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Jeannie Ebner: Der Prozeß und der Heilungsprozeß

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Die Schriftstellerin Jeannie Ebner schreibt über eigenartige metaphysische Erlebnisse, Spiegelungen und Selbstansichten.

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Die Schriftstellerin Jeannie Ebner schreibt über eigenartige metaphysische Erlebnisse, Spiegelungen und Selbstansichten.

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Als Kind hat man eigenartige metaphysische Erlebnisse. Erhitzt von der betäubenden Wirklichkeit eines Spiels tritt man vom sonnigen Spielplatz aus unter einen alten Torbogen. Da ergreift einen, als sei man mit dem letzten Schritt über eine Schwelle ins Leere getreten, ein Schwindelgefühl, eine Ahnung: Hier bin ich schon einmal gewesen – vielleicht vor tausen jahre. Und was dazwischen geschah, bis zu dem Augenblick, daich hier eintrat, war nur ein Traum. Oder man steht im halbdunkeln Vorzimmer eines fremden Hauses unvermutet einem Spiegel gegenüber, erschauert vor der fremden Gestalt, erkennt sich endlich an äußeren Zeichen, etwas am Rot der Haarmasche, und denkt: Das bin doch ich...oder...? Das ist beklemmend, als habe man sich selber weiß Gott wo verloren.

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Es gibt eine Geschichte von einem Spiegel, dessen Anblick für jeden tödlich war, der sich vermaß, nachts allein mit einer brennenden Kerze seinem Spiegelbild in die Augen zu sehen. Man gerät vor Entsetzen außer sich, wenn man sich so im Abbild begegnet: ein schwaches licht in der Hand, das nur die eigenen Gestalt ungewiß bestrahlt, die Tiefe des schwarzen Raums hinter sich, seine dunkle Spiegelung vor sich.

Die Begegnung mit den Werken Franz Kafkas hat spät und als Folge der Behauptung eines älteren Freundes, meine Erzählungen erinnerten an Kafka, stattgefunden, zu einer zeit, da Kafka mit gutem Grund verboten war. In dieser Zeit trat die Entfremdung alles vorher für wirklich und möglich Gehaltenen ein, die Formen menschlicher Gesittung, die so selbstverständlich und allgemein verpflichtend gewesen waren, galten nicht mehr; die Gerichtsbarkeit hatte nicht mehr zwischen schuldig und unschuldig zu befinden, die Exekutionen wurden ohne ordentliches Verfahren durchgeführt. Ich kannte diese Gerichte und ihre Urteile aus meinen Angsträumen, ja ich kannte jene Richter so gut, daß ich alle ihre Verkleidungen durchschaute: als Menschenfresser aus dem Märchenbuch, als Fleischmaschine, die Leiber einsaugt, aus dem Traum, als Hahn mit der roten Tellerkappe von einem Bild Chagalls oder aus der Wirklichkeit als mechanisch stampfende Kolonne uniformierter, ihres eigentlich menschlichen Wesens verlustig gegangener Unwesen. Eines Nachts erwachte ich, und es war wieder einer jener Augenblicke an der Schwelle des Torbogens zu einer anderen Wirklichkeit.

Es gibt eine Geschichte von einem Spiegel, dessen Anblick für jeden tödlich war, der sich vermaß, nachts allein mit einer brennenden Kerze seinem Spiegelbild in die Augen zu sehen. Man gerät vor Entsetzen außer sich, wenn man sich so im Abbild begegnet.

Ich wohnte damals neben dem Strom in einem großen Haus, und die Vorstellung des dunklen, verschlossenen Gebäudekomplexes mit Räumen – einer hinter und neben dem anderen -, bewohnt von unbekannten Wesen, durchflutet von Atemzügen, durchpulst von geheimem Leben, überwältigte mich. Mein eigener Körper erschien mir wie ein Haus, entfremdet, geheimnisvoll von Kräften durchströmt, die ich kaum zu deuten, nicht zu lenken vermochte. Schwermütig erklang der Sirenenton eines vorüberziehenden Dampfers. Die Fensterscheibe wurde zum Spiegel, daraus blickte ein fremdes Gesicht verlangend zu mir herüber, eine einsame Schauspielerin auf verdunkelter Bühne und ohne Publikum. Oder gab es doch einen Zuschauer für dieses Spiel?

Am nächsten Morgen begann ich meinen ersten Roman zu schreiben.

In diesem Roman wollte ich die „ganze Wirklichkeit“ festhalten und die Hilfslosigkeit des denkenden Wesens, das sich darin zurechtzufinden trachtet. Das Konzept schwoll an und wurde wie ein Riesenwal, den die eigene Masse erdrückt, sobald er sich in seichte Gewässer wagt. Und jede Form war ein seichtes Gewässer, gemessen an der Tiefe des Erlebnisses.

Solange ich daran arbeitete, hatte der Roman den Arbeitstitel „Die Hilflosen“, der etwas für meine Weltsicht Typisches ausdrückt: Seit langem scheint mir, daß allem, was die Menschen tun oder sagen, etwas Zufälliges anhaftet. Dahinter verbirgt sich ihr eigentliches Wesen. Gewinnt man Einblick, so findet man, daß fast allen Menschen – selbst den Weisen, zu deren Einsichten ja die Einsicht der eigenen hilflosen Unwissenheit gehört – der Tatsache der Existenz gegenüber eine große Hilfslosigkeit eigen ist. Selbst Bosheit und Grausamkeit erweisen sich oft nur als eine exaltierte Form der Hilfslosigkeit.

In dem Roman versuchte ich, das ganze Leben gleichnishaft darzustellen, mit versperrten Kammern, unbekannten Triebkräften, mit der menschlichen Vernunft und der „Vernunft des Stofflichen“ - falls man jener Kraft, die im dunklen Körperhaus regulierend, verhütend und ordnend umhergeht, Vernunft zuerkennen will -, mit der Seele, von der Gott allein weiß, wohin sie geht; mit der Freiheit, das Leben anzunehmen, zu ertragen oder zu verwerfen, das Geheimnis zu wahren oder das Siegel zu lösen; mit jener Kraft, die seit je zu all den furchtbaren fruchtbaren Sakrilegen der Menschheit den Auftrieb gab – welche Sakrilege immer wiederholt werden müssen, damit sich aus ihnen die Entwicklungsgeschichte der Menschheit aufbauen kann -, mit der natürlichen Hierarchie und der geistlichen Hierarchie, die wie alles Hiesige hiesigen Bedingungen unterworfen ist und von „Hilflosen“ gelenkt wird; und mit den unausgesetzten, inständigen Bemühungen, den Sinn des Lebens zu ergründen.

Die Symbole sind nicht originell, sondern handgreiflich. Es soll ja dem Leser nicht vorgespielt werden, der Autor befinde sich im Besitz einer Geheimsprache, im Gegenteil, er ist ebenso hilflos wie der Leser und alle Figuren des Romans, er hat ihnen höchstens das Wissen um die allgemeine Hilflosigkeit voraus, das sein künstlerisches Weltbild und somit auch diesen Roman bestimmte.

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