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AUS FERDINAND EBNERS UNVERÖFFENTLICHTEN BRIEFEN

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Am 18. März 1900 machte der junge Seminarist und angehende Volksschullehrer Ferdinand Ebner die Bekanntschaft seiner um neun Jahre älteren Kollegin, der Wiener Neustädter Handarbeitslehrerin Luise Karpischek. Dieser Tag — noch zwanzig Jahre später vermag sich Ferdinand Ebner mit aller Deutlichkeit an ihn zu erinnern — sollte zum Geburtstag jener unerschütterlichen Freundschaft werden, die viele Jahre hindurch nicht nur den vielleicht einzigen Halt in seinem an körperlichen, seelischen und geistigen Leiden so überreichen Leben darstellte, sondern auch entscheidenden Einfluß auf die Vollendung seines philosophischen Werkes ausübte. Denn Luise Karpischek — unerhört belesen, aber auch mit einem überaus feinen Instinkt für alles Echte und Große begabt — war zweifellos der erste Mensch in Ferdinand Ebners Leben, der ganz ohne egoistischen Hintergedanken und ohne jede Absicht, in plumper Weise zu schmeicheln (hatte sie doch auch früher immer wieder den Mut gefunden, die unreifen lyrischen Ergüsse des Seminaristen und Unterlehrers glattwegs abzulehnen), bedingungslos an seine Berufung als Denker glaubte. Alles das wollte Ferdinand Ebner wohl auch zum Ausdruck bringen, als er von jenem Tag des Jahres 1921, an dem er das erste noch druckfeuchte Exemplar seines Hauptwerkes, seiner „Pneumatologischen Fragmente“, in Händen hielt, schrieb: „Nicht mein, sondern Dein Tag.“

Vielleicht aber wollte er mit diesen schlichten Worten noch eine tiefergreifende Beziehung der Freundschaft mit Luise Karpischek zu seinem Lebenswerk andeuten. Vielleicht wollte er damit sagen, daß er seinen eigentlichen revolutionierenden Grundgedanken, den Gedanken nämlich, daß das „Ich“ keineswegs in der Beziehung zu irgendwelchen „Objekten“ — und seien es auch die erhabensten künstlerischen oder wissenschaftlichen „Ideen“ — sein eigentliches Sein, seine eigentliche „Subjektivität“ zu verwirklichen vermag, sondern erst in der Hingabe an eine andere „Person“, an ein „Du“ (letztlich an das „Ur-Du“ Gottes) zu seinem eigentlichen Sinn gelangt, gar nicht gedacht hätte, wenn er nicht in der großen Einsamkeit vor allem seiner jüngeren Lebensjahre wenigstens einem Menschen begegnet wäre, dem er sich beinahe ohne alle Einschränkung hätte anvertrauen können.

Eines steht jedenfalls fest: keinem anderen seiner zahlreichen Briefpartner gegenüber vermochte sich Ferdinand Ebner so gelöst und frei auszusprechen wie seiner mütterlichen Freundin gegenüber. Niemals ergab sich ihm das Wort — das eigentliche Medium dieser spezifisch menschlichen Beziehung des „Ich“ zu einem „Du“ — mit so verblüffender Selbstverständlichkeit wie in seinen Briefen an sie, denen wir viele der originellsten und treffendsten Äußerungen über Ereignisse der Zeit, über Konzerterlebnisse und Werke der bildenden Kunst, vor allem aber über bedeutende klassische und zeitgenössische Werke der Literatur verdanken, Äußerungen von jener eigentümlichen „Objektivität“ erfüllt, die primär eben nicht von den „Objekten“ selber her verstanden werden kann — denn wäre Sachlichkeit um der Sache selber willen Im Grunde nicht ein Widersinn? —sondern nur aus dei „subjektiven“ Wahrheit des gegenseitigen Einverständnisses in der konkreten menschlichen Begegnung. E. H.

Was in Dostojewskis literarischen Schriften einen so starken Eindruck auf mich machte, sind einzelne Äußerungen über das Christentum. Das ist ja doch überaus merkwürdig zu sehen, wie Dostojewski das Christentum ganz aus der Hand des russischen Volkes entgegengenommen hat — nach seinen eigenen Worten. Das russische Volk, seine Zukunft und das Christentum — das ist für ihn ein und dasselbe. Vermögen wir „Europäer“ eine derart „bodenständige“, im Leben der Generation tief verwurzelte Auffassung des Christentums überhaupt zu verstehen? Es läßt sich auch keineswegs so leicht ermessen, wieweit diese Auffassung ein Mißverständnis impliziert. Aber vielleicht bedeutet sie tatsächlich ein Mißverständnis. Denn — nicht durch sein tieferes Verwurzeltsein im Leben seiner Nation ist der russische Bauer und Mann aus dem Volke (welch sehr beachtenswerter Umstand, daß er sich selbst „Krestjanin“, d. h. soviel als Christ, nennt!!) dem Geist des Christentums näher als der Europäer, sondern nur deshalb, weil er (allerdings vielleicht eben wegen dieses Eingewurzeltseins im Mutterboden der russischen Erde und des russischen Volkes) dem Ungeist der europäischen Zivilisation innerlich fremd gegenübersteht. Das ist doch gewiß und ausgemacht für alle Ewigkeit (oder das Christentum hat überhaupt keinen andern als einen historischen Sinn, und seine Bedeutung ist eine vergängliche, wie die Bedeutung alles dessen, was bloß historisch und der Relativität alles Historischen unterworfen ist), das ist gewiß: an und für sich steht kein Mensch durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder Nation, zu einem bestimmten biologischen Typus überhaupt, Gott näher oder ferner. (Natürlich gibt’s auch keinen Gott der Deutschen.) Es ist die Frage, ob sich jemals eine Generation als solche innerlich (hat denn eine Generation „Innerlichkeit“ ? ? ?) nach Christus orientieren kann. Für Dostojewski freilich und seinen Glauben an das russische Volk ist das keine Frage. Immerhin muß man vor dem Glauben Dostojewskis Respekt haben — der heutige Deutsche freilich, der sich fortwährend darauf was zugute tut, daß seine Nation einmal von einem Engländer das Volk der Dichter und Denker genannt wurde, der Deutsche ist dieses Respekts kaum fähig —, ohne Christus konnte Dostojewski nicht an sein russisches Volk glauben. Möglicherweise hätte selbst er unter gewissen Umständen seinen Glauben an die Russen und ihre Zukunft einbüßen können — dann wäre ihm noch immer sein Glaube an Christus geblieben. Das ist aber der springende Punkt und der Kern dessen, was hier in Frage steht. Konfrontieren wir einmal in dieser Hinsicht den heutigen Deutschen mit Dostojewski. Hat der Deutsche noch den Glauben an Christus? Wer wagt es, ja zu sagen? (29. März 1917.)

Es ist sehr lieb von Dir, daß Du jener Sprüche aus dem Cherubinischen Wandersmann gedenkst, die Du mir zu Ostern hattest zeigen wollen. Die zwei, die Du in den Brief hineinschriebst, kannte ich bisher noch nicht. Schön sind sie, sehr schön — und verführerisch. Verführerisch wie so ziemlich alle tieferen „mystischen“ Gedanken. Wird nicht auch in der Mystik die religiöse Einstellung des Menschen ins „Ästhetische“ umgebogen? Das Ästhetische ist freilich noch immer das schönste Refugium des Menschen in seiner geistigen Existenznot (16. April 1917).

Da fällt mir jetzt ein, daß ich Dir doch auch berichten muß, wie die Lektüre von Tolstois „Kreutzersonate“ während der Ostertage keineswegs so ganz ohne Eindruck auf mich geblieben ist. Sosehr sie auch ästhetisch-psychologisch verfehlt sein mag — mir wenigstens kommt es so vor, als ob sie das wäre —, mit ihrem ethischen Grundgedanken hat sie am Ende recht Jedenfalls meine ich eins: man sollte eben über diesen Grundgedanken nicht so ohneweiters zur Tagesordnung übergehen wollen im lieben Leben dieser Welt. Die Bedenklichkeiten unsrer Existenz werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß man sie einfach nicht bedenkt (27. April 1917).

Gestern nachmittag ging ich wieder ins Kaffeehaus und hatte mir auf den Weg den Hölderlin in die Tasche gesteckt. Wie unendlich „langsam“ muß man ihn doch lesen — gestern war alles in mir dazu angetan, ihn langsam zu lesen —, und liest man ihn so, so kommt man erst darauf, was für ein Leben er den Worten der deutschen Sprache geschenkt hat (3. Mai 1917).

In „Anna Karenina“ bin ich weit genug vorwärts gekommen, wie man eben einen Roman liest, der einem neu ist und von einigem Interesse. Seinerzeit prägte ich mir für den Eindruck, den Dostojewskys „Brüder Karamasow“ auf mich gemacht hatten, die Formel „Odyssee des Gefühls und der Leidenschaft“ — und das stimmt wohl. Bei diesem Roman von Tolstoi möchte ich sagen, er sei die Ilias des höheren Gesellschaftslebens. Ich meine, auch das dürfte stimmen (2. September 1917).

Nachmittags las ich noch bis sechs Uhr in der „Göttlichen Komödie“. Zwar bin ich bis jetzt erst bis zum 17. Gesang des ersten Teils gekommen — aber ich glaube doch, über das Wesentliche der Dichtung mir bereits das richtige Urteil bilden zu können. Und da meine ich, sie ist nicht nur ein religiöses Mißverständnis — und ein Mißverständnis des Religiösen —, sondern auch ein dichterisches. Es ist der Geist des Katholizismus, der sie am Gewissen hat. Ein Christentum, das die ideellen geistigen Werte des Heidentums nicht preisgeben will, oder — wenn man lieber will — ein Heidentum, das den Geist des Christentums in sich aufnehmen will, ohne sich selbst dabei aufzugeben. Vielleicht ist die zweite Formel sogar die zutreffendere. An diesem Widerspruch muß eine Kultur zugrundegehen. Daß die antike Kultur zugrunde ging, das hatte vielleicht vor allem biologische Ursachen. Daß aber die abendländische Kultur, die sich eine „christliche“ nennt, so jämmerlich zugrundegeht, das hat geistige Ursachen (2. April 1918).

Mit Hauptmanns „Narren in Christo“ bin ich inzwischen fertig geworden. Ich habe den Roman diesmal denn doch mit dem Gefühl einiger Orientiertheit gelesen, mir während der Lektüre auch hie und da einiges gedacht, das ich mir aber nicht aufzeichnete. Das ganze „Gewebe“ des Romans ist in seiner Entfaltung und Ausbreitung wohl bewundernswert. Aber ich meine doch, daß man es dichterisch nicht überschätzen soll. Hie und da stößt man, besonders im Anfang, auf einen „abstrakten“ Faden, der, wie mir vorkommt, jeder dichterischen Konkreszierung widerstrebt. Die Perspektive, in der einen der Roman die Gestalt und Persönlichkeit des Quint und auch die übrigen Gestalten in ihrem Verhalten zu ihm sehen läßt, ist vielleicht das Beste am Ganzen (aber auch das, womit der naive Romanleser absolut nichts anzufangen weiß ). Ich nehme nicht einmal Anstoß daran, daß eben diese Perspektive einer rationalistisch-psychologischen Deutung des Lebens und der Persönlichkeit Jesu einen Unterschlupf gewährt, ja hie und da geradezu herausfordert zu einer solchen Deutung. Das Problem des Christentums soll, meine ich, überhaupt nicht in ästhetisch-poetischer Distanz beleuchtet werden Wenn sich der Dichter mit dem Geist des Christentums einläßt, so hört er auf, Dichter zu sein. Was übrigens die psychologische Entwicklung in dem Roman betrifft —, es gibt da zwei Hauptmomente. Das eine ist die Identifikation Quints mit dem Christus. Diese Identifikation ist uns durch den sonderbaren Traum Quints im Gefängnis psychologisch nahegebracht, wenn auch keineswegs restlos begreiflich gemacht. Das andere Hauptmoment aber ist das Heraustreten Quints aus seiner Gärtneridylle. — Hier aber bleibt uns, wie mir vorkommt, Gerhart Hauptmann die psychologische Nahebringung dieser Flucht aus der Idylle ins Leiden ganz schuldig. Theodor Haecker meinte, Hauptmann habe mit diesem Roman die Ehre des deutschen Geistes wieder gerettet. Was mich betrifft, ich meine das eigentlich gar nicht. Ein Anstoß zu dieser Ehrenrettung hätte aber der Roman vielleicht sein können — wenn sich nämlich die

Deutschen die Mühe genommen hätten, über ihn ein bißchen mehr nachzudenken (29. Juli 1918).

Die letzten drei Tage habe ich in meiner gewöhnlichen Stille und Weltabgeschlossenheit verbracht Einmal nahm ich Goethes „Hermann und Dorothea“ her und las ein paar Seiten. Die Sonne vergoldet alles, sagen, glaub’ ich, die Maler. Sie vergoldet auch das innere und äußere Philisterium der deutschen Spießbürgerexistenz. Aber trotz diesem Sonnen- und Goldglanz mochte ich nicht weiterlesen (11. August 1918).

In diesen Tagen des Müßiggangs kommt eines der Bücher zu Ehren, zu besonderen Ehren, die ein Geschenk von Dir sind „Des Knaben Wunderhorn“ Dieses Buch mit seiner Unsumme von Poesie, wahrhaftigster Poesie, wie sie ähnlich nur noch in den Gedichten Goethes zu finden ist so recht in seinem Wert zu schätzen, war ich vielleicht früher gar nicht imstande. Und es ist unschätzbar, nicht nur in den einzelnen Volksliedern und Gedichten, vor allem im Geist ihrer Sammlung. Keine andere Volkslieder Sammlung vermöchte es zu ersetzen. Wenn ich jetzt, meistens abends, darin lese, habe ich ein ähnliches Gefühl, wie ich es vor zwei Jahren bei der Homer-Lektüre hatte. Das ist gewiß kein Zufall. Ich glaube ja auch, daß die in hunderten von Balladen und Liedern zersplitterte Poesie in des „Knaben Wunderhorn“ eine ähnliche geistige Bedeutung hat wie die homerischen Dichtungen. Das ist ein und dasselbe Sonnenlicht, das eine Mal hell und klar vom griechischen Himmel niederstrahlend, das andere Mal in tausend Regentropfen farbig sich brechend. Nur daß der Homer am Anfang und Morgen der griechischen Kultur stand, des Knaben Wunderhorn aber am Ende und Abend der deutschen. Die Romantik war das letzte Aufleuchten des deutschen Geistes. Das Aufleuchten aber und Nachglänzen einer schon untergegangenen Sonne am westlichen Himmel (11. August 1918).

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