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Der gemeinsame We

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Nun faltete ich den Bogen auseinander und las. Es war wenig und in Eile geschrieben. Ein kurzer Bericht, wie er der Hölle entgangen, einige Fragen und am Schluß die Bemerkung: „Alles ist ärger gekommen als wir vermuteten. Die Finsternis ist abgründiger als zu ahnen war. Und Aussichten? Ja, da bleibt bloß der Glaube und die Gewißheit der zweiten Ankunft des Herrn ...“

Ich las die Stelle noch einmal, dann legte ich den Brief weg. Später wollte ich drüber nachdenken. Jetzt streckte ich mich im Polstersessel aus und griff nach der Zeitung ... Aha, also doch ... Nun, wir werden sehen ... Das weis ich schon ... Wieder ein Versager. So durchflog ich die Blätter. Die Gedanken von vorhin gingen mir nicht aus dem Kopf. Hier hast du ungeheures Material zur Frage nach dem Sinn der Vergangenheit und Gegenwart. Aber wer kann es deuten wie Daniel, der als einziger die Schrift an der Wand lesen konnte. Ich habe schon einigemal versucht, mit gescheiten Leuten drüber- zu reden, doch sie gingen nicht recht drauf ein und selber find ich den Faden nicht. Geschrieben findet man auch nichts. Sind wir so erschöpft? Kommt das später? Mir fiel das Wort des Herrn ein: Am Abend sagt ihr, es gibt schönes Wetter, denn der Himmel ist feuerrot. Am Morgen, heute gibt es Sturm, denn der Himmel ist trübrot. Das Aussehen des Himmels wißt ihr zu deuten, die Zeichen der Zeit aber versteht ihr nicht? — Ich las noch einmal in der Zeitung und drei Sachen fielen mir auf.

Erstens: Kaum ein halbes Jahr nach dem Ende des schrecklichsten aller Kriege wird bereits wieder an wenigstens drei Stellen der Erde gekämpft.

Zweitens: Im Laufe dieses Winters — warum wartet man nicht wenigstens den Sommer ab? — werden sieben Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben.

Drittens: Durch die Atomzertrümmerung gibt eine Urankugel von einem Kubikmeter bei Beschießung mit einem einzigen Neutron eine derartige Energiemenge ab, daß davon die ganze Erde zerstört würde.

Das letzte machte den stärksten Eindruck auf mich. Wenn es so steht, dann ist tatsächlich alle Gemütlichkeit in Frage gestellt. Das vergangene Jahrhundert der Technik hat das Antlitz der Erde verändert. Wer könnte sagen verschönt und bereichert) Was wird das neue Jahrhundert der Übertechnik aus unserer alten Erde machen? Ich stelle mir vor, bei der Herstellung des Urans vergißt der betreffende Mann, sagen wir der Lehrbub, den winzigen Zusatz des Bremskatalysators Cadmium, der eine plötzliche Zertrümmerung der ganzen Masse durch Kettenreaktion zu verhindern hat. Sollte so die Welt in einer einzigen ungeheuren Explosion zerstört werden? Welche Gefährdungen unseres Daseins! Wie besteht da mein Traum von der Idylle? Und die sieben Millionen, die heuer im Winter zu wandern beginnen werden, wie wird sich ihnen das Dasein darstellen? Und so viel Friedensgerüchte, und die Kriegsfackel ist noch nicht einmal erloschen.

Mir wurde es enge in meinem Wintergemach und ich öffnete Läden und Fenster und streckte den Kopf hinaus. Etwas Schnee lag auf den Dächern der Nachbarn und die winterlichen Sterne flimmerten drüber.

Es war spät und Zeit zum Schlafengehen. Ich schloß das Fenster und kniete mich zum Abendgebet nieder. Dann fiel es mir ein, noch ein Stück in der Heiligen Schrift zu lesen und ich schlug die Geheime Offenbarung auf und las.

„Als das Lamm das siebente Siegel öffnete, entstand eine Stille im Himmel wohl eine halbe Stunde lang. Ich sah, wie den sieben Engeln, die vor Gott stehen, sieben Posaunen gegeben wurden. Dann kam ein anderer Engel mit einem goldenen Rauchfaß. Ihm wurde viel Räucherwerk gegeben, damit er es mit den Gebeten aller Heiligen auf den goldenen Altar vor den Thron Gottes lege. Der Duft des Räucherwerkes stieg mit den Gebeten zu Gott empor. Dann nahm der Engel das Rauchfaß, füllte es mit dem Feuer vom Altare und warf es auf die Erde. Da erfolgten laute Donnerschläge, Blitze und Erdbeben. Und die sieben Engel mit den sieben Posaunen machten sich bereit zum Blasen.“

Hierauf betete ich das zweite Abendgebet, welches täglich mein letztes ist: „Herr, bleib bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Bleibe bei uns und deiner Kirche. Bleibe bei uns am Abend des Tages, am Abend des Lebens, am Abend der Welt. Bleibe bei uns und allen Gläubigen.“

Ein führender evangelischer Theologe unseres Landes, der Kirchenhistoriker Professor Dr. Wilhelm Kuhnert, ergreift im folgenden das Wort zu dem großen Thema der Erneuerung unseres Volkes aus dem Geiste echten Christentums. Wir bringen um so lieber diesen wertvollen Beitrag zur Aussprache, als auch unserer Überzeugung nach die Stunde gekommen ist, in der es gilt, das Gemeinsame zu suchen und zu finden, das alle Christen eint. D. R.

Prognosen zu stellen ist immer ein gewagtes Beginnen. Es kann den Künder kommenden Geschehens selbst, nicht minder aber jene, die ihm gläubig folgen, dazu verleiten, sich in gefahrbringender Selbstsicherheit zu wiegen, oder sie einem alle Kräfte lähmenden Fatalismus anheimfallen lassen. Es wird zum letzten Verhängnis, zur Sünde, dort, wo der Mensch sich anheischig macht, auch die zukünftige religiöse Entwicklung als das zwangsläufige Ergebnis der vielgestaltigen in einer Zeit wirksamen immanenten geistigen und seelischen Kräfte aufzeigen zu können. Echter Glaube jedenfalls hat es aus der Erfahrung seines eigenen Wesens heraus je und je bezeugt, daß dort, wo lebendige Frömmigkeit in Erscheinung tritt, sich eine Neuschöpfung vollzogen hat, Ewigkeitskräfte aufgebrochen sind, die als solche aus innerweltlichen Voraussetzungen nicht abgeleitet werden können. Darum nehmen wir bewußt davon Abstand, in eine Diskussion über die der kirchlichen Arbeit in der Zukunft sich bietenden Aussichten einzutreten. Wir waren Zeugen dessen, wie Menschen, denen zugleich mit den äußeren auch die inneren Grundlagen ihrer Existenz ins Wanken geraten sind, wieder aufzuhorchen begannen auf die Christusbotschaft, erfüllt von der geheimen Hoffnung, daß sie vielleicht sich ihnen als das Bleibende im Wandel der Zeiten erweisen möge; allein wir sind nüchtern genug, uns darüber nicht hinwegzutäuschen, daß unsere Generation, ungeachtet alles dessen, was sie erlebte und durchlitt, dem Säkularismus verhaftet geblieben ist.

So ist denn auch die christliche Kirche in die mit dem Ende des zweiten Weltkrieges beginnende neue Ära nicht mit hochgespannten Erwartungen eingetreten, getragen etwa von der Überzeugung, daß nun sonderlich ihre Stunde gekommen sei. Was ihr die Vollmacht zu ihrem Wirken gibt, sind ungleich gewichtigere Tatsachen, als sie die wirkliche oder vermeintliche Forderung des Tages darstellt. Zunächst und vor allem: sie lebt im Gehorsam gegen ihren Herrn und Meister. Daß er ihr geboten hat, Zeugnis abzulegen, ist für sie der hinreichende Grund, zu reden und nicht zu schweigen. Sie weiß sich einer in die Irre gegangenen Menschheit in Schicksals- und Schuldgemeinschaft verbunden und ihr zur helfenden Tat rettender Liebe verpflichtet. Die Heimsuchungen, die in den vergangenen Jahren über die Christenheit im Herzen Europas ergingen, sind, dessen dürfen wir gewiß sein, von dieser stellvertretend für andere Nationen mit durchlitten worden. Um deswillen glaubt sie aber auch ein Anrecht darauf zu besitzen, daß ihre Stimme in der Welt gehört wird. Als die Mächte der Tiefe und Finsternis aufstanden, da mag es ihnen bisweilen wohl auch gelungen sein, da und dort im Räume der Kirche Verwirrung zu stiften. Nicht immer und überall vermochte sie der apostolischen Forderung, die Geister zu scheiden, Genüge zu tun. Das alles aber ändert nichts an der Tatsache, daß die Kirche sich als eines der entscheidendsten Widerstandszentren erwiesen hat, an denen der Ansturm der Dämonen zerschellt ist.

Worin besteht aber nun, konkret gesprochen, der Auftrag der Kirche und wie wird sie ihm gerecht? Zunächst das Wie? Gegenwartsnahe Verkündigung, so lautet hier die immer wieder geltend gemachte Forderung, und niemand unter uns wird das ernste seelsorgerliche Anliegen verkennen, das in ihr zum Ausdruck kommt. Nur vergesse man dabei eines nicht: Es gibt in dieser Welt unaufhörlichen Wandels, da das, was eben noch verlockende Zukunft war, bereits wieder zur Vergangenheit geworden ist, nur eine der Vergänglichkeit entnommene Gegenwart: die in die Zeit einbrechende Ewigkeit. Wo eine religiöse Botschaft gerade auch in ihrer Stellungnahme zu spezifischen Anliegen des Augenblicks sich nicht mehr an diesem nunc aeternura“ entscheidend orientiert, da verfällt sie zwangsläufig dem Fluche des in seiner Verblendung sich modern dünkenden ewig Gestrigen, den Erscheinungen nachjagen zu müssen, ohne sie je erhaschen zu können. Oder, anders ausgedrückt: Die Frage nach dem Weg, den die kirchliche Verkündigung zu beschreiten hat, ist nicht nur unabtrennbar mit ihrem Inhalt verbunden, sondern erfährt von ihm her ihre Beantwortung: an die Stelle sklavischer Akkomodationsbereitschaft an jeweils herrschende geistige Strömungen tritt das souveräne Bewußtsein letzter Unberührtheit durch jenes Gewoge, das wir Geschichte nennen. Eine Gewißheit, die freilich erst möglich wird auf Grund dessen, daß die Kirche nicht irgendwelche wandelbare Meinungen, sondern die eine, ewige, unvergängliche Wahrheit darzubieten berufen und bevollmächtigt ist.

Wer diese Behauptung in ihrem apodiktischen Charakter als Vermessenheit ^ empfindet, dem sei anheimgegeben, sich in da* 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums zu versenken. Christus steht vor Pilatus. Er hat von seinem Reiche Zeugnis abgelegt. „Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?“

Das ist mehr als nur die Begegnung zwischen dem Herrscher eines ewigen Reiches, das nicht von dieser Welt ist, und dem Repräsentanten irdischer Machtvollkommenheit. Es bedeutet das Aufeinanderprallen jener beiden Welten, deren Ringen miteinander überall dort, wo die Botschaft des Evangeliums erscholl, als tiefster und eigentlicher Sinn der Menschheitsgeschichte erkannt zu werden bestimmt ist. Was geruhsamen, an Spannungen armen Zeiten verhüllt geblieben sein mag, uns Heutigen ist es wieder sichtbar geworden. Schaudernd haben wir es erlebt, wie eine Welt, die glaubte, ungestraft die Frage nach einer letzten verpflichtenden Wahrheit beiseiteschieben zu können und nach eigenem Gutdünken Wertordnungen aufrichten zu dürfen, dem Nihilismus anheimfiel. Hin und her schwankend zwischen der Einsicht in die Unverbindlichkeit der von ihr auf den Schild erhobenen Normen und dem Willen zur Selbstbehauptung um jeden Preis, mußte sie, um überhaupt existieren zu können, der nackten Brutalität Raum geben. Nun, da sie in Nichts zerfallen, hält unser wie aus einem bösen Traum erwachendes Volk Ausschau nach einer Bürgschaft für die Nimmerwiederkehr dessen, was es durchleben mußte. Es mag heute weithin noch nicht zu der Erkenntnis befähigt sein, daß allein in der christlichen Wahrheit der archimedische Punkt gegeben ist, von dem aus eine in Riditungslösigkeit verfallene Welt wieder in die Angeln gehoben werden kann. Überkommene Vorurteile gegenüber allem „Dogmatischen“ und nicht zuletzt das Schreckgespenst einer neuen Zwangsnorm verschließen ihm allzu leicht die Augen vor der Tatsache, daß echte menschliche Freiheit, weit entfernt davon, durch die christliche Wahrheit in Frage gestellt zu werden, in ihr vielmehr ihr sicherstes Unterpfand besitzt. Denn wo immer der Glaube an Christus zum Durchbruch gelangt ist, da wird er erfahren als das Werk freischenkender Gnade, die, wie sie selbst die Geltendmachung eigenen Verdienstes von Seiten des Menschen ausschließt, ihn Abstand nehmen heißt von dem gleicherweise aussichtslosen wie unwürdigen Beginnen, anderen die erkannte Wahrheit. aufzunötigen.

So gesehen aber erweist sich die Verankerung in der christlichen Wahrheit nicht nur als der stärkste, sondern als der einzig zuverlässige Garant echterToleranz und damit einer seelischen Haltung, wie sie im Bewußtsein gerade des österreichischen Volkes ie und je Widerhall gefunden hat. Nicht als b wir blind wären gegenüber der Tatsache, daß auch in diesem unserem Lande die Unduldsamkeit zu Zeiten ihr Haupt erhob; doch wir sind davon durchdrungen, daß, wo immer solches geschah, es seine Wurzel im Hereinfluten fremden Geistes oder, richtiger gesagt, Ungeistes hatte.

Für den Fernstehenden freilich vermag unsere Behauptung von der unauflöslichen Verflochtenheit christlicher Wahrheit und echter Duldsamkeit erst dann Uberzeugungskraft zu gewinnen, wenn sie sich im Leben der Christenheit selbst als wirksam erweist. Was hier gefordert wird, ist allerdings mehr denn nur ein geduldiges Sichertragen; es ist die dem Bewußtsein einer über alles Trennende konfessionellen Geschicdenscins hinweg bestehenden Verbundenheit entstammende Bereitschaft, einander brüderlich zu tragen. Mag sein, daß die Stege, die Jahre gemeinsamer Not über die schäumenden Fluten der hereinströmenden Gottlosigkeit hinweg herüber und hinüber schlagen ließen, zusammenbrechen müßten unter der Last eines, der angetan mit der schweren Rüstung althergebrachter Meinungen und Urteile sie beträte; den Christen mit einem Herzen • voll brennender Liebe werden sie tragen. Bis einmal als Krönung jener verheißungsvollen Entwicklung, deren Zeugen wir in unseren Tagen sein dürfen, aus ihnen festgefügte Brücken geworden sein werden, die'kein Unwetter mehr zu zerstören imstande ist.

Es gehört zum Wesen der Kirche, daß sie keine zeitgebundenen Programme kennt. Aber gerade dies, daß ihr Wirken sich unter dem Aspekt der Ewigkeit und aus Kräften von oben vollzieht, ermöglicht es ihr, wirkliche Rettung zu bringen. Sie ruft dem Menschen der Gegenwart mit eindringlicher Wucht den diametralen Gegensatz zwischen demchrist-lichen und allem „heidnischen“ Denken ins Bewußtsein, wie er bei jenem im letzten Ernstnehmen der Frage nach einer schlechthin verbindlichen Wahrheit, an der sich unser Geschick für Zeit und Ewigkeit entscheidet, sichtbar wird. Sie gibt einer Welt, die an sich irre zu werden droht, die Erkenntnis und Anerkenntnis menschlicher Würde zurück, stilb das geheime Sehnen unserer Zeit nach wahrer Freiheit, und indem sie diesen ihr aufgetragenen Dienst ausrichtet, wird sie in der Neubesinnung auf die Ökumene und im Ringen um sie selbst mancher Fessel ledig, die ihrem Wirken bislang Eintrag tat.

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