsam: zäh und vital, versponnen und nüchtern. So ist dieser Bericht von der Lebensreise der Maija Berza die Geschichte vieler Stationen und Mitreisender. Neben der erstaunlichen Tatkraft der Hauptfigur lebt ein urgründiger Instinkt, eine verwirrt-verwirrende Triebkraft. Tod und Leben sind immer nahe beieinander — ganz unvermittelt wechseln seelische und äußere Situationen und sind doch immer glaubhaft. Gott, Geist und Religion sind durch Natur, Wissenschaft und Kunst ersetzt: ein beängstigend gekonntes, lasterhaftes Heidentum. — Zenta Maurina hat in diesem Roman eine „Summa baltica“ gedichtet — ohne Gott. Ob und wie dort mit Gott gelebt wird, möchte man eigentlich auch wissen. Dieser Ausfall ist ein bedauerlicher Mangel des Romans.

Annabella. - „Das Maß der Welt“. II. Band. Von Claude Longhy. Zettner, Würzburg. 563 Seiten.

Annabella ist 13 Jahre alt und lebt während des ersten Weltkrieges. Sie ist der Spiegel, der beide Seiten dieses Krieges widerstrahlt: die Welt der Vorkriegszeit und jene, die im Kriege steht und „anders“ wird. Selbst Annabella wird in diesem Buche anders, weil sie zuviel und zu vielerlei Leben mitleben muß: das häusliche, das durch die „Affenliebe“ ihrer Mutter zum beinamputierten Vater schief wird: das Leben der Jugend, die in den Krieg zieht, verwundet wird und sich verwundet; das Leben der Enttäuschten um sie her: ein Onkel, eine erbittert-moralische Haushälterin, eine glückliche Dienstmagd, eine aus Angst, Zweifel und Hoffnung lebende Tante, und der Untergang ihres Vetters, der durch einen Schuß ins Gesicht Antlitz und Hoffnung verliert ' und sich umbringt. Longhy schreibt überzeugende Menschen, die weder Helden noch Dummköpfe sind, sondern gewöhnliche Sterbliche, die aus jeder Gegenwart eine rasche Gewohnheit zu bauen bemüht sind. — Dieser Band ist auch ohne Kenntnis des ersten verständlich. Man hofft, daß über Anna-befla noch weiteres geschrieben werden wird, da man dies hier beschriebene Kind liebhaben muß.

Diego Hanns Goetz OP.

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