Holl - © Foto: Rosso Robot cc

Adolf Holl: Vollkommen frigide Gesellschaft

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Adolf Holl, Religionswissenschafter, Schriftsteller (zuletzt: „Brief an die gottlosen Frauen“), katholischer Priester a.D. im Gespräch: In den Industrieländern ortet der Kulturpublizist einen völligen Mangel an Erotik – ganz im Gegensatz zu den Reizen der Medienwelt.

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Adolf Holl, Religionswissenschafter, Schriftsteller (zuletzt: „Brief an die gottlosen Frauen“), katholischer Priester a.D. im Gespräch: In den Industrieländern ortet der Kulturpublizist einen völligen Mangel an Erotik – ganz im Gegensatz zu den Reizen der Medienwelt.

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Die Furche: Sexualität ist allgegenwärtig, ohne Sex kommt kein Werbeplakat aus. Ist Sex die Religion von heute?
Adolf Holl: Wenn ich die vielen Augenreize betrachte, die mich als Mann in erster Linie dazu verführen wollen, nicht nur ans Schilaufen, ans Essen und Trinken, an den Broterwerb zu denken, sondern auch noch an dieses gewisse Tralala, dann gewinne ich den Eindruck, dass wir in einer durch und durch frigiden Gesellschaft wohnen ...

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Die Furche: ???
Holl: ...einer vollkommen frigiden Gesellschaft! Denn warum denn sonst müssten die Männer, gewissermaßen ununterbrochen, auch wenn sie ein neues Auto kaufen oder ein Bonbon lutschen wollen, stets daran erinnert werden, dass sie auch noch, ab und zu wenigstens, einen Liebesakt vollziehen sollen. Ich habe fast den Eindruck, in einer vergesslichen Gesellschaft zu leben. Und was ich an sozialwissenschaftlicher Analytik zur Kenntnis bekomme, bestärkt mich darin. Denn männliche Impotenz beginnt nicht mit 70, sondern setzt in unseren Breiten schon mit 50 ein! Die Antwort auf die Frage, ob lustvoll und unbefangen praktizierte Sexualität so etwas wie ein generelles Klima in unserer Gesellschaft erzeugt, wie es vor hunderten von Jahren durch das gewährleistet wurde, was wir Religion nennen - tägliche Gebete, Glockengeläute, Wallfahrten - lautet: Sie stellt gerade im Gegenteil etwas dar, was virtuell in die Augen hineingetragen wird. Ich bin sicher, auch heute noch wird Papa und Mama gespielt, aber längst nicht in dem Ausmaß, wie suggeriert wird.

Katholisch erotisiert

Die Furche: Hat das mit dem Stellenwert der Religion heute zu tun?
Holl: Für mich gibt es keinen Gesellschaftskörper, der am ganzen Körper so mit Erotik tätowiert ist wie den katholischen. Ich glaube überhaupt nicht, dass der katholische Körper,- immerhin eine Milliarde Menschen! - prüde ist. Sondern er ist ein Körper, der sich unausgesetzt mit Erotik, Scham, sexuellen Verboten abgibt, und zwar gibt's nur ein Minuszeichen davor. Dieses Minus bewirkt, dass sich dieser Körper unausgesetzt mit seiner Sexualität beschäftigen muss.

Die Muselmanen sind ein familiärer, aber innerhalb der Familie liberaler Gesellschaftskörper: die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau darf nach der Heirat lebhaft funktionieren. In dem Moment, wie der Tschador zu Hause fällt, taucht eine verführerische Frau auf, die gelernt hat, sich und dem Mann Freude zu bereiten.

Die Furche: Warum ist das katholisch? Sind Muslime da weniger rigide?
Holl: Ja. Die Muselmanen sind ein familiärer, aber innerhalb der Familie liberaler Gesellschaftskörper: die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau darf nach der Heirat lebhaft funktionieren. In dem Moment, wie der Tschador zu Hause fällt, taucht eine verführerische Frau auf, die gelernt hat, sich und dem Mann Freude zu bereiten. Auf dem Papier, aber auch in den Köpfen der praktizierenden Menschen gibt es keine rigidere Sexualmoral wie bei uns. Luis Buñuel, aus dem katholischen Spanien stammender Regisseur, meinte einmal: "Die Themen, mit denen ich mich beschäftige, sind einfach. Religion und Erotik beispielsweise: Ohne das erste würde es das zweite nicht geben." D.h. sobald diese strengen Verbote auf der Sexualität liegen, wird der Reiz, sie zu durchbrechen, unabweisbar. Das ist die Grundsituation des Katholizismus der Neuzeit.

Die Furche: Und andere Christen?
Holl: In den evangelischen Kreisen gibt es eine Unbefangenheit in den geschlechtlichen Dingen ebenfalls nicht. Ich erinnere an Calvin, der in Genf eine Art Sittenpolizei eingerichtet hat, welche die jungen Leute hinter den Gebüschen kontrollierte, oder an den schottischen und später nordamerikanischen Puritanismus und dessen Zusammenhang mit dem aufblühenden Kapitalismus: Hier war es notwendig, um sparsame, arbeitsame Menschen zu konditionieren, ihnen die Lust an Verschwendung und Verausgabung zu nehmen, sodass die Konzentration nur aufs Geschäftsleben gerichtet war. Wir treffen also im Christentum (wobei ich das östliche ausspare) auf Vermeidung und Faszination in Bezug auf Sexualität, zurückführbar auf frühe Entwicklungen im 3. Jahrhundert.

Fall des göttlichen Verbots

Die Furche: Was hat Ihr Frigiditätsbefund mit dem Christentum zu tun?
Holl: Sobald der Stachel des Verbots aus dem christlichen Fleisch gezogen wurde, sobald das Geschlechtsleben nicht mehr unter göttlichem Verbot stand, ist es entspannter geworden - und weniger interessant. Wobei ich noch nichts über einen Faktor gesagt habe, der weder mit dem lieben Gott noch mit dem Teufel zu tun hat, sondern mit unserer so genannten Natur - die Seuchen: Europas Seuchengeschichte ist ein wichtiger Faktor. Ab dem 16. Jahrhundert tritt die Syphilis auf, sie ängstigt und quält die Menschen bis zur Erfindung des Penicillins vor 60 Jahren. Und dann kommen die kurzen 20 Jahre, wo die Menschen allmählich unbelastet waren in ihrer Angst vor der Krankheit. Was ist dann passiert? Schon kam die nächste Seuche - und die haben wir immer noch: Aids.

Die Furche: Früher war Sexualität vor allem mit Fortpflanzung verbunden. Heute steht dies nicht im Vordergrund.
Holl: Zur Tatsache, dass das Geschlechtsleben in den Industrieländern mehr und mehr von der Fortpflanzungsfreude abgekoppelt ist, möchte ich auf den deutschen Kulturphilosophen Hans Peter Duerr verweisen, der soeben sein fünfbändiges Werk "Der Mythos vom Zivilisationsprozess" abgeschlossen hat: Nirgendwo sonst habe ich in solcher Klarheit ausgedrückt gefunden, dass die Körperscham zum Wesen des Menschen gehört. Wenn wir hier über Religion und Sexualität in einem allgemeinmenschlichen Sinn reden, halte ich mich an Duerr, der erkannt hat: Was kennzeichnet uns Menschen im Unterschied zu den Tieren? Duerr sagt: Uns kennzeichnet die Körperscham. Die hat es immer gegeben, die ist ein Universal. Ob Religion auch ein menschliches Universal ist, traue ich mich als Religionswissenschafter nicht zu entscheiden. Ich neige eher zu sagen: Ritualisierungskompetenz gehört zum Menschen. Wenn jetzt Körperscham und Ritualisierungskompetenz zusammentreten, dann haben wir den Ausdruck eines Problems, das uns Menschen im Gegensatz zu den Tieren auszeichnet - eines Problems zwischen beiden Geschlechtern. Ich würde nie so dumm sein, dieses Problem mit einem Wort zu benennen, aber dass es ein Problem gibt, zeigen unter anderem die Plakate auf jeder Straße in Wien. Weil nun die rituellen, Generationen überschreitenden Umgangsformen mit dem Problem zwischen Männern und Frauen nachgelassen haben, flottiert die Geschlechtlichkeit vor sich hin. Aus diesem Grund ist bei uns Orientierungslosigkeit zu vermerken - und zwar in den familiären Beziehungen. Hans Peter Duerr hat in seiner Forschungen erkannt, dass Körperscham mit dem Erhalt familiärer Beziehungen zusammenhängt. Wenn die Rolle der Religion in der Ritualisierung der Geschlechtsbeziehungen und in der Verbotsstruktur nachlässt, dann hören auch die Ordnungsfunktionen auf - wie zur Zeit: die Scheidungsraten nehmen zu und die Leute wissen nicht mehr, was sie von Sexualität eigentlich erwarten sollen.

Die Furche: Religion muss bei Sexualität doch stark auf Verbote setzen?
Holl: Selbstverständlich! Religion spielt in Bezug auf Sexualität die Rolle des ritualisierten Verbotes!

200 Meter unterm Meer...

Die Furche: Nun positiv gesprochen: Dort, wo Religion intim wird, kommt Erotik ins Spiel, etwa bei Mystikern, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz ...
Holl: Eine der kultiviertesten Umgangsformen mit Geschlechtlichkeit wurde im Mittelalter im Islam gepflegt - und zwar bei den persischen und arabischen Sufi-Dichtern: Dort haben wir ein ungemein raffiniertes Ineinander von erotischen und frommen Metaphern. Es hat einiges für sich, einen Einfluss dieser islamischen Dichtung auf die spanische Literatur - und besonders auf die katholische Poesie - anzunehmen. Etwa bei Johannes vom Kreuz: Die dunkle Nacht - das ist für mich das schönste Gedicht überhaupt, und in diesem Gedicht ist von Gott nicht die Rede: In dunkler Nacht verließ ich ungesehen mein Haus und ließ es dort in Ruhe stehen. So kann man es auf deutsch ungefähr sagen. Das ist ein Liebeslied! Da ist eine Frau, die ihren Geliebten sucht, und die aus dem Haus flüchtet, um den Geliebten zu umarmen. Johannes vom Kreuz hat zu diesem Gedicht - es ist in Spanien der Inbegriff höchster Poesie - dann einen 400-seitigen Kommentar geschrieben, indem er auseinanderlegt, wie er die ganze Zeit von der Liebesbeziehung der Seele mit Gott spricht. Unter den Sufi-Dichtern gibt es dafür ein Metaphern-Paar: die Rose und die Nachtigall: die Nachtigall ist die Seele, die Rose das unnennbar Göttliche. Wenn ich mich als Dichter (Johannes vom Kreuz, die Sufi-Dichter), als Dichterin (Teresa von Ávila), auch als geistliche Person, die zölibatär lebt, dem Komplex der so genannten Sexualität nähere, dann bin ich im Vergleich zu dem, was heute medial, literarisch, sozialwissenschaftlich, statistisch, theologisch, moraltheologisch, ethisch über diesen Komplex zu lesen ist, auf dem Himalaja - während wir uns heute 200 Meter unter dem Meeresspiegel befinden!

Askese ist männlich

Die Furche: Was bedeutet das aber bei Menschen, die zölibatär leben?
Holl: Wir haben bis jetzt das Thema der Fleischesabtötung noch nicht einmal berührt. Ich halte diese asketische Grundeinstellung mit guten Gründen für eine männliche Erfindung: Lang bevor die jüdischen Propheten aufgetreten sind, haben wir auf dem indischen Subkontinent eine raffinierte ganze Kultur des Waldeinsiedlertums und des Klosterwesens. Und sie geht von männlicher Seite aus. Warum wissen wir nicht. Die Sache ist um 250 nach Ägypten gelangt und hat dort das christliche Klosterwesen stimuliert. Dieser Sachverhalt ist kulturgeschichtlich von höchstem Interesse, denn ohne Klosterwesen gibt es nicht sehr viel - weder in Indien, noch in China oder Europa. Was dahinter steckt, kann ich nur andeuten: Ich glaube, dass Männer ein stärkeres Problem mit dem Tod haben als Frauen. Und deswegen üben sie sich tagtäglich in der Abtötung: Wenig essen, wenig schlafen, nichts lachen, wenig reden - dann vergeht dir sowieso die Lust.

Die Furche: Keine Lust: Da schließt sich der Kreis zur Diagnose einer deerotisierten Gesellschaft heute...
Holl: In den letzten Jahren macht mich eine verstohlene Veränderung in den Industriegesellschaften stutzig: Ich meine die geringere Fortpflanzungskraft der männlichen Samen. Das ist sehr merkwürdig (woher auch das Interesse an der In-vitro-Fertilisation kommen könnte: Weil's der Papa nimmer z'sammbringt, der Mama ein Baby zu machen!). Das zweite, das mich stutzig macht ist: weiblicher Haarverlust. Davon wird nicht geredet! Eine Bekannte, der dieses Problem zuteil wurde, hat im Internet gesurft - und ist draufgekommen: Sie ist beileibe nicht die Einzige! Ich kann das überhaupt nicht interpretieren, ich sage nur: Wenn auf der einen Seite die männlichen Spermien auslassen und auf der anderen den Frauen die Haare ausgehen, dann stimmt in der "Wohlstandsgesellschaft" prinzipiell etwas nicht! Da kann ich stundenlang weiterreden über Religion und Sexualität: Ich höre angesichts solcher Befunde ein Lachen im Hintergrund - und überlasse es Ihnen, das als ein teuflisches oder ein göttliches Lachen zu interpretieren.

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