Rahner - © Foto: Gürer, IHS

Karl Rahner: „Der Geist weht, wo er will“

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Warum Christinnen und Christen Mut zum Wagnis brauchen – und sich auch „Unbeamtete“ in der Kirche zu Wort melden sollten.

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Warum Christinnen und Christen Mut zum Wagnis brauchen – und sich auch „Unbeamtete“ in der Kirche zu Wort melden sollten.

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Die Kirche weiß in ihrem Glaubensbewußtsein, daß auch der Geist zu ihr gehört, daß er für sie unersetzlich ist. Sie lehrt ausdrücklich, daß zur Kirche nicht nur das Amt, die Institution, die Überlieferung, die immer gleichbleibenden Normen und so das Geplante, das Voraussehbare gehöre. Die Kirche weiß, daß das Unerwartete und Unberechenbare ihrer eigenen Geschichte nicht nur die von außen an sie herankommende unübersehbare Situation ist, die sie mit ihren Prinzipien, die immergleich bleiben, bewältigt. Die Kirche weiß, daß in ihr eigenes innerstes Wesen der Geist Gottes eingestiftet ist, der lebendige Geist, der jetzt noch waltet und treibt, der sich also nie adäquat schon übersetzt hat und in die Verfügung der Kirche gegeben hat durch das, was wir Amt und Prinzipien, Sakramente und Lehre nennen.

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Pius XII. hat ausdrücklich erklärt, daß nicht nur das Institutionelle, sondern auch das Charismatische zum Wesen der Kirche gehört. Diese Charismatiker sind nach Pius XII. Nicht nur gegeben in den Trägern des Amtes, noch sind sie nur Befehlsempfänger. Sie können durchaus solche Menschen sein, durch deren Gnadengaben Christus Seine Kirche „unmittelbar“ leitet und bewegt, so sehr diese Charismatiker und ihre Charismen „in Ordnung“ leben müssen,so wenig sie aus jener Kirche ausbrechen dürfen, die auch, aber nicht nur, eine Kirche des Amtes ist.

Dieses Wissen ist da. Aber es ist oft in Theorie und Praxis nicht genügend deutlich und lebendig da. Es ist oft ein bloß theoretisches Wissen, das selbst keine charismatische Kraft hat. Dies ist nicht einfach nur Schuld, Eigensinn, Verkalkung. Es gibt andere und drängende Gründe für diese Unwirksamkeit der Wahrheit von dem Geist und seinen Charismen in der Kirche.

Wissen wir eine Antwort, wenn einer uns fragt: was wollt ihr Christen in den nächsten zehn Jahren konkret, was wollt ihr heute erreichen, was noch nicht ist, aber nach euch werden soll, und zwar hier und jetzt und nicht nur in der Ewigkeit?

Karl Rahner

Wie steht es mit der Kirche in dem Lebensraum, der unser ist? Herrscht nicht zuviel Müdigkeit bei uns, zuviel bloße Routine? Wo sind die „Bewegungen“, wo ein Enthusiasmus, der sich neue Ziele steckt, der um Neues wirbt? Verkünden wir nicht zu sehr die abgewogenen und ausgeglichenen Prinzipien derKirche, anstatt sie mutig in Imperative umzusetzen, die nicht immer und überall, aber für uns heute und hier notwendig sind? Fehlt uns nicht oft der Mut, eindeutig ja oder nein zu sagen, und zwar nicht nur zu den unveränderlichen Grundsätzen, die niemand im Ernst frontal angreift und leugnet, sondern auch zu kämpferischen Parolen, zur Konkretheit einer Entscheidung?

Wissen wir eine Antwort, wenn einer uns fragt: was wollt ihr Christen in den nächsten zehn Jahren konkret, was wollt ihr heute erreichen, was noch nicht ist, aber nach euch werden soll, und zwar hier und jetzt und nicht nur in der Ewigkeit? Distanzieren wir uns nicht oft von den Parteien, wie wir sagen, um uns nicht in einer konkreten Forderung engagieren zu müssen? Ist der Mut genügend vorhanden, uns wirklich mit Fragen der Zeit zu befassen, ihnen uns wirklich zu stellen, ihre Last wirklich zu spüren, oder meinen wir nicht zu sehr zu unserer eigenen müden Beruhigung, wir seien schon über alles im Klaren, ausgerüstet mit allen Antworten auf alle Fragen, die nur einigermaßen wichtig sind?

Wie machen wir es, daß wir den Geist nicht auslöschen? Das ist eine dunkle und schwere Frage. Wenn man meinen könnte, sie sei leicht zu beantworten, wäre sie keine.Das erste, was getan, was zu Herzen genommen werden müßte, wäre die Sorge, es könne der Geist ausgelöscht werden, wenn nicht ganz in der Kirche, so doch so weit und so schrecklich, daß wir jenes Gericht fürchten müssen, das beim Hause Gottes anfängt. Und darum muß uns alle die Sorge quälen, daß wir es sein könnten, die den Geist auslöschen. Ihn auslöschen durch den Hochmut der Besserwisserei, durch die Herzensträgheit, durch die Feigheit, durch die Unbelehrbarkeit, mit denen wir neuen Impulsen, neuen Drängen in der Kirche begegnen.

Wievieles wäre anders, wenn man dem Neuen nicht so oft entgegentreten würde mit der überlegenen Selbstsicherheit, mit einem Konservativismus, der nicht Gottes Ehre und Lehre der Stiftung in der Kirche verteidigt, sondern sich selbst, die alte Gewohnheit, das Übliche, das man leben kann ohne den Schmerz der täglich neuen Metanoia. Wenn man aber brennend empfände, daß man auch gerichtet werden kann durch seine Unterlassungen, für seine diffuse, anonyme Herzenshärte und -trägheit, für seinen schuldhaften Mangel an schöpferischer Phantasie und am Mut zum Kühnen, dann würde man sicher hellhöriger, vorsichtiger, zuvorkommender auf die leiseste Möglichkeit achten, daß sich irgendwo der Geist regt, der nicht schon in den amtlichen Formeln und Maximen der Kirche und ihrer amtlichen Stellen eingegangen ist.

Wir leben in einer Zeit, wo es einfach notwendig ist, im Mut zum Neuen und Unerprobten bis zur äußersten Grenze zu gehen

Karl Rahner

Das zweite ist der Mut zum Wagnis. Wir leben in einer Zeit, wo es einfach notwendig ist, im Mut zum Neuen und Unerprobten bis zur äußersten Grenze zu gehen, bis dorthin, wo es für eine christliche Lehre und ein christliches Gewissen eindeutig und indiskutabel eine Möglichkeit, noch weiter zu gehen, einfach nicht mehr gibt. Wir dürfen heute nicht eigentlich bei der Lösung von echten Problemen fragen: Wie weit muß ich gehen, weil es einfach von der Situation erzwungen wird, wenigstensso weit zu gehen, sondern wir müßten fragen: Wie weit darf man unter Ausnützung aller theologischen und pastoralen Möglichkeiten gehen, weil die Lage des Reiches Gottes sicher so ist, daß wir das Äußerste wagen müssen, um so zu bestehen, wie Gott es von uns verlangt.

Wir dürfen in Ökumenischen Fragen beispielsweise nicht fragen: Was müssen wir den getrennten Brüdern zugestehen, sondern: Wie schöpfen wir alle nur denkbaren, von unserem christlich-katholischen Gewissen nur irgendwie denkbaren Möglichkeiten eines Entgegenkommens aus, mutig und unbekümmert, weil wir es uns heute einfach nicht mehr leisten können, da weniger zu tun, um der Einheit der Christen wenigstens näherzukommen.Soll der Geist nicht ausgelöscht werden, dann bedarf es einer richtigen und mutigen Interpretation des kirchlichen Gehorsams. Dieser ist eine heilige Tugend. Der Geist Christi in der Kirche weist sich aus Gehorsam vor dem Amt in der Kirche. Es gibt keinen echten Geist Christi, der aus der Kirche der Bischöfe, des Papstes, des Amtes hinausführt. Aber wenn es wahr ist, daß der Geist Gottes in der Kirche nicht nur durch das Amt, sondern auch durch die Unbeamteten, von ihnen her auf das Amt zu wirkt, dann haben die Menschen, denen Gott die Gnade und die Last des Charismas schenkt (und es wäre besser, es würden sich mehr Leute in der Kirche zutrauen, daß der Geist ihnen solchen Empfang zutrauen könnte), auch das Recht und die Pflicht, sich nicht einfach hinter ein stummes und im Grunde bequemes, gar nicht wirklich demütiges Parieren zu verstecken, sondern zu sprechen, zu rufen, ihre Meinung, die durchaus die des Geistes Gottes sein kann, auch vor dem Amt der Kirche kundzututn [sic], immer aufs neue, auch wenn sie lästig fallen, auch wenn es „oben“ nicht genehm ist, auch wenn sie das Leiddes Charisma zu tragen haben: Verkennung, vielleicht sogar Maßregelung.

Nicht dort, wo die amtliche Maschinerie der Kirche reibungslos und leise läuft, nicht dort, wo ein totalitäres Regime exerziert würde, ist der Geist des wahren Gehorsams, sondern wo mitten im gemeinsamen Kampf um den Willen Gottes vom Amt das nicht amtliche Walten des Geistes respektiert und vom Charismatiker in Treue zum eigenen Auftrag das Amt gehorsam respektiert wird und Gott und Er allein aus diesem notwendigen Antagonismus und Pluralismus der Geister und Aufgaben und Dienstleistungen in der Kirche die eine Kirche und ihre wahre, von Gott gewollte Geschichte auferbaut, die auch anders aussieht als so, wie sie in den amtlichen Plänen des kirchlichen Amtes ausgedacht worden war, mit Recht und pflichtschuldig geplant war.

Die Kirche ist nicht so „ein Herz und eine Seele“, daß es in ihr keinen Kampf, kein Leid des gegenseitigen Mißverstehens geben dürfte.

Karl Rahner

Zu den Voraussetzungen für das Lebendigwerden des Geistes gehört auch der Mut zu diesem unvermeidlichen Antagonismus in der Kirche. Die Kirche ist nicht so „ein Herz und eine Seele“, daß es in ihr keinen Kampf, kein Leid des gegenseitigen Mißverstehens geben dürfte. Es gibt wirklich viele Charismen in der Kirche, und keiner hat alle, und keinem ist eine Verwaltung aller Charismen aufgetragen, denn selbst die Sorge um die Einheit des Glaubens und der Liebe, die das eine Amt in der Kirche hat, bedeutet keine eigentliche Verwaltung aller Charismen durch die amtliche Kirche. Nein, wir Christen werden und sollen in vielem verschiedener Meinung sein, wir sollen verschiedene Tendenzen haben, es braucht nicht jedes jedem positiv zu passen. Liebe, die auf Uniformität aufbauen dürfte, wäre leicht. In der Kirche aber soll der Geist der Liebe herrschen, die die vielen und verschiedenen bleibenden Gaben zu einer Einheit bindet, der Liebe, die den anderen auch noch annimmt und geltenläßt, so man ihn nicht mehr „versteht“.

Das Prinzip, das mit der Liebe der Kirche in ihrem Handeln mitgegeben ist, besagt, daß jeder in der Kirche seinem Geist folgen dürfe, solange nicht sicher feststeht, daß er einem Ungeist nachgibt, daß also seine Rechtgläubigkeit, seine Freiheit, sein guter Wille vorauszusetzen seien bis zum wirklichen Beweis des Gegenteils und nicht umgekehrt. Mag auch das Urteil darüber, ob dieser Beweis im Einzelfall erbracht sei, wiederum beim Amt selbst und nicht einfach beim Beurteilten selbst liegen, so hat eben doch das Amt die heilige Pflicht, nach der es am Tage des Gerichtes Rechenschaft ablegen muß, selbst demütig und selbstkritisch zu prüfen, ob ein solcher Beweis wirklich vorliegt oder ob es voreilig, eigensinnig und nachdem Maßstab des eigenen Geistes und der bloß eigenen Gabe urteilt. Geduld, Toleranz, Gewährenlassen des anderen, solange das Verkehrte seinen Handelns nicht sicher nachgewiesen ist (nicht umgekehrt: Verbot aller Eigenregung, bis deren Rechtmäßigkeit formell nachgewiesen ist, wobei der Untergebene die Beweislast hätte) sind spezifisch kirchliche Tugenden, die aus dem Wesen der Kirche, die kein totalitäres System ist, erfließen und Voraussetzungen dafür sind, daß der Geist nicht ausgelöscht wird.

Wenn alle beten, wenn jeder über seine eigene charismatische Kargheit und Dürftigkeit vor Gott ein erschrockenes Gewissen hat, wenn jeder bereit ist, die Gabe des anderen zu achten, auch wenn sie nicht seine ist, wenn der Gehorsam den Mut der Selbstverantwortung nicht austreibt und auch nicht umgekehrt der Mut zur eigenen Meinung den Gehorsam, wenn die Entschlossenheit da ist, auch zu radikalen Versuchen, weil man sieht, daß in der äußersten Situation, die die unsere ist, mit vorsichtigem Weitermachen im bisherigen Geleise nicht mehr bestanden werden kann, dann wäre vielleicht der Raum da, der auch schon wieder Gottes Gnade ist, für die Lebendigkeit des Geistes, der nochmals Gnade Gottes allein ist. Dann brauchten wir nicht zu fürchten, daß wir vor dem Gericht Gottes den Vorwurf hören werden, wir hätten durch Herzensträgheit und Feigheit den Geist ausgelöscht und hätten es noch nicht einmal wahrhaben wollen.In den letzten hundert Jahren ist der relative Anteil der katholischen Christen praktisch nicht gewachsen, sondern gleichgeblieben, trotz der scheinbar heroischen Anstrengungen der Mission. Und dabei ist der innere Abfall inmitten der sogenannten christlichen Völker von erschreckendem Ausmaß noch gar nicht einkalkuliert.

Wenn die Zuwachsrate der Bevölkerungsexplosion in der Welt, wie man sie genannt hat, auch nur so groß bleibt, wie sie jetzt ist, werden am Ende dieses Jahrhunderts, das noch vielleicht manche von uns erleben, sechs bis sieben Milliarden Menschen vorhanden sein, also fast doppelt soviel wie heute leben. Da aber diese Zunahme zum weitaus größeren Teil in jenem Teil der Menschheit sich abspielt, der praktisch oder sogar grundsätzlich politisch außerhalb des christlichen Strahlungsbereiches lebt, wird vermutlich der katholische Anteil der Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten sehr, vielfach erschreckend, sinken. Das ist nur eine von hundert Überlegungen, die man anstellen könnte, um sich den Ernst der globalen und saekularen Situation klarzumachen, in der sich die Kirche befindet, derSituation der Welt, die heute auch unsere eigene ist, weil kein Land mehr autark sein kann in dieser Gegenwart. Haben wir den harten Mut, uns selbst zu sagen: Löscht den Geist nicht aus; haben wir den unerschütterlichen Glauben trotz dieses warnenden Mahnrufes an uns selbst, darauf zu vertrauen, daß der Geist Gottes sich nicht auslöschen läßt, weil er der Geist dessen ist, der am Kreuz der Welt gesiegt hat.


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