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Uber Hilaire Belloc

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Es gibt einen Typus des Alleswissers, der meist eine gesellschaftliche Plage bedeutet, so daB man sich an das Wort erinnert fühlt: „In einen hohlen Kopf geht viel Wissen.“ Doch zuweilen trifft sich's, daß der Polyhistor sein Wissen nicht durch bloßes Umladen von Buch zu Kopf, sondern kraft einer nimmermüden Denkenergie erworben hat, und dann wird aus einem zweibeinigen Nachschlagewerk ein Homo sapiens, in dem alles Menschenbemühen sich noch einmal zusammenfaßt. Solch ein Mensch war Hilaire Belloc.

Vieles traf zusammen, damit er so werden konnte. Belloc war ein Wanderer — in buchstäblichem Sinne, denn er ist immer wieder zu Fuß durch England, Frankreich, Spanien und Nordafrika gezogen: mit offenen Augen, welche Landschaft, Geschichte, Menschentum und Atmosphäre mit einem Blick in sich aufnahmen. Seine besondere Lust war dabei, alte Römerstraßen durch Aecker und Wiesen zu verfolgen, zu suchen und wieder aufzufinden. Das ist ein symbolischer Zug, denn genau so spürte er in Geschichte und Weltgeschehen die immer noch vorhandene Unterstruktur jenes Römischen Weltreiches auf, das auch heute in uns weiterlebt.

Belloc war aber auch ein Wanderer des Meeres. Mit seinem Segler ist er immer wieder durch jene englischen Gewässer gefahren, in denen der Atemzug des Ozeans zu spüren ist, und auch hier hat er uns die „Landschaften“ des Meeres so nahegebracht, daß wir den mit Tang und Müschein be-hangenen Neptun leibhaftig auftauchen sehen. Und dieser Wanderer war ein Dichter: voll von selbstgeschaffenen oder gehörten Liedern, die er beim Wein zu singen liebte, und voll von Worten über Gesehenes, Gefühltes, Gedachtes, die ihm in gedrängter Improvisation entströmten — Beethovens Improvisationen vergleichbar —, so daß die Zuhörer etwas von dem Entzücken eines Badenden unter dem glitzernden Wasserfall fühlten.

Dieser Seher, voll von Bildern, Geschehnissen und Menschen, war aber auch ein Glaubender, ein liebender Sohn .der katholischen Kirche. Der Glaube war das eigentliche Primum movens in Bellocs ganzer Tätigkeit. Er sah die Dinge so gut, weil er für eine christliche Ordnung der Dinge kämpfte. Er nannte sich stolz einen „reaktionären Revolutionär“. Und wenn das Christentum schon ein Quell des Humors ist — eben weil im Heiland alle Gegensätze, alle Humore überwunden sind —, wie erst muß dann ein englischer Christ Humor haben, da doch diese feuchte Insel schon von Natur ein Stelldichein allen Gelächters bildet I (Außer natürlich, wenn dieser Christ ein Puritaner ist...) Humor ist bei Belloc nie Absicht, sondern unwillkürliche Aeußerung des Menschentums.

Der englische Humor, dessen Klaviatur — von der steinernen Ironie bis zum schwebendsten Gefühlslächeln — Belloc mit Lust spielt, besteht technisch in einem Alternieren von „Overstatement“ und „Understatement“, also von Uebertreibung und von Untertreibung, während der amerikanische Humor sich allein auf die Uebertreibung stützt. •

Ein Ausnahmemensch wie Belloc mußte wohl ehrgeizig sein, aber nicht in jenem Ellbogensinne, der „vorwärtskommen“ will (das ist Belloc nie gelungen, schon weil er den englischen Schwächen unbeirrt ins Gesicht schlug), sondern in jenem edleren Sinne, der Dauerndes schaffen will — und das ist ihm gelungen. Er hat das bedeutendste englische Gedicht unserer Tage — „Heroic Poem in Praise of Wine“, „Heroische Ode an den Wein“ — geschaffen und schrieb zugleich die schönste englische Prosa. Auf diese Prosa will ich näher eingehen, da sie zu dem Menschen Belloc führt.

Ein englischer Staatsmann, der sich mit dem damals unbekannten Bismarck unterhielt, flüsterte später seinem anderen Nachbarn zu: „Nehmen Sie sich vor dem Mann in acht, der ist gefährlich: der glaubt wirklich, was er sagt!“ Diese innere Kraft der Affirmation, welche den Satz „a“ ist gleich „a“ so hingestellt, daß er fast wie „Ich bin der ich bin“ klingt, und zwar nicht durch aufgeregtes Hinauf-lizitieren, sondern gerade durch die unbeirrbare Schlichtheit der Feststellung — diese Kraft ist es, die einen Reiz von Bellocs Stil ausmacht. Gefährlich, das ist das Wort: dieselbe Wahrheit, noch eben langweilig wie eine Notariatseintragung, steht plötzlich plastisch da, wirft den Schatten von Gefahr und Abenteuer, wenn nur der Mann, der sie ausspricht, die ganze Schwere ihrer Konsequenz mitschwingen läßt — wodurch? Durch ein Nichts, einen stilistischen Trick, der nicht festzustellen ist, durch ein Schweigen um die Worte, das sie mit einemmal stumm, wie ein Heer des Agamemnon, heranrücken läßt. *

Die andere Eigentümlichkeit seines Stils ist dessen vehemente Logizität. Da Belloc dem Blute nach Halbfranzose war, wäre man versucht, sie als ■väterliches Erbteil anzusprechen. Allein nähere Betrachtung ergibt, daß diese ganz und gar englischen Ursprungs und von guter Tory-Tradition ist. Sie stammt aus der Debatte, der Kontroverse: sie spinnt nicht einsiedlerisch ihr Netz, sondern weiß sich jederzeit allen Einwürfen ausgesetzt und hat darum stets den kontrollierenden Rückschluß auf die ersten Prinzipien zuzulassen; es ist eine Logik des polemischen Raffinements, die sehr wohl zwischen Ueberredung, Plädoyer und wirklichem Ueberzeugen zu unterscheiden weiß. Es ist jene englische Logik, wie wir sie von Swift, von Samuel Johnson, von Kardinal Newman her kennen: am großartigsten vielleicht bei Newman, dessen Untersuchungen in ihrer unbeirrbaren Umsicht oft den ganzen College-Hintergrund ahnen lassen, den Spaziergang mit den Genossen durch die Wiesen von Oxford. Verwandt mit dieser Kraft der Ueber-zeugung und dieser Logik sind die Einfachheit und Klarheit seines Stiles, der auch hierin die Herkunft von den beiden größten englischen Prosaisten, von Swift und Newman, nicht verleugnet. Im Entwickeln eines Gedankens, in der Untermauerung einer These zeigt sich sein Gegoisatz zu Chesterton. Chesterton pflegte — bei aller Ehrerbietung — zuweilen den Stil des literarischen Knallbonbons: phantastisches Goldpapier, eine betäubende Pointe, und zum Schluß bleibt einem in der Hand ein schlichtbedrucktes Zettelchen, eine schmale kleine Wahrheit. Belloc aber fängt gerade damit an, womit Chesterton aufhört: er stellt seinen Gedanken, seine These mit dem ersten Satz auf und entwickelt ihn dann Glied für Glied „mit bedächtiger Schnelle“, indem er seine Wurzeln aufzeigt, seine Zweige, sein Blattwerk, bis dann endlich, im Innersten der Frucht, die Anfangsthese wiederum im nuce enthalten ist.

Fast alle Menschen sind gute Schriftsteller, wenn sie von ihrer Kindheit schreiben; sie haben vielleicht nicht mehr das große Kinderauge, wohl aber noch die Eindrücke, die es empfing — und den Abstand dazu, den die Zeit ausmaß. Denn die Zeit ist nicht nur ein strenger Kritiker, sondern auch ein großer Künstler. Sich eines Dinges noch im Erleben schon erinnern zu können — diese fast schmerzhafte Weitung des inneren Raumes, von Kinderblick zu Greisenabstand, in einem Augenblick zu durchleben —: solches macht eine Eigentümlichkeit der bedeutenden deskriptiven Künstler wie Belloc aus. Und diese Einfachheit, die das Gegenteil von Simplizität ist, kann man von einer anderen Seite her Klarheit nennen, von wo aus sie dann wieder raffiniert erscheint. Denn Klarheit sieht' ja nicht bloß Himmel, Welle und Gras, sondern weiß genau zu berichten: welch ein Himmel, welch eine Welle und was für ein Gras; sie begnügt sich nicht mit Tag und Stunde, sondern hält den Moment des fliehenden Wolkenschattens fest; sie nimmt jene Einzelheit wahr, die mehr als das Ganze ist, sozusagen die Initialen der Dinge, und das mit einem kindlichen „big-lipped surprise“, mit großlippigem Erstaunen — ein Ausdruck, der als Illustration für das Gesagte dienen mag, denn wann ist ein Kinderantlitz knapper und zugleich raffinierter geschildert worden als mit diesem Wort von Francis Thompson.

Mit seinem messerscharfen Verstand steht Belloc in der Nähe des Skeptikers, wie er ja auch den skeptischen Menschen als jenen bezeichnet, der am ehesten den Weg zum Glauben finden kann. Belloc kannte alle Einwände, er hatte sie in sich verarbeitet, er war mit ihnen fertig geworden. Wer solcherart zum Glauben kommt, steht verstandesmäßig fester da als jeder andere, und das gibt ihm die Kraft des Ueberzeugens und die Kraft der Weltoffenheit — damit wurde er der größte Apologet unserer Zeit. So war er wie ein mächtiger Baum: je tiefer in die Erde, um so höher zum Himmel hinauf.

Historisch eingeordnet, ist Belloc eine noch nicht abzuschätzende Kraft in _ jener katholischen Erneuerung Englands, die vor hundert Jahren mit Newman begann, sich sodann (wie bei dem Dichtervolk der Engländer zu erwarten) in der großen Lyrik von Coventry Patmore, Manley Hopkins und Francis Thompson fortsetzte, um endlich mit den publizistischen Begabungen von Chesterton und eben Belloc die Masse zu erreichen. Das ist eine Elite, zu der man heute Evelyn Waugh, Graham Greene, J. B. Morton, Ronald Knox und Christopher Dawson zählen kann.

Belloc hat sein Talent nicht vergraben, und so schuf er ein Lebenswerk von über hundertundfünfzig Büchern — eine ganze Riesenstadt von Gedanken! Und es lohnt sich schon, deutschen Lesern wenigstens das Wichtigste daraus — als kleinen Fahrplan für wunderbare Entdeckungsreisen — zu nennen.

Da ist sein lyrisches Werk mit den Sonetten, Liedern sowie den bezaubernden Kinder- und Tiergedichten, welches seinen Höhepunkt in der gewaltigen „Heroischen Ode an den Wein“ findet.

Seine bedeutendsten soziologischen Werke sind: „Der Sklavenstaat“ (wo er bereits 1910 den kommenden Dirigismus voraussagte). „Die Juden“, „Die Wiederherstellung des Eigentums“.

Erfrischende satirische Werke sind die sachkundigen Gaunerpredigten „The Mercy of Allah“ und das Romanwerk „Millionär wider Willen“.

Seine historischen Werke allein machen eine ganze Bibliothek aus. Vor allem zu nennen wären: „A History of England“ in fünf Bänden, „How the Reformation heppened“ („Wie es zur Reformation kam“), „Richelieu“, „Napoleon“.

Von seinen Wanderungen zu Wasser und zu Lande legt vor allem Zeugnis ab die wunderbare „Kreuzfahrt der Nona“.

Endlich und vor allem wären seine prachtvollen Essaybände zu nennen — Feldblumensträuße, in denen sich alle Fähigkeiten Bellocs wunderbar frei und in köstlichen Humorfarben entfalten. Eine schöne Auswahl aus den ersten sieben Essaybüchern hat J. B. Morton veranstaltet. Eine andere Auswahl aus seinen späteren Essays liegt nun unter dem Titel „Gespräch mit einem Engel“ in deutscher Uebersetzung von Walter Breitenfeld vor. Das Buch ist kürzlich im Verlag Herold, Wien (304 Seiten, Preis 78 S), erschienen. Dieses Werk ist in der Tat bester Belloc, und ich muß sagen, daß mir schon beim Ueberfliegen des Inhaltsverzeichnisses der Mund wäßrig wurde. „Wirklichkeit“, so heißt einer der Aufsätze; andere heißen „Ueber die Art, Leute loszuwerden“, oder „Der wahrheitsliebende Mann und der Teufel“, oder „Staatsgrenzen“, dann „Ueber Reklame“, „Von Legenden und Mythen“, „Von Büchern, die die Welt verändern“, „Ueber Fußnoten“, „Von den Tränen großer Männer“, „Ueber akademischen Haß“, „Die große Seeschlange“, „Ueber Gespräche mit Skeptikern“, „Von Steinbutten und Seepferden“ — man sieht, es gibt hier einen Tour d'horizon rund um die ganze Welt nebst Umgebung. Tiefe Gedanken mit „fun“, mit Spaß zu verbinden, das ist so erfrischend englisch! Da wird z. B. im „Wahrheitsliebenden Mann und dem Teufel“ die Tageskorrespondenz eines Mannes gebracht, dem der Satan die Gewohnheit des Sichverstellens genommen hat — und das Ergebnis ist so erschütternd, daß die nach dem Diktaphon schreibende Sekretärin in Tränen ausbricht. Und wie aufhellend, gleich einem Blitz in der Nacht, ist die Betrachtung über Legenden und Mythen, vor allem aber diese Kostbarkeit „Ueber Gespräche mit Skeptikern“, welche jeder gläubige Mensch von heute in sich aufnehmen sollte. Gerade im Essay offenbart sich der Wert eines solchen Alleswissers und Allesahnenden wie Belloc: sieht er doch Zusammenhänge mit Erde und mit Himmel, die nur er dank seiner Uebersicht gewahren konnte und keiner sonst. Auge und Sprache offenbaren uns den

Menschen, wandte sich doch Sokrates an einen stummen Jüngling mit den Worten: „Sprich, damit ich dich sehe!“ Hier, im prosodischen Gefälle dieser dahinschlendemden Essays, ist Belloc ganz Auge, weil ganz Sprache, so daß wir ihn mit einem Blick liebgewinnen. Und sind wir am Schlüsse des Buches angelangt, so haben wir eine Art Freund gewonnen, mit dem wir uns immer wieder treffen wollen.

Die Uebersetzung ist gut, denn man merkt, daß ihre Mühe zugleich eine Freude gewesen ist. Bellocs Tonfall ist erstaunlich treu herübergerettet worden. Und wenn ich hier auf einige Fehler hinweise, so sind das nur die wenigen Fliegenpünktchen auf einem sonst klaren Glase. Statt „auf dem Kontinent“ heißt es „a m Kontinent“, das ist ein Austriazismus. Im Zusammenhang mit der Schlacht von Valmy wird von „Brunswick“ gesprochen, es war aber Braunschweig, nämlich der Herzog von Braunschweig. Auch wird ein französischer Politiker um 1914 „Vivian“ genannt, es war aber Viviani; auch war die Alexanderschlacht nicht die von Arabela, sondern die von Arbela. Dann sjnd im Englischen „outspoken“ und „prominent“ ganz gute Wörter, während im Deutschen „ausgesprochen“ und „prominent“ einen phrasen- und reklamehaften Beiklang haben. Schließlich wird in dem, sonst hervorragend übersetzten Essay über Gespräche mit Skeptikern das Wort „der Glaube“ nicht ganz richtig angewandt. Denn bei Belloc bedeutet „the faith“ stets „der katholische Glaube“, und zwar nicht so sehr die subjektive Ueberzeugung, sondern das ganze Glaubensgebäude. Im Deutschen aber bedeutet seit Luther „der Glaube“ mehr „das Glauben“, z.B. „Der Glaube und nicht die Werke“. Darum kann man Bellocs „the faith“ nicht einfach mit „der Glaube“ übersetzen Doch sind das nur geringfügige Fehler eines sonst sehr gut übertragenen Werkes, welches weitere Auflagen verdient, wo man ja diese Mängel wird unschwer tilgen können. •

Ich möchte nicht schließen, ohne mit Dankbarkeit von Hilaire Bellocs Einfluß auf meine Denkart und mein Leben zu berichten. Ich wurde vor einem Vierteljahrhundert durch eine Zeitungsnotiz auf ihn aufmerksam, wo nebenbei vermerkt wurde, dieser seltsame Engländer habe auch einen brillanten Aufsatz über Käse geschrieben — „On cheeses“. Gerade deshalb bestellte ich mir das Buch und habe seitdem nicht aufgehört, mich immer wieder mit seinen Werken zu beschäftigen. Bücher sind Karaffen, Wasserleitungen oder Quellen — hier diese waren Quellen. Sie wirkten auf mich konstitutiv, gingen mir ins Blut, bauten Teile meines Selbst auf — ein neues Werk von Belloc, das war wie der Besuch eines verehrten Freundes. Er war mit seinem Mut, seinem Lachen, mit seiner Vorliebe für Klarheit, für Geschichte, für das Meer, ein ganzer Mann, ein Vorbild. Man kann den Hingang eines solchen Menschen wie Belloc, mit seinen 83 Jahren, kaum betrauern, sondern nur ehrfürchtig und bewundernd vermerken. Er hat seine Arbeit getan — 153 Werke bezeugen es. Und sie wirken genau so fort, als ob er, Hilaire Belloc, noch am Leben wäre. Für einen solchen Mann ist der Tod nichts Endgültiges.

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