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ROM, OFFENE STADT

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Weihnacht 1962. Hinter uns liegen die Gefahren eines in blutroten Horizonten aufziehenden Weltenbrandes. Die Kubakrise. Die chinesische Invasion in Indien. Unruhen in Afrika, Südamerika. Staatskrisen in Frankreich, in Deutschland. Und bei uns? Vor uns liegen die schwierigen Auseinandersetzungen in der UNO und um die UNO, in den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion; und zwischen diesen beiden Weltmächten, um den Aufbau des großen Friedens: eines weitmaschigen, offenen Raumes, in dem die vielen Gegensätze und Konflikte der Menschheit im Übergang in eine neue Epoche geborgen, zum Teil gelöst, auf jeden Fall entgiftet werden können. Großer Frieden, das bedeutet weltpolitisch: nicht schießen, weniger schimpfen! Wohl aber: sachlich und sachbezogen sich in aller Härte auseinandersetzen. Der Beginn des großen Friedens setzt voraus: die tägliche Arbeit an der Änderung des Klimas, der Aufbau, Schritt für Schritt, eines neuen Vertrauen.

Rom, 11. Oktober 1962 bis 8. Dezember 1962: Erste Session des Zweiten Vatikanischen Konzils. Hier ging es, im ersten und letzten, zunächst um ein einziges: um die Bildung eines neuen Klimas in der römisch-katholischen Kirche. Hierzu sind zu überwinden: die große Angst der „wohlmeinenden Katholiken“ des 19. Jahrhunderts; die Angst vor der Zukunft der Kirche in einer sich wandelnden Welt; die Schocksituationen, in denen es zwischen 1832 und 1960 zu so vielen Aburteilungen, Indizierungen, Ausscheidungen von Männern und Ideen und Bewegungen kam; von Theologen, die, um mit Dante (dem oftmals kirchlich Verurteilten, erst nach dem ersten Weltkrieg ganz Rehabilitierten) zu sprechen, „invidiosi veri“, vielverdächtige Wahrheiten offen aussprachen.

Der Beauftragte der Fuldaer Bischofskonferenz für die Konzilpublizistik, Weihbischof Kampe, sagte nach seiner Rückkehr aus Rom in einer Pressekonferenz in Bonn, das Erste Va-tikanum habe eine empfindliche Lücke gelassen: Es sei, als ob auf die Schale einer Waage ein Gewicht, der Primat des Papstes, gegeben worden sei, während das Gegengewicht, die Klärung der Stellung der Bischöfe, nieht mehr hinzugelegt wurde. Dieser eine Satz deutet auf ein noch größeres Problem hin: das Erste Vatikanische Konzil stand unter dem schweren Druck jener Partei, die das zeitliche und ewige Schicksal der Kirche mit der Erhaltung des Kirchenstaates und dem Festhalten an fixierten Formen und Formeln unauflöslich verbunden Wähnte. Rom, die heilige Roma, die Urbs quadrata, von heiligen Mauern umgürtet, wird da verstanden als die feste Burg, an deren Wällen sich alle Anstürme teuflischer Feinde brechen. Das Zweite Vatikanische Konzil steht im Zeichen der Bemühungen des Papstes Johannes XXIII., Rom zur offenen Stadt zu erklären.

Roma, Cittä aperta: als wir in den letzten 16 Jahren hier und andernorts versucht hatten, für eine „offene Katholizität“, für ein offenes Rom zu werben, ahnten wir, im harten Druckfeld der Gegner und der harten Tatsachen, die da täglich neu gesetzt wurden, nicht, daß diese Möglichkeit einer neuen Entwicklung so bald in Rom selbst leuchtend angezeigt werden würde.

Um es in der Stunde dieser Weihnacht ganz offen zu sagen: auf die Erscheinung des Papstes Johannes XXIII. waren wir alle nicht vorbereitet. Hier liegt nicht zuletzt die Gefahr naher Zukunft zugegen: die Gefahr, über diesen Papst hinauszuschreiten und ihn einfach im Sinne der Erhaltung und Verteidigung alter Positionen zu interpretieren.

Dieser johanneische Papst ging vom ersten Tag seines Ponti-fikates daran, das päpstliche Rom zur offenen Stadt umzubauen. Er begann mit Lockerungsübungen, die seine kuriale Umgebung bereits befremdeten und dann starken Widerstand hervorriefen: „Ausflüge“ ins weltliche Rom; Besuch von Gefängnissen im ersten Advent seines Pontifikats; Ankündigung von Reisen in Italien und über Italien hinaus. Die Fahrt nach Assisi, zum Grab des Apostels der Feindesliebe und der unbedingten Armut, am Vorabend der Konzilseröffnung, stellte vor den Augen der ganzen Welt einen Appell an die Konzilsväter dar: Löschet den Geist, die Liebe nicht aus! Richtet nicht, sondern lernt euch und die Welt verstehen! Dann setzte dieser Papst, der als erster Papst der Neuzeit den Primas der Kirche von England, führende Männer des Weltprotestantismus und der Ostkirche, buddhistische Mönche und „Menschen, die nicht an Gott glauben“, empfing, die entscheidende Tat, die dem Konzil ermöglicht, ein neues Klima im Weltkatholizismus zu schaffen. Die Eröffnungsansprache des Papstes Johannes XXIII. ist ein einzigartiges Bekenntnis zu einer offenen, guten Zukunft, zur Geschichte als „Lehrmeisterin des Lebens“, zu einem zivilisatorischen, welthaften, geistigen und geistlichen Fortschritt der Menschheit.

Die Diktatur und der Absolutismus haben in der Kirche und in aller Welt immer wieder ihre festeste Stütze in einem Pessimismus gefunden, der meint: die Welt rast rapid einem bösen Ende zu; da gibt es für die Besitzer der Wahrheit nur eines: halten, was zu halten ist. und jede Neuerung, da böse, abzuwehren.

Johannes XXIII. wendet sich offen gegen diese Pessimisten, die „ständig sagen, unsere Zeit habe sich, im Vergleich zur Vergangenheit, dauernd zum Schlechten gewandelt“. „Wir können diesen Unglückspropheten nicht zustimmen, wenn sie nur unheilvolle Ereignisse vorhersagen, so, als ob das Ende der Welt bevorstünde. Sie betragen ich, als hätten sie nichts aus der Geschichte gelernt, die doch die Lehrmeisterin des Lebens ist.“ Der Papst fordert die Konzilsväter auf, sich der beginnenden Neuzeit des Menschen bewußt zu werden: „In der gegenwärtigen Weltordnung führt uns die göttliche Vorsehung zu einer neuen Ordnung der Beziehungen unter den Menschen, Sie vollendet so durch das Werk der Menschen selbst und weit über ihre Er: Wartungen hinaus in immer größerem Maße ihre Pläne, die höher sind als menschliche Gedanken und sich nicht berechnen lassen — und alles, auch die Meinungsverschiedenheiten unter den Menschen, dienen so dem größeren Wohl der Kirche.“

In einer letzten Stunde, kurz vor dem Tag X, vor dem Atombombenschlag und (oder) dem Jüngsten Gericht, da kann es, so scheint es, keine Meinungsverschiedenheiten mehr geben: da gibt es nur ein „Parieren“, ein letztes Sich-Vergattern zum letzten Gefecht. Wenn aber, wie Papst Johannes XXIII. mit den Menschen einer offenen Katholizität der Überzeugung ist, wie er selbst hier bekennt, daß „diesen ersten zwanzig Jahrhunderten der christlichen Geschichte“ heute und morgen die großen Aufgaben großer Zukunft folgen, ist es geboten, sich in „Meinungsverschiedenheiten“ auseinanderzusetzen. Die Kirche kann sich als ein Gespräch, als eine Auseinandersetzung nur verstehen, wenn sie an gute Zukunft glaubt. Sonst ist jede ernste Ansprache und Erörterung stets dem Verdacht ausgesetzt, als „Verrat“, als „Schwächung der eigenen Front“, als „Beschmutzung des eigenen Nestes“ denunziert zu werden.

„Rom entdeckt seine Vielfalt.“ — „Eine Sensation auf dem Konzil.“ „Fast möchte man von der dämmernden Einsicht der römischen Kirche in die Notwendigkeit ihrer dialogischen Existenz sprechen. Diese Erkenntnis ist schon heute der für sie über alle Maßen wichtige Ertrag des Konzils.“ — So steht es zu lesen in einem Leitaufsatz der führenden evangelischen Zeitschrift der Bundesrepublik Deutschland, im „Sonntagsblatt“, das von dem evangelischen Landesbischof, Hanns Lilje, herausgegeben wird.

Die Kirche als dialogische Existenz: die griechischen Väter der Kirche haben sie so verstanden. Nach Trient und besonders im 19. Jahrhundert und nah an diese Stunde heran, wurde dieses fundamentale Selbstverständnis der Kirche vergessen. Die Ecclesia judicatrix, die Richterin, schien die Erfahrung und Praxis allumfassender Mutterschaft zu verdrängen. Johannes XXIII. erinnert an das Zeitalter der Urteile und Verurteilungen: „Die Kirche hat diesen Irrtümern' (der Menschen) stets widersprochen. Oft hat sie mit größter Schärfe verurteilt. Heute hingegen macht die Braut Christi lieber vom Heilmittel der Barmherzigkeit als von der Strenge Gebrauch. Sie möchte den Nöten der Welt dadurch entgegenkommen, daß sie die Gütigkeit ihrer Lehre aufweist und nicht so sehr Verdammungen ausspricht.“ — „Was noch mehr zählt: die Erfahrung hat sie gelehrt, daß die Gewalt gegen andere, der Gebrauch der Waffen und die politische Vorherrschaft einer glücklichen Lösung der heutigen schwierigen Probleme keineswegs förderlich ist.“ Die römische Kirche appelliert 1962 nicht an Konstantin, Karl den Großen, Napoleon III. (wie 1870!), Bismarck, Kennedy um Waf-fenhilfe. „Zum erstenmal in ihrer Geschichte bemüht sich die Kirche, in denen, die ihr nicht angehören, Partner zu .sehen.“ So vermerkt ein protestantischer Beobachter. Hiermit wird aber von den Konzilsvätern etwas schier Ungeheures verlangt: ein Sprung über den Schatten von Jahrtausenden,

Die großen notwendigen Auseinandersetzungen, ja Kämpfe, auf dem Konzil stehen erst bevor. Die erste Session, in diesem Herbst 1962, hat Yorgeplänkel gebracht und, teilweise durch Eingreifen des Papstes, Vorentscheidungen verhindert. Es geht da um weit mehr als um Auseinandersetzungen zwischen einer gewissen „Rechten“ und „Linken“, zwischen „Traditionalisten“ und „Progressiven“. Es geht um eine Bewußtseinsänderung, die'heute noch vielen Konzilsvätern, rechts und links und in der Mitte, kaum denkbar erscheint: nicht nämlich um „Anpassung“, um gewisse zeitweilige und zeitbedingte Rücksichtnahmen auf „Bedürfnisse“ in Afrika, Südamerika und andernorts. Es geht nicht um Taktik, selbst nicht im ersten und letzten um Strategie: um „weit ausschauende“ Planungen der Welteroberung, in Anpassung, Widerstand, in Defensiven und Offensiven, gekoppelt und differenziert, je nach Land, Staatsform, Stunde. Es geht um mehr — und dieses „Mehr“ ist es, das offene Katholiken in diesem Weltadvent der Kirche und Menschheit, in der es in beiden um Umpolung des Bewußtseins in Richtung Zukunft, um Schaffung eines neuen Klimas geht, mit großer Furcht und Hoffnung erfüllt: Es geht darum, ob sich die römisch-katholische Kirche als Prozeß eines wachsenden, im Wandel wachsenden Lebens begreifen kann oder nur als Hüterin fixierter Wahrheiten: als „Hausbesitzerin“, die Wohnungen vermietet. Hier scheiden sich die Geister; und hier werden sie, wenn das Konzil seine Fortsetzung findet, „aufeinanderplatzen“ müssen (um mit dem jungen Luther zu sprechen), wenn sie sich begegnen wollen: im Herz aller Dinge, in der Gegenwart Gottes.

Gott ist ein Gott der Gegenwart“, lehrt Meister Eckhart — in der Gegenwart der großen Nöte, Leiden, Leidenschaften des Menschen. Es ist die große Sorge des Papstes Johannes XXIII.: diese Auseinandersetzung im Schoß des Konzils soll „heiter und ruhigen Gewissens“ sich vollziehen; es ist die Tat dieses Papstes, dafür die Vorbedingung geschaffen zu haben: ein Klima des Vertrauens, sachlicher Arbeit, ohne Denunziation. An diesem Konzil nehmen als Berater ihrer Bischöfe, und als Mit; glieder von Kommissionen Theologen teil, die, bis nahe an diese, Stunde, schweren Angriffen und Behinderungen ihrer Arbeit ausgesetzt waren. Und es stehen Probleme von größter Tragweite zur Behandlung bevor; nicht wenige hat man vorschnell, im Dunstkreis der Angst, früher zu „lösen“, zu liquidieren versucht. Um nur ein kleineres Beispiel zu nennen: Weihbischof Kampe erwiderte auf einer Pressekonferenz für die deutschsprachigen Journalisten auf eine Anfrage, ob die Arbeiterpriesterfrage vom Konzil behandelt werde, daß die Behandlung dieser Angelegenheit in den Aufgabenbereich der Kommission für Seelsorge falle und in ihr einen breiteren Raum einnehmen könne, als ursprünglich vorgesehen worden sei.

Das Erste Vatikanische Konzil legte eine Vorlage, die Ächtung des Krieges betreffend, zu den Akten. Das Zweite Vatikanische Konzil wird die neue Eingabe, nach zwei Weltkriegen, vielleicht nicht zu den Akten legen. Roma, eittä aperta, Rom als offene Stadt, kann sich als eine Einladung an alle Menschen nur so präsentieren: in offener Annahme nicht nur der „heißen Eisen“ der Theologie und der innerkirchlichen Kontroversen, sondern der elementaren Fragen um Leben und Tod aller Menschen. Unübersehbare Aufgaben, Chancen, Versuchungen sind dem Konzil gegeben, das im Zeichen johanneischer Hoffnung und Liebe in diesem sich zu Ende neigenden Jahr begonnen hat.

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