Kirche und Demokratie heute
Demokratie bedeutet für die Kirche die Möglichkeit einer fairen und gleichen Chance. Und nicht mehr.
Demokratie bedeutet für die Kirche die Möglichkeit einer fairen und gleichen Chance. Und nicht mehr.
Die Kirche in ihrer irdischen Gestalt, unterworfen der Zeit in ihrem zeitlichen Kleid, muß in dieser Zeit leben. Sie wird daher auch immer in den Formen dieser Zeit leben, aber sie wird nicht und darf nicht restlos in diesen Formen aufgehen. Das heißt konkret gesprochen, die Kirche wird in jeder Gesellschaftsform existieren, ja mit jeder dieser Formen bis zu einem gewissen Grad zusammenarbeiten, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeizuführen, ist nicht primär Aufgabe der Kirche. Ebensowenig aber ist es ihre Aufgabe, sich solchen Veränderungen zu widersetzen. Die Kirche ist entstanden im absoluten Kaiserstaat der Antike. Sie hat sich ausgebreitet und eingewohnt in den Staaten und Reichen des germanischen Feudalismus. Sie hat gelebt und gewirkt in den Stadtrepubliken des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, sie hat ihren Platz gesucht in den absolutistischen Fürstenstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts, sie hat um ihren Lebensraum gekämpft im Liberalismus. Sie lebt heute mit der Demokratie in den Demokratien. Sie lebt aber genauso, muß genauso leben, in den Ländern einer kirchenfeindlichen kommunistischen Diktatur.
Von Seipel soll das Wort stammen, die Kirche lebe „modo capitalistico“. Unverständige oder böswillige Kritiker haben dieses Wort so ausgelegt, als ob Seipel damit gemeint hätte, die Kirche wäre in sich „kapitalistisch“ oder sie würde sich im Kapitalismus am wohlsten fühlen. Seipel kann aber damit nur gesagt haben, daß der Kirche in einer kapitalistischen Umwelt nichts anderes übrig bleibe, als in den dieser Zeit und Umwelt gültigen Formen zu leben. Die Kirche hat im Feudalismus auf feudalistische Art gelebt, im Zeitalter des Kapitalismus auf kapitalistische Art. Sie lebt im Zeitalter der industriellen Massengesellschaft in den dieser Gesellschaft angemessenen Formen, sie wird in kommenden Zeitaltern in den Formen leben, die diesen Zeitaltern entsprechen. Wollen wir heute der Kirche einen Vorwurf daraus machen, daß sie in ihrer irdischen Gestalt, getragen von Menschen mit Fehlern, Schwächen und Sünden, die Ansichten der Zeit sich zu eigen machte, ja daß sie meinte, daß diese Ansichten die gültigen wären, nicht nur für ihre Zeit?
Es gilt heute für sehr modern, auch von mancher katholischer Seite, über die Kirche der Vergangenheit ein Scherbengericht zu halten, ihr eine allzu große „Milieuverhaftetheit“ vorzuwerfen, sie verantwortlich zu machen für all das, was mit unseren Augen und von heute aus gesehen, an dieser Zeit schlecht war. Aber ist das nicht geistiger Hochmut? Die leidende, kämpfende, in ihren Menschen auch immer irrende und strauchelnde Kirche, die Kirche in ihrer irdischen Gestalt war doch und ist doch immer eine Kirche der Menschen, deren Blick verdunkelt, deren Wille verfälscht, deren Geist verhaftet ist in dieser Welt.
Die Demokratie ist nicht die einzige mögliche Lebensform, ist nicht die einzig mögliche Form der Existenz der Kirche in der Gemeinschaft, sie ist aber für uns heute die beste. Die Kirche ist in ihrer menschlichen Erscheinungsform eine eher konservative Institution, das heißt, um den Begriff konservativ genauer abzugrenzen, sie sucht, so weit dies möglich ist, gewisse Formen, in denen sie sich eingelebt hat, zu bewahren. Das scheint paradox, wenn man bedenkt, daß die Botschaft, die die Kirche zu verkünden hat, die revolutionärste Botschaft ist, die sich überhaupt nur denken läßt. Gewiß liegt in diesem „Konservativismus“ auch ein Rest mangelnden Glaubens, ein Rest mangelnden Vertrauens auf den der Kirche von ihrem göttlichen Stifter verheißenen Beistand. Aber in ihrer Sorge, ihrer begreiflichen und ihrer berechtigten Sorge, in der nun einmal gegebenen Welt und unter den vorgegebenen Umständen ihre Aufgabe erfüllen zu können, war der „Realismus“ oft stärker als die Überzeugung, in dieser Welt nicht ganz beheimatet zu sein. Die Kirche hat in ihrer Geschichte sich von den Schwärmern immer am stärksten distanziert, hat sie doch in ihren ersten Jahrhunderten sich in sehr schweren Kämpfen von den Infektionen gnostischer Schwärm- und Irrlehren gereinigt und sich ein festes Haus gebaut. Daß dieses Haus nicht zu einem Kerker wurde, dafür hat noch immer der Heilige Geist in der Kirche gesorgt, denn die gleichbleibende Botschaft des Evangeliums hatte auch die Tendenz gleichbleibender Formen zu treffen. Auch heute sollen wir die Sorge jener nicht zu gering schätzen, die in der Öffnung der Kirche, die in dem Niederreißen alter Mauern im Zusammenhang mit vielem, was auf dem Konzil gesprochen wurde, eine Gefahr für den Bestand der Kirche sehen. Es wird gewiß auch für diese Zeit des Ausfließens und des Ausströmens wieder eine Zeit der Sammlung und eine Zeit der Ruhe und Bewahrung folgen.
Eine gewisse beharrende Tendenz hat die Kirche in ihrer Geschichte oft dazu gedrängt, Kämpfe zu führen, die nicht ihre Kämpfe waren, und Formen zu verteidigen, in die sie zwar eingewohnt war, die aber doch nicht ihre Formen waren. Es war dies ein Kampf, der nicht nur nach außen hin, sondern der auch innerhalb der Kirche selbst geführt wurde. Es war ein Kampf, der viele Opfer forderte, auch innerhalb der Kirche Vorläufer neuer Lebensformen haben es schwer, und nur einmal in Jahrhunderten kommt es vor, daß der Kirche wie in Johannes XXIII. ein Papst geschenkt wird, der selbst die Tore in eine neue Zukunft aufreißt. Und auch diesen Papst haben nicht alle verstanden, auch nicht in der Kirche.
Die Kirche hat sich den demokratischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts gegenüber reserviert verhalten. In einem Demokraten mußte die Kirche oft nur einen Kirchenstürmer und einen Klosterbrenner sehen, und viele der Demokraten der damaligen Zeit ließen auch keine Zweifel daran, daß sie auch ihre Demokratie so verstanden wissen wollten.
Der Zwang aber, sich gegen jene Art von Demokratie zur Wehr zu setzen, nötigte die Kirche, sich der Formen der Demokratie zu bedienen. Im Kampf gegen einen laizistischen Liberalismus und einen atheistischen Marxismus organisierte die Kirche demokratische Massenparteien. Die Kirche wurde die Gründerin und Verbündete von politischen Parteien. Wir können heute leicht sagen, daß dies ein Irrweg war, aber was hätte die Kirche damals, wieder verstanden in ihrer menschlichen Existenz und verhaftet den Anschauungen ihrer Zeit, anders tun können?
Aber die Kirche ist hierzulande, aber auch anderswo, nicht dabei stehengeblieben. Schon ein so kluger Mann wie Otto Bauer, der die Religion abgelehnt und die Kirche bekämpft hat, hatte festgestellt: „Die Kirche kämpft immer gemeinsam mit ihren Feinden von gestern gegen ihre Feinde von morgen.“ Die Demokratie war einmal ein Feind von vorgestern Bald hat die Kirche gelernt, mit diesem „Feind“, mit den Mitteln dieses vermeintlichen Feindes, mit den Demokraten und mit der Demokratie gegen die Feinde von heute und morgen zu kämpfen. Und kann es nicht auch morgen so sein, daß die Feinde der Kirche von gestern ihre Verbündeten von übermorgen sein werden?
Die Kirche bekennt sich heute in diesem Lande offen und ehrlich zur Demokratie. Das ist nicht eine opportunistische Haltung, das ist nicht eine Haltung des Arrangements mit den Mächten der Zeit, sondern das ist eine Form der Erfüllung der Aufgaben mit den Mitteln der Zeit. Die Kirche hat heute, das hat schon das Mariazeller Manifest des Katholikentages von 1952 festgestellt, keine Regierung, keine Partei, kein Kapital, keine sozialen Privilegien hinter sich. Sie hat nur das Volk, das gläubige Volk.
Auch das ist eine Selbstverständlichkeit und sollte eigentlich immer so gewesen sein. Ja, man könnte sagen, daß die Kirche auf ihre Weise immer eine demokratische Institution gewesen sei und immer eine demokratische Haltung besessen habe, weil die absolute Gleichheit der Menschen auf der gleichen Gotteskindschaft und in der gleichen unsterblichen Seele beruht. Wenn die Kirche in ihrer Geschichte sich um die Seele eines Königs oft mehr bekümmert hat als um die Seele eines Taglöhners, so ist es nicht deswegen, weil sie die Seele eines Königs für wertvoller erachtete, sondern weil sie meinte, über die Seele des Königs auch die Seele des Bettlers zu erreichen.
Die Kirche hat in ihrer Geschichte viele sehr verschiedene Staatsformen zur Kenntnis genommen, viele zur Kenntnis nehmen müssen. Wenn sie sich heute zur Demokratie bekennt, so ist das gewiß mehr, als bloß ein relatives Bekenntnis. Demokratie, das ist die faire und gleiche Chance aller. Es ist Sache der Kirche, diese Chance zu nützen. Sie will dabei nicht behindert, sie braucht dabei aber auch nicht protegiert zu werden. Sie nimmt zur Kenntnis, daß die Chance, die ihr eingeräumt wird, auch für alle anderen gilt, auch für die Gläubigen anderer Glaubensgemeinschaften, auch für die Ungläubigen.
Man hat oft von mancher Seite das Bekenntnis der Kirche zu Demokratie und Toleranz mit Mißtrauen betrachtet. Viele haben einem solchen Bekenntnis nicht recht getraut und gemeint, die Kirche wäre nur dort für Demokratie, Toleranz und religiöse Freiheit, wo sie selber in der Minderheit sei. Dort aber, wo sie die Mehrheit und die Macht habe, strebe sie eine absolute Herrschaft über die Geister an. Das ist ein schwerer Vorwurf und er hat gewiß auch in manchem den Anschein historischer Tatsachen für sich. Es wäre absolut verfehlt, wollten die Katholiken einen solchen Vorwurf mit Gegenvorwürfen aus der Geschichte oder aus der Gegenwart beantworten. Wir müssen diese Frage ernst nehmen und auch ernst durchdenken. Letztlich ist es eine theologische Frage und nicht eine Frage der Opportunität, der Diplomatie oder der Machtverhältnisse. Diese Frage wird die kommende Konzilssession noch sehr beschäftigen.
Die Kirche wird, soweit man das heute sagen kann, feststellen, daß sie unbeschadet ihres Wahrheitsanspruches und ihres Sendungsauftrages die religiöse Freiheit, die sie für sich selber fordert, auch allen anderen zubilligt, jederzeit, jeden Ortes und in jeder Situation, daß sie die religiöse Überzeugung und auch die areligiöse Überzeugung jedes Menschen nicht nur toleriert, sondern achtet. Das ist kein Wertrelativismus, kein Synkretismus. Dahinter steht die Überzeugung, daß die Wahrheit stärker ist als der weltliche Arm.
Demokratie bedeutet also für die Kirche die Möglichkeit einer fairen und gleichen Chance und nicht mehr. Wie kann die Kirche diese Chance nützen? Sie hat sie in vergangenen Jahrzehnten genützt durch Organisierung oder Unterstützung christlicher Volksparteien. Aber auch das war nur eine, damals vielleicht notwendige Zwischenstufe. Vor allem in einem nominell nahezu geschlossen katholischen Land wie Österreich hätte das zur Folge gehabt, daß die Kirche Partei würde. Die Kirche kann aber für Katholiken nicht Partei sein, unter Umständen vielleicht die gegnerische Partei. Der sogenannte „Politische Katholizismus“ kann auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung notwendig sein zur Abwehr akuter Gefahren, zur Sicherung eines minimalen Lebensrechtes der Kirche, zur Durchsetzung gewisser für unumgänglich notwendig gehaltener kulturpolitischer Forderungen, ein Idealzustand, ein Endziel ist er nicht. Die Kirche kann auf die Dauer sich nicht in ein parteipolitisches Freund-Feind-Verhältnis hineinziehen lassen, ohne selbst schwersten Schaden zu erleiden.
Die österreichischen Bischöfe haben 1945 einen Beschluß aus dem Jahre 1933 erneuert, der den Priestern die Annahme eines politischen Amtes untersagt. Diese Entscheidung, so natürlich sie aus den Irrwegen der österreichischen Geschichte erwuchs, so selbstverständlich sie uns heute erscheint, muß aber auch in ihren Folgen bedacht werden. Wenn die Kirche ihre Priester aus der Politik zurückzieht, wenn sie sich selbst von jedem unmittelbaren Eingriff in die Politik distanziert, so heißt das auf keinen Fall, daß es ihr gleichgültig ist, welche Politik in diesem Lande gemacht wird. Im Gegenteil, ihr sorgendes, beobachtendes Interesse muß jetzt naturgemäß größer sein, da sie keinen unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der Politik hat. Das heißt zum anderen ebenso selbstverständlich nicht, daß die Kirche allen politischen Richtungen in diesem Lande vollkommen gleich neutral gegenüber steht. Ihre Aufgabe ist es, mehr als früher den Akzent auf grundsätzliche Fragen zu legen. Sie hat hier die Möglichkeit zu nuancieren und zu differenzieren, da sie der Notwendigkeit enthoben ist, Pauschalurteile abgeben zu müssen.
Wenn die Kirche ihren Gläubigen keine politischen Weisungen oder Ratschläge erteilt, und das macht sie in Österreich schon seit langer Zeit nicht mehr, dann können die Gläubigen auch nicht mehr auf solche Weisungen warten und müssen nach ihrer eigenen Vernunft und aus ihrem eigenen Gewissen heraus entscheiden. Die Kirche kann ihnen diese Entscheidungen nicht abnehmen.
Christliche Politik machen heißt nicht, auf eine Weisung des Bischofs warten, heißt nicht, mit der Kirchenfahne in den Wahlkampf ziehen, sondern heißt Politik aus christlicher Verantwortung heraus. An diese Verantwortung zu appellieren, sie zu stärken, sie zu ermuntern, wo immer sie sich zeigt, ist Sache der Kirche, nicht aber im einzelnen Fall Lösungen aufzuzeigen oder gar vorzuschreiben. Auch aus christlicher Verantwortung heraus werden sich bei manchen Fragen verschiedene Lösungsmöglichkeiten ergeben. Eine Politik ist nicht deswegen gut, weil sie sich christlich nennt, aber sie darf sich auf ihre christliche Verantwortung berufen, wenn sie gut ist. Und was ist gut? Da kann ich nur mit der Heiligen Schrift antworten: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“