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Im Schatten der Macht

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Ein Budi vom Gift der Welt. Von Bruno Brehm. Leopold Stocker Verlag, Graz und Wien.

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Ein Budi vom Gift der Welt. Von Bruno Brehm. Leopold Stocker Verlag, Graz und Wien.

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Einen beträchtlichen Prozentsatz der österreichischen Bevölkerung stellen Menschen dar, die eine Zeit ihres Lebens hinter Schloß und Riegel oder hinter Stacheldraht verbracht haben — als Anhänger diverser politischer Richtungen, als Kriegsgefangene, als Verfedi- ter religiöser Überzeugungen, aus rassischen Gründen und gewiß so manche wegen eindeutiger, mehr oder minder grober krimineller Delikte, „übrigens gehört zu einem vollständigen Lebenslauf und zu den Dingen, auf die man gewissermaßen durch das Recht der Geburt Anspruch erheben darf, auch eine Zeit der Gefangenschaft" — so formuliert Ernst Jünger die zeitgemäße Tatsache, daß das Häftlingsdasein eine der normalen Lebens- Jarmen des Gegenwartsmenschen ist. Für die ehemaligen, gegenwärtigen und wohl auch zukünftigen Opfer politischer und kriegerischer Auseinandersetzungen sind Bruno Brehms „dokumentarische Schilderungen' bestimmt — für einen umfangreichen Leserkreis wäre somit gesorgt. Das Schicksal von Leidensgenossen soll den Lesern eine Lehre sein, ihnen Trost spenden und sie davon abhalten, ihre eigenen unerfreulichen Erlebnisse in Superlative zu kleiden: denn nichts ist unvergleichlich, alles ist schon dagewesen.

Die Darstellung von Unrecht und Leid ist gewiß nicht ohne Wert, gibt es doch immer noch Vergeltungsprediger, die nich vergessen und verzeihen wollen und das ihnen zugefügte Unrecht für das gröbste und ungeheuerlichste schlechthin halten: sie ist aber auch eine gesunde Lektion für jene, die von ihrem Los so geblendet sind, daß sie meinen, die an ihnen geübte Vergeltung übersteige bei weitem das Vergoltene an Grausamkeit. Man könnte also Brehms Versuch, das Häftlingsschicksal „in größerem Zusammenhang zu sehen', als einen verdienstvollen Versuch begrüßen, eine Läuterung der Einstellung von Leidenden ihrem Leiden gegenüber herbeizuführen — wenn nicht das Vorwort zu den Dokumenten und deren Auswahl den Eindruck erweckten, das Buch könnte von rechtmäßig Büßenden als Materialsammlung für jene Art von „Gewissenserforschung' und „Beichte" aufgefaßt werden, die aus entschuldigenden Vergleichen eigener mit ähnlichen oder schlimmeren Handlungen anderer Menschen besteht. Nichts einfacher, als die Schuld von einzelnen mit Hilfe derartiger Dokumente auf das „Gift der Welt zurückzuführen. Jeder einzelne „dokumentiert sich — soferne er überhaupt von irgend etwas gewußt hat, was um ihn herum vorging und was er selbst unterstützte (im Vorwort ist selbstverständlich zu lesen: „Niemand von uns ... ahnte damals .. . ) — als nicht übler denn die exquisite Auswahl von Übeltätern, die Brehms Buch als mit Macht Begabte vorführt.

Das „Gift wird also vom einzelnen auf das Kollektiv abgeleitet. Zugleich verwahrt sich jedoch Brehm auch entschieden gegen die Konzeption einer Kollektivschuld eines Volkes, wie man sie „den Deutschen aufgebürdet hat“: denn die anderen Völker sind nicht besser, jene „übrige Welt, die sich in gleicher

Der Hirte Loda. Roman von Wladimir Nazor. Aus dem Kroatischen übersetzt von Alfred Buttlar-Moscon. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, 686 Seiten.

Ein bizarres Thema, von dem namhaftesten modernen kroatischen Dichter geformt, von einem ausgezeichneten Übersetzer mit feiner Empfindsamkeit für die echte Wiedergabe des Originals übertragen. Dem Untergang der griechischen Götterwelt entrinnt ein Faun, in abenteuerlicher Fahrt gelangt er auf die dalmatinische Insel Braž (Brazza) und bleibt dort in der meerumspülten Einsamkeit des Weidelandes, an dessen Felsabstürzen die Brecher der Adria brausen, ein Schafhirt. Und hier in der dalmatinischen Umwelt erlebt er nun die Wechselfälle der Menschheitsgeschichte, die Verfestigung des Christentums, das Ende Diokletians in dem Castrum-Palaste von Salona und den Untergang des Römerreiches, die Völkerwanderung, Generationen und Schicksale ziehen an ihm vorüber bis herauf in die Gegenwart: schließlich ist er einer der Partisanenkämpfer des letzten Weltkrieges in Bosnien. Immer mehr vermenschlicht, geht er dem Ende alles Menschlichen entgegen. Phantastisch abgerissen verläuft die Handlung, ein Laufbild ohnegleichen, ein dichterisches Wagnis, kühn zuweilen bis zur Verstiegenheit, aber durchwebt von Schilderungen dalmatinischer Landschaft, in denen die Liebe des Dichters sich zur größten Schaffenskraft entfaltet. Braž, der „Insel der Zikaden', gilt auch der Abgesang, in den Nazor seine Schöpfung ausklingen läßt „Insel der Zikaden, ewig, ohne Unterlaß überflutet dich, eintönig schwingend, ein Ton, der Gesang der Zikade, die am Mittelmeer singt. Und sie tönt

Weise nachher an den Deutschen schuldig machte." So wäre also die Schuld auf alle Völker aller Zeiten gleichmäßig verteilt. Schließlich geht Brehm jedoch dazu über, den Begriff Schuld überhaupt jeder objektiven Bedeutung zu entkleiden: „Sieger sind nie schuldig. Schuld ist etwas, was dem Besiegten zu allen übrigen Lasten noch daraufgelegt wird.“ (Konsequent weitergedacht gibt es für „Schuldige' nur dann eine Hoffnung: die auf einen neuen und siegreichen Krieg. Brehm geht nicht so weit — aber seine „Dokumente' scheinen verhängnisvolle Gedanken zu begünstigen.

Es ist charakteristisch, daß kaum je die Rede von Recht und Unrecht ist. Aber müßte nicht, wenn schon ein Buch das Thema „Macht geht vor Recht anschlagt, irgendwo und irgendwann zu lesen sein, was der Autor eigentlich für Recht und Unrecht hält? Allein auf seine Hoffnung, „daß die Liebe allen Haß und alles Übel überwinden kann“, läßt sich die menschliche Gesellschaft nicht gründen. Den irdischen Machthabern und Richtern Liebe zu empfehlen, ist notwendig, aber sehr naheliegend und einfach, schwierig hingegen, milden,- aber doch zugleich gerechten Gesetzen zur Macht zu verhelfen und sich selbst ihnen zu unterwerfen.

Bruno Brehm scheint jedoch allen konstruktiven oder schwierigen Gedanken aus dem Wege gehen zu wollen. Er enthält sich — mit zwei Ausnahmen in ganz eindeutigen Fällen — jedes Urteils, ob, beziehungsweise inwieweit die Helden seiner dokumentarischen Schilderungen ungerechterweise leiden oder für ein wirkliches Unrecht büßen müssen. Die zwei Ausnahmen sind Sokrates, der nach Brehm „den Tod des Gerechten" starb, und Christus, dessen Verurteilung als „Urbild eines Justizmordes“ bezeichnet wird. Einverstanden. Aber was hält der Autor von all den übrigen? Die Mächtigen sind alle kohlschwarz gezeichnet und sollen anscheinend für böse gehalten werden. Sollen demgegenüber alle im „Schatten der Macht Lebenden, Leidenden und Sterbenden weiße Lämmchen sein? Befinden sich in der bunten Reihe jener, die dem „Gift der Welt" zum Opfer fielen, nur ungerecht Bestrafte? Ist es angezeigt, Christus und Sokrates mit etwa Oscar Wilde oder den Nürnberger Angeklagten in die gleiche Kategorie einzuordnen, nur deshalb, weil sie von Richtern verurteilt wurden, an deren ausschließlich lauteren Zielen und Beweggründen der Autor zweifelt? Nennt Brehm die Verurteilung Christi darum einen Justizmord, weil er Pilatus für einen Bösewicht hält? Und hält er alle für gerechtfertigt, die in die Hand von Richtern zweifelhaften Charakters fielen?

Es ist unerfreulich, daß Bruno Brehms spärliche Kommentare zu seinen Dokumenten alle wesentlichen Fragen unbeantwortet lassen. Noch unerfreulicher sind jedoch die Antworten, die Leser zwischen die Zeilen geschrieben vermuten könnten — und vermuten werden: denn Menschen, die im Schatten der Macht zu leben gelernt haben, können es nicht lasser, zwischen den Zeilen zu lesen.

und rauscht, o du meine Heimatinsel, ohne Unterlaß in meinen Ohren wie das Brausen des Meeres in einer Muschel, die schon längst von der Brandung an den Strand geworfen wurc'e'

Phoebe. Romantrilogie aus dem viktorianischen Schottland. Von Guy M c C r o n e. Deutsch von Elisabeth P o h r. Paul-Zsolnay- Verlag, Wien 1949. 765 Seiten.

Dieser Tage sprach McCrone vor Wiener Schriftstellern über Grundsätze des dichterischen Schaffens, die er bei den Klassikern der Weltliteratur findet und auch für moderne Autoren gültig erachtet. Vor allem lehnt er die Verwendung krankhaft überreizter oder gar psychopathischer Personen als Träger der Romanhandlung nachdrücklich ab; der Dichter brauche normale Menschen als Vorbilder seiner Gestalten, an denen er die Entfaltung der Charaktere und ihrer Reaktionen auf innere und äußere Erlebnisse in einer sittlich und künstlerisch befriedigenden Weise durchführen wolle. Die seelische und künstlerische Wahrheit sei die Voraussetzung echter und dauernder literarischer Wirkung. McCrones Roman „Phoebe" bestätigt seine Lehre. In ihm läßt er den Leser den blühenden Reichtum natürlicher Spannungen, Wandlungen und Gegensätze schauen, der in den unverdorbenen Seelenkräften normaler Menschen auf die seherische und gestaltende Kraft des Dichters wartet. Die zahlreichen interessanten und nicht selten amüsanten Gestalten des Romans entnimmt er den gehobenen Schichten der geschäftlichen, sozialen und religiösen Welt des unter der Königin Viktoria aufstrebenden Glasgow; er weicht auch den Schattenseiten jener Zelt nicht aus, sondern läßt einzelne seiner Gestalten durch düstere, an Dickens gemahnende Szenen der

Armut und der Verkommenheit gehen. Die Hauptpersonen erleben ihre junge Ehe und ihre Krise in Wien, damals, als die Kaiserstadt ihre Ringstraße, den „prachtvollsten Boulevard Europas", aufbaute und durch den Brand des Ringtheaters aus allzu satter Selbstzufriedenheit plötzlich aufgeschreckt wurde. Die einfachen Leute, die den beiden Schotten in Wien begegnen, sind gut gesehen, während manche Bilder des vornehmen Lebens an Unwirklichkeit leiden. Nicht unerwähnt bleibe die historische Gestalt des „Türken- Hirsch", die, heute fast vergessen, im Roman zu einer gewissen Geltung kommt. Bemerkenswert ist die Ebenmäßigkeit der Struktur des Werkes: es ist in drei fast gleich große „Bücher" gegliedert, die im Englischen eigene Titel haben, ohne den Gang der Handlung durch tiefe Zäsuren zu stören. Die Verteilung der Kapitel entspricht dem Bauprinzip. Das Schema erfährt durch kluge Unterteilungen, die wie rasche Bilderfolgen wirken, eine Auflockerung und Verflüssigung, durch welche die Lektüre angenehm und spannend wird. Der anregende Gegensatz Glasgow—Wien belebt auch die Charakterzeichnung. Seine da und dort überraschenden Kenntnisse des damaligen Wien verdankt McCrone nicht, wie man annahm, eigenen Erfahrungen, da er nur wenige Tage seiner Hochzeitsreise hier verbrachte, sondern neben Erzählungen seiner Eltern, die vor seiner Geburt längere Zeit in Wien lebten, der bedeutenden Einfühlungsgabe, mit der er seine intensiven Studien im Britischen Museum verwertete. Ohne Zweifel ist „Phoebe" einer der besten fremdsprachigen Romane, die uns letzthin zugänglich gemacht worden sind. Die Übersetzung selbst ist gut. Einzelne Schwächen, insbesondere die vom gemütvollen Dichter kaum gewollte gelegentliche satirische Verschärfung seines Humors, seien nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Gespräch der Feinde. Von Friedrich Heer. Europa-Verlag, Wien-Zürich. 164 Seiten.

Masaryk hat einst den berühmten Satz geprägt: „Demokratie ist Diskussion." Die Quintessenz des neuen Buches von Friedrich Heer lautet: „Europa ist Diskussion. Das tertium comparationis aus beiden Thesen würde demnach lauten: „Europa ist Demokratie." Tatsächlich kommt Heer auch zu diesem Schluß, nicht ohne darauf hinzuweisen, wie diese für Europa so notwendige Demokratie verwirklicht werden kann: nur durch Anerkennung des Kreuzes für Europa. Denn im Christentum allein wird der Gegner nicht nur anerkannt, sondern durch das Gebot der Feindesliebe dem Gegner ein Raum im eigenen Leben ausgespart. Voraussetzung, daß dieses Kreuz für Europa anerkannt wird, ist aber, daß die Christen nicht über das Christentum diskutieren, sondern es leben, das heißt die Feindesliebe verwirklichen.

Das Buch, welches aus fünf Essays besteht und dessen Sprache oft an Bernanos und

Haecker erinnert, ist ein wahrhaft europäisches: da es das Grundgesetz des Abendlandes den Europäern von heute immer wieder vor Augen hält. Es ist ein wahrhaft christ- lich-'S, da es den Christen der heutigen Zeit ihre schwere Verpflichtung vor Augen hält, durch die Verwirklichung des Gebotes der Nächstenliebe Europa zu retten. Und es ist ein wahrhaft österreichisches, denn durch den Exkurs über Österreich, der sich in dem kleinen Werk befindet, zeigt es, daß Österreich als „Kreuz und Kranz Europas das besondere Schicksal von der Geschichte aufgebürdet wurde, die Idee „Europa" zu verwirklichen und durch „ein Leben aus Widersprüchen heraus" der Welt zu beweisen, daß auch auf politischem Gebiet immer ein Gespräch der Feinde möglich ist.

Kierkegaard. Von Johannes Hohlenberg. Verlag Benno Schwabe, Basel. 455 Seiten.

Eine gute Biographie muß von einem tüchtigen Historiker, einem feinfühligen Psychologen und einem gewandten Schriftsteller geschrieben sein. Alle diese drei Anforderungen treffen bei der von Maria Bachmann- Isler ausgezeichnet übersetzten Kierkegaard- Biographie in hervorragendem Maße zu. Sie liest sich über viele Seiten wie einer der großen Dostojewsky-Romane. Dazu trägt zweifellos bei, daß der dänische Philosoph in mehr als einer Hinsicht Ähnlichkeiten mit den Gestalten des russischen Romanschriftstellers aufweist. Diese wie jener leben ihr Leben mit überstarker Intensität und zer- quälen dabei sich und ihre Probleme mit überscharfer Dialektik. Zuletzt können diese aber gar nicht vom Verstand bewältigt werden, sondern müssen, zumal bei der tief in Kierkegaards Veranlagung wurzelnden religiösen Redlichkeit, von seinem vollen Lebenseinsatz überwunden werden. Man muß förmlich sagen, daß bei Kierkegaard alle Begriffe seines Denkens die Probe des Lebens zu bestehen haben und daß alle seine Erlebnisse den engen Filter seiner kritischen Rationalität passieren müssen. Da Hohlenberg alle diese geistigen Vorgänge mit Meisterschaft darzustellen vermag, bietet er zugleich eine ausgezeichnete Einführung in das Denken und die Erkenntnisse des Dänen. In einem Rückblick wird daher ganz deutlich, daß Kierkegaard in prophetischer Weise die absolute Einmaligkeit und unantastbare Freiheit des einzelnen — gegenüber allen zu seinen Zeiten noch unbekannten Kollektivismen — vertrat, daß er ebenso in Hegels dialektischem System die Fortschrittsideologie der späteren Naturwissenschaften entlarvte und daß er durch seine messerscharfe Herausstellung der religiösen Entscheidung mit Recht der Vorfahre aller Existentialisten geworden ist. Es fragt sich allerdings, ob Kierkegaard seinem Biographen zugestimmt hätte, wenn dieser der menschlichen Freiheit die Möglichkeit zumißt, zu bestimmen, was Wahrheit ist; so daß er es für möglich hält (S. 412), daß ein Kollektivsystem, falls es von der überwiegenden Mehrzahl der Menschen angenommen würde, auch als Wahrheit Geltung erhalten müßte.

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