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Wohin steuert der Vatikan?

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Jahrelang haben wir es neuerdings von allen Seiten gehört: Die römisch-katholische Kirche und insbesondere der Vatikan können sich offensichtlich nicht mehr von jenem schädlichen Traditionismus freimachen, der sie zu einem Leitfossil der Welt von gestern macht. Um die Polemik gegen den Status präsens der Kirche fortsetzen zu können, blieb demnach für einen Bestseller nur mehr ein Thema: Die Diagnose, wonach die gefährliche Krankheit, vom Bruch mit römischen Traditionen und der eigenen Geschichte kommt: Scheinbar will der Autor des vorliegenden Buches der Kirche am Krankenbett beistehen. Sein Buch erweckt allerdings den Eindruck, als würde sein Verfasser einem bereits Verstorbenen einen warmen Umschlag geben.

Reinhard Raffalt, Relikt der Kulturverwaltung der Ära Adenauers, Intellektueller, Fernsehkommentator und früherer Orgelspieler an der Kirche der Deutschen in Rom, reflektiert laut Ankündigung des Buchverlags auf die Existenz derer, die man jetzt die .^mündigen Christen“ nennt. Ungewollt wird mit dieser Adressierung des Werkes der Kirche, von der man sagt, sie sei viel zu lange in der Hand von Päpsten wie Pius XII. gewesen, eine Anerkennung ausgesprochen. Denn: die übrigen Kinder der Welt sind laut Stehsatz der Massenmedien nicht mündig, sie werden vielmehr manipuliert und es kostet einem Kommentator nur inen Lacher, wenn zuweilen davon die Rede ist, diese emanzipierten modernen Menschen hätten eine eigene Meinung.

Tatsächlich beschäftigt sich der Autor auch weniger mit dem mündigen Christen als mit der Enttäuschung derer, die nach ihrem Anschlag auf die „traditionelle Kirche“ bereits jene Fernzüge bereitgestellt haben, die die mündigen Christen an alle möglichen Ziele bringen sollen, nur nicht an das der Kirche Christi. Zum Schluß zitiert Raffalt wörtlich jenes Bonmot, das er eine Metapher nennt, und in dem es um einen unschlüssig gewordenen Papst Paul VI. geht. Dieser Papst geht auf dem Bahnhof der Weltgeschichte hin und her. Er sieht sechs abfahrtsbereite Züge. Aber anstatt einen dieser Züge zu besteigen, benützt der Papst einen siebenten Zug, dessen Fahrziel den Arrangeuren der fraglichen sechs Sonderzüge nicht erkennbar ist. Dieser Vergleich, besser: das Image einer angeblich im Vatikan bestehenden Situation, löst einige Fragen eines römisch-katholischen Christen aus: Wer hat die einzelnen, insgesamt sechs, Sonderzüge bereitgestellt? Welche Energie betreibt die jeweilige Zugmaschine und wer äst jeweils Maschinist? Nach welchen Fahrplänen verkehren diese Züge? Wo sind die Endstationen ihrer Fahrten? Und: Hat Sich die römischkatholische Kirche und insbesondere der Vatikan derlei Sonderzüge bestellt, ist er auf derlei Geschäftsführung ohne Auftrag angewiesen?

Nach genauerer Lektüre des vorliegenden Buches erfährt der Leser, daß die fraglichen Zugsgarnituren ohne Auftrag der Kirche und des Vatikans in die Kopfbahnstation Rom geschoben worden sind. Vieles an diesen sechs Zugsgarnituren ist für den Katholiken neu und sehr interessant. Am interessantesten wohl der Umstand, daß als Lokführer jeweils ein Liberaler oder ein Marxist vorgesehen ist; ein Sektierer oder ein Agnostiker; einer der ganz Geschwinden, die nicht wissen, wohin sie fahren, dafür aber versprechen, früher am Ziel zu sein; oder einfach einer der die Kirche am liebsten dort hätte, wo der Pfeffer wächst.

Der Papst muß wegbefördert werden. Es geht nicht um die Person Pauls VI., auch wenn auf ihm das zusammengefaßte Feuer liegt. Es geht um ein Prinzip: Zum erstenmal seit den Wirren des 13. Jahrhunderts soll die Welt das Schauspiel erleben, daß ein Papst ,,freiwiülig geht“. Auch der Papst soll abdanken, wie es seit 200 Jahren so viele weltliche Monarchen getan haben, um dann irgendwo und irgendwie ein Uberleben und ein Ausgedinge zu finden. Immer deutlicher wird sichtbar, daß die brutalen Hinweise auf das hohe Alter des Papstes und auf die von Paul VI. selbst verlautete Altersgrenze für die „freiwillige Abdankung“ von Bischöfen nur ein Vorwand sind. Als Paul VI. seinen 75. Geburtstag feierte, war er junger als Johannes XXIII. bei dessen Wahl. Kampfauftrag ist nicht Verjüngung des Vatikans, es geht vielmehr darum, daß auch der Papst zu einem jener wak-keligen Figuranten wird, deren es im System der Technokraten und Telekraten genug gibt. Ein Popanz, in dessen Rücken Macht manipuliert wird. r

Um diesen angeblich ohnedies bereits wackeligen Popanz Vorzuführen, bringt Raffalt ganze Serien von Beispielen. Sie haben vielfach den Nachteil, daß nicht wenige Anklagen gegen den Papst früher erhobene widerlegen oder ad absurdum führen. Wer kennt nicht die rührende Forderung, der Papst möge den Vatikan samt seinem kapitalistischen, rituellen und liturgischen Schaugepränge verlassen, um in einem Arbeiterviertel auf einem Kabinett als Aftermieter zu wohnen? Und wie rührend ist anderseits die von Raffalt zitierte Einsicht eines gewesenen Katholiken, der beim Anhören einer von einem KP-Geistlichen in Peking zelebrierten lateinischen Messe noch einmal erkennt, warum er katholisch gewesen ist.

Wohl mit Recht zitiert der Autor den Patriarchen Athenagoras, der Paul VI. beschwor: „Mein Bruder, ich beschwöre Sfe, rühren Sie die Liturgie nicht an.“ Ungleich besser als im Westen ist in der Ostkirche das Bewußtsein um die Tragik der russischen Altgläubigen präsent, die sich im 17. Jahrhundert wegen an sich „geringfügiger“ Neuerungen von der russisch-orthodoxen Kirche trennten. Und die heute noch zuweilen geneigt sind, nicht den Kommunismus, sondern die Orthodoxie als Antichrist zu erkennen.

Mit souveräner Natur nimmt Raffallt dem Papst eine Antwort auf die Frage ab, woher heute der Kirche wohl die größere Gefahr droht. Ob von den kaltblütigen Agnostikern in der freien Welt des Westens oder von den brennenden Ideologen des Kommunismus und seines Systems. Während Liberalismus und Sozialismus prinzipiell die Trennung von Kirche und Staat verlangen, gibt es, anderseits Formen eines strikten Staatskirchentums sowohl im sozialdemokratisch regierten Schweden, als auch in der UdSSR. Wo die im Anschluß an Marx entstandenen Philosophien an der Macht sind, halten sie das kirchliche Leben unter staatliche Kontrolle, gleichgültig, ob sie schwedische Agnostiker oder sowjetische Atheisten sind. Es gibt da nur einen Unterschied, der ins Auge fällt:

In Schweden ist die Auslöschung des kirchlichen Lebens fast beendet (4 Prozent Kirchen volk). In der UdSSR gibt es heute wahrscheinlich mehr Gottsucher und Gotterbauer als jemals seit der Spätkrise des Zarismus. Heutzutage hätte zum Beispiel die Sowjetregierung niemals mit öffentlichen Mitteln die Hersteilung eines Filmes gefördert, der den kreuztragenden Christus in einer zugleich nicht abreißenden Serie unappetitlicher Pornoszenen zeigt. Das zu tun blieb in der freien Welt des Westens der sozialdemokratischen Regierung Dänemarks vorbehalten. Gewiß, das Bild der Kirche und des religiösen Lebens ist in sowjetischen Filmen nicht auf Zukunftsoptimismus abgestellt. Aber die Akte persönlicher Frömmigkeit werden mit einer bemerkenswerten Rücksichtnahme auf religiöses Empfinden gefilmt und sei es auch nur wegen des Respekts vor einer Kulturtradition des russischen Volkes. Dem entgegen kann für den Westen gesagt werden, daß zumal in den letzten Jahren das Fernsehen mit seinen Produktionen den größten Beitrag zur Entchrist-lichung geleistet hat. Wann sind in Österreich seit 1938 so viele Katholiken aus ihrer Kirche ausgetreten als jetzt? Sie tun es auf dem Höhepunkt der Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat und sie tun es in Wien vor den Augen eines Bischofs, dessen Ansehen bei Liberalen und Sozialisten bei weitem größer ist als jedes seiner Vorgänger. Wo hat die Kirche also versagt? Nicht die Kirche hat versagt. Versagt haben zum Beispiel Bischöfe, die erklärten, die priesterliche Existenz sei fragwürdig. Versagt haben Ordensangehörige, die heute nicht mir ihrem einmal abgelegten Gelübde lüidersprecHen, sondern es mit der Tat widerlegen. Die Kirche ist heute dort schwach, wo sie aufhört, eccle-sia militans zu sein, obwohl sie es mit Gegnern zu tun bekommt, die mich't das Gespräch, sondern die Zerstörung der Kirche suchen.

Im Zeitalter des vierten jüdisch-arabischen Krieges ist es für den Autor ein naheliegendes Thema, eine „Schaukelpolitik“ des Papstes zwischen Juden und Arabern herauszustreichen. Indem das ein Deutscher tut, leistet er seinen freiwilligen Beitrag zur Bewältigung einer offensichtlich nicht zu bewältigenden Vergangenheit. Es gehört zu den Äußerungen des herrschenden Zeitgeistes, den Papst jeweils in einer Linie mit Faschisten von gestern und heute sowie von Judengegnern von jetzt zu sehen. In dieser Hinsicht streicht Raffalt mit besonderer Sorgfalt den Tenor des „historischen“ Gesprächs heraus, das 1973 im Vatikan zwischen Paul VI. und Frau Golda Meir geführt wurde. Die Zivilcourage, die die israelische Frau Ministerpräsident bei dieser Gelegenheit dem römischen Papst gegenüber gezeigt hat, ist schon legendär geworden: Schließlich kommt sie aus einem Staat, in dem Christen, die einen Juden zum Christentum bringen möchten, unter Strafsanktion stehen. (Schweden hat zuletzt 1850 den Ubertritt zum Katholizismus mit der Strafe der Ausweisung belegt.) Aber der Papst ist ritterlich: Er respektiert die Heftigkeit, mit der Frau Meir auf die „im Zeichen des Kreuzes“ stattgefundenen Judenpogrome im zaristischen Rußland hinweist. Mit keinem Wort erwähnt er jene unzähligen Christen, die in Rußland nach der Oktoberevolution von 1917 wegen ihres Glaubens unter maßgeblicher Beteiligung von Macht-habern jüdischer Herkunft und Anschauung umgebracht wurden. Untat soll nicht mit Untat aufgewogen werden. Aussprüche aus erlittenem Unrecht haben keinen Ewigkeitswert.

Nachdem liberale und sozialdemokratische Regierungen der freien Welt ihren Frieden mit der Sowjetmacht geschlossen haben und dieses Appeasement bereits da und dort in Konvergenz und Kooperation einmündet, braucht der unlängst exhumierte Antikommunismus der freien Welt einen neuen Sündenbock. Die beati possidentes der freien Welt denunzieren daher nach einer Pause ihres Anti-Antikommunismus den Vatikan der Lässigkeit in Sachen Antikommuniismus. Daß rebus sie stantibus der Weg eines Einschreitens des Vatikans zugunsten von Millionen Katholiken der sozialistischen Staaten nicht über Prag oder Budapest oder Warschau, sondern zuletzt über Moskau führt, müßte doch angesichts der Existenz der Blöcke jedem politischen Kommentator klar sein.

Für Raffait ist aber offenkundig das schwache Glied der Kette, die eine freie Welt vor einer unfreien schützt, dermalen der Vatikan. Der Vatikan, der im Troize-Sergejew-Kloster bei Moskau ein Papier zusammen mit der russischen Orthodoxie unterzeichnen ließ, mit dem sich Kirche mit Kirche, Christen mit Christen trafen. Nicht aber — wie auf politisch-staatlicher Ebene — Agnostiker aus dem Westen mit Atheisten aus dem Osten; und zudem, wie es Willy Brandt formulierte, unter Beiseitelassung der „Philosophie“, was heißen will: der Grundsatapolitik.

Wir stehen unter dem Eindruck des Schreibens, das Paul VI. an den General der Jesuiten im Hinblick auf die kommende Generalkongregation der Gesellschaft Jesu gerichtet hat. Darin fordert der Papst den Orden, dessen Angehörige sich freiwillig zu einem besonderen Gehorsam dem Heiligen Stuhl gegenüber verpflichten — zum Gehorsam auf. Dieses Paradoxon wird durch die in dem erwähnten Schreiben nicht erwähnte Tatsache übertroffen, daß es in jüngster Zeit gerade die Jesuiten und die Dominikaner gewesen sind, die sich in seltsame Bündnisse begeben haben und dabei offensichtlich weniger auf Gefahren für die Kirche achteten als auf die Gefahren jener, die die Kirche angreifen. Raffalt widmet seine Aufmerksamkeit wohl der „Dekadenz der Orden“, nicht aber jener, die innerhalb der Orden nicht Revolution machen, sondern auf den Generalbaß alles Ordenslebens hören: ora et labora.

Raffalt möchte trotz allem Katholik bleiben. Und er spricht weiter sehr gläubig den ersten Satz des Credo. Diesen Satz und keinen anderen erwähnt er am Ende seines Buches. Indessen ist das Credo kein religiöser Supermarket, in dem man nach Belieben mal dies mal jenes mitnimmt. Wer dieses Credo nicht gläubig bis zum Amen bekennt, ist waM irgend so etwas wie ein Christ. Aber er wird nicht mehr wahrnehmen können oder wollen, wo der Vatikan hinsteuert. Weil er nicht mehr an Bord ist, sondern zu jenen' Lotsen gehört, denen der Kapitän des Schiffes und dessen Nautik nicht mehr passen.

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