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Heimkehr

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Aus dem kleinen Geschäftshause einer Seitengasse in Heiligenstadt auf dem Eichsfeld lärmte die verhaßte Stimme Hitlers ihre Rede zum 30. Juni 1934. Ich war von Dingelstedt zu der in einem Brunnenhause gefaßten Quelle der Unstrut hinaufgestiegen und hatte aus ihr getrunken. Es schwebte mir eine Lebensbeschreibung des Flusses vor; auch wollte ich in seinem Spiegel das wunderbare Zusammenwirken politischer, geistiger, religiöser Geschichte auffangen, das sich in dem stillen Wiesengrunde und seinen Seitentälern ereignet hat; über den Feuerschein der Schlachten und Aufstände sollten die Bilder großer Werke gleiten, die in der Stille gediehen sind oder aus ihr kamen, aber doch nicht sein können ohne Erschütterung. Die letzten Ereignisse zerstörten alles. Ich fühlte mich besudelt. Aber auch die deutsche Geschichte war mir entfremdet, denn ich konnte nicht leugnen, daß die sich vollziehende Parodie des Reiches in Zusammenhängen geschah, daß nicht ein Gedanke neu war. Neu war nur die beispiellose, folgerichtige Roheit des Vollzuges. Gewiß hätte der Strom sich ein anderes Bett wühlen können, riß er vieles ihm nicht Zugehörende mit; aber seine Wucht war doch das Gefälle deutscher Geschichte. Damit zerbrach auch ein größerer, vielleicht mein liebster Plan: ich wollte in einem dreibändigen Werke die drei großen Kaisergeschlechter des Mittelalters darstellen. Aber ich war zu aufgebracht, ich hätte die Distanz, die bändigende Kraft, nicht gefunden. Der Widerspruch zur Zeit hätte mir die Hand geführt und die Gestaltung verdorben.

Der Anruf des Zufalls zog mich nach London. Man konnte über Hamburg jene kümmerlichen kurzfristigen Reisen machen, für die es keiner Devisen bedurfte. Ich stieg in London Bridge aus und ging über die alte Brücke zum Tower. Nur die Erinnerungen bewegten mich, kaum das Bauwerk selbst. Draußen, etwa an der Stelle, wo zur Zeit Heinrichs VIII. das Blut der Märtyrer geflossen war, malte ein Künstler der Straße mit farbigen Kreiden Hindenburg auf den Zement: das war der große Name des Augenblicks. Dann ergriff mich das Leben des alten Highway, der Duft der fast südlichen Kaufgewölbe — ein Gemisch aller Arome, der Orangen, des Kaffees, der Gewürze, der Fische —: der Herzschlag der Stadt und Macht. Ich betrat St. Paul, skeptisch, ohne etwas zu erwarten. Es war nachmittäglicher Gottesdienst in fast leerem Raum. Aber dieser Raum, den die fahlen Lichtbahnen durchkreuzten, war erfüllt von einem bedeutenden religiösen Gehalt. Er erschütterte mich. Als ich die Stufen hinabging, hatte ich den Plan zu einem Buche, das „Die Entscheidung Heinrichs VIII.“ heißen sollte: es sollte die Frage stellen nach der von Heinrich gebildeten, erzwungenen religiösen Form in ihrem Verhältnis zur englischen Macht, zum Empire. Der Plan entfaltete sich wie eine aufspringende Knospe auf dem Wege nach Westminster. Nicht in den Häusern, den Steinen, ist Geschichtliches gegenwärtig, nicht in den Bauformen: aber es ist von unerhörter Gewalt in den Straßenzügen, Winkeln, Schnittpunkten. Es war von höchster Bedeutung, daß nach dem Great Fire (1666) die Stadt nicht nach dem symmetrischen Plane Wrens aufgebaut wurde, sondern sich im wesentlichen an die alte Linienführung hielt. Die Architektur ist in diesen schmalen, hochgebauten, von Rauch und gelbschwarzem Nebel erfüllten Straßen von weit geringerer Bedeutung als der Grundriß. Aber hinter der englischen Macht erschien eine andere in unabweisbarer Präsenz: das Rom der Cäsaren. Wenn es, nach der Lehre des Polybius, einen Kreislauf der Verfassungen gibt, so auch einen Kreislauf der Machtformen. Rom ist, wie es der unvergleichlich universale Blick Rankes gesehen hat, „die größte Werkstätte der Macht“: Werkstätte also, in der die Formen der Macht gegossen werden. Die Aera, der wir zugehören, in der wir atmen, wird enden, wenn der römische Anspruch nicht mehr getragen wird, aber sie endet auch, wenn das Leiden Griechenlands ihn nicht mehr durchdringt, diese Passion der Jahrhunderte, die in gleichem Grade geschichtliches Dasein ist wie die Expansion und Behauptung der Weltmacht.

Dieses Erlebnis begegnete einer inneren Geschichte, die ich mir nicht hinreichend vergegenwärtigen kann. Ich sah plötzlich das Ringen um den Glauben und seine Daseinsform auf dem Scheitelpunkt der Geschicke. Anderthalb Jahre zuvor schlug der Insel-Verlag als Titel eines kleinen Buches über deutsche Städte „Kreuzwege deutscher Geschichte“ vor, da meinem eigenen Titel eine andere Publikation zuvorgekommen war. Ich widersprach entschieden. Es widerstrebte mir durchaus, die deutsche Geschichte unter d?s Kreuz zu stellen. Auch ich wollte mich nicht darunter stellen, ich

wollte nicht Christ sein. Ich mußte es werden. Denn ich war es von Anfang. Auch im Geistigen und Religiösen können Genotyp und Phänotyp auseinanderfallen; wie wir vererben können, was wir nicht darstellen, so können wir auch sein, was wir einmal werden und was unseren Ueberzeugungen und Worten widerspricht. Die sakramentale Prägung, die ich unwissentlich getragen hatte, setzte sich durch. Christus hat das Leiden vergöttlicht. Er hat die Wundmale des Hauses und der Schande als Siegeszeichen der Liebe emporgetragen in das Geheimnis der Gottheit. Sein Kreuz ist aufbehalten in den Himmeln. Es wird ihm voranleuchten, wenn er wiederkommt. Und mit den Wundmalen wird er vor uns, vor den Spielern des ausgespielten Weltdramas, erscheinen. Dieser Anblick wird uns vernichten. Dieser Anblick wird uns retten. Aber auf die Verehrung des vergöttlichten Leidens war meine tiefste Natur gerichtet; nichts war mir so gemäß, denn, wie Gregor der Große sagt, einem dunklen Gemüt kann nur durch den Anblick des Leides geholfen werden. Es war nur die Härte der unverrückbaren Wahrheit, die meinen Protest erregte. Wir wollen nicht sein, was wir sein sollen, und wir wollen es doch. Die Zeit arbeitete mit. Sie war das furchtbare Werkzeug der Gnade. Nach jenem Gespräch am Charlottenburger Bahnhof, das die Leiden der Verfolgten enthüllte, schrieb ich die kleine Erzählung „Der Tröster“. In ihr war die christliche Wahrheit von der Stellvertretung als Nachfolge unvermittelt da. Das Leiden in den Lagern und Gefängnissen ging mir nun nicht mehr von der Seele. Da ich dies schreibe, finde ich das Wort Taulers: „Wohin Gott durch das Leiden mit dem Menschen wolle, dahin folge er Gott und ergebe sich in seinen göttlichen Willen.“ Und Pascal, der so vieles erkannte und lebte, was ich suche, wußte: nur Seine Wunder können wir erreichen; Geschichtszeit ist Seine Agonie. Aber ich schlug an einem Weihnachtsabend in Potsdam die Heilige Schrift auf — ich hatte sie mir als Knabe in Luthers Uebersetzung gekauft — und floh nach wenigen Kapiteln auf die kalte, dunkle Straße. Denn es war ja klar: unter diesem Anspruch der Wahrheit kehrt sich das Leben um. Dieses Buch kann man nicht lesen, wie man auch die Exerzitien des heiligen Ignatius nicht lesen kann. Man kann es nur tun. Es ist kein Buch. Es ist Lebensmacht. Und es ist unmöglich, auch nur eine Zeile zu begreifen, ohne den Entschluß, sie zu vollziehen. Darauf beruht ja die härteste Unmöglichkeit menschlicher Verständigung, daß den Glauben nur versteht, wer glaubt — daß wir erst glauben lernen, wenn wir beten, und doch nur beten können, wenn wir glauben. Christus hat nicht geschrieben und nicht zu schreiben befohlen. Er hat nicht „gedacht“. Er hat gelebt; er ist lebendes Wort. Und auch heute redet das Buch nur, weil er lebt und weil wir im Lichte des über die Welt gesandten Geistes das Licht sehen.

Da ich nun versuchte, englische Geschichte zu begreifen, stand Christus überall vor mir als Macht. Ich wagte es, den Umrissen eines Heilsplanes nachzuspüren, der Frage des Menschen, der Antwort des Herrn. Aber ich hatte die Liebe zum Reich, dessen Geschichte mir entglitten war, nicht verloren; ich erblickte auf der britischen Insel die Geschichte des „Gegenreiches“. Es mußte kommen, weil nicht geschehen war, was hätte geschehen sollen.

Im folgenden Jahre fuhr ich wieder nach England, wenigstens für einige Wochen. In dem kleinen Hotel in einer Seitenstraße, nahe am Trafalgar Square, steckte das alte Fräulein im Büro auf eine Frage die Daumen in die Ohren, indem sie die Handflächen fächerartig ausbreitete: „I am deaf.“ Unter einer Melodie, wie ich sie seit Kindertagen nicht gehört, versammelten sich im Hydepark die Nursen mit ihren Kinderwagen vor einem altmodischen Kiosk. In unstörbarem Frieden grasten die Hammel unter St. Albans und auf den herben Hügeln Yorkshires; um alle Gräber blühten überschwenglich die Narzissen, die Krokusse auf den Wiesen um Ely über dem Wash. Traumhaft schimmerte zwischen den Steineichen die gelbe Fassade von Wells. Unter dem Glockenschlag von Beverley, in einem großen englischen Bett, dessen Linnen mit einer Wärmeflasche angewärmt wurden, fühlte ich mich geborgen. Das war nur ein Steigen. Sinken der Türme, Sich-Oeffnen, Verdammen geweihter Hallen, Vorüberkreisen der Städte bis hinauf nach Edinburgh, wo der Raum endet. Der kühne starre Schloßfelsen über dem Friedhof, die dunklen, regennassen Hofschächte und finsteren Fronten, die steinübersäten Felder und die Kreuze von Melrose redeten zu mir ein todernstes Wort. Calvin und John Knox sind mir in Genf nicht näher gewesen als hier auf dem Grabe einer verwegenen Tradition. Aber die verklungene schottische Melodie schwingt in den Schicksalen fort wie der Harfenton Irlands, der Mönchschor von Anglesey, die Zaubersprüche von

Wales, und immer wieder die mächtige Stimme des königlichen Priesters Columba und die Geschichte der Stuarts, die wie ein Sturz vom Pferde ist, und der verschallende Ruf der Hörner: Ballade, Rittertum, Abenteuer.

Am ersten Tage der zweiten Reise hatte ich morgens in London das Gefühl einer ungeheuren, unabwendbaren Katastrophe. Wenige Tage darauf, in Lincoln, meldeten die Zeitungen, daß die Wehrpflicht in Deutschland eingeführt wurde. In dieser Perspektive sah ich alles: England, die Europa vertretende Macht, vor der äußersten Bewährung, vor der Behauptung im Untergang. Der Ausfahrt der Entdecker, Eroberer, Kaufleute entgegneten die Kontinente, dem Gegenreich die schuldhafte Travestie des Reichs. Dahinter stand das unbewegliche Antlitz Roms. Dieses Antlitz hat Shakespeare klar hinter England gesehen; der Tower ist von Cäsar gegründet. Im Macbeth ist alles gesagt, was von der Macht gesagt werden kann; er ist Prolog und Epilog zugleich, was nur von wenigen Werken gilt. Denn Shakespeare stand an der Stelle, wo der große Bruch geschah und Vergangenheit

und Zukunft aufklafften: die Zukunft mit ihrer Glorie und dem sie verschlingenden Gewitter. Während der Arbeit an meinem Buche las ich neben den Quellen nur Shakespeare und die griechischen Tragiker; ich machte mir das zu einem strengen Gesetz. Das Tragische widerspricht dem Christentum nicht. Auf seinem eigensten Boden, dem repräsentativsten Ort abendländischer Geschichte, war ich vor das Kreuz gelangt. Und nun enthüllte sich auch das Kreuz, das von Anfang in meinem Leben stand. An einem Neujahrstag, 1937 oder 1938, ging ich in Potsdam zum erstenmal zur heiligen Messe seit vielleicht 20 Jahren. Ich kam wie einer, der die Sprache verlernt hat, in die Heimat. Aber ich hatte die Sprache der Heimat nie erlernt, und nun, langsam, indem sich mir alle Lebensumstände umkehrten, versuchte ich sie zu lernen. Ich war auf die objektive Wahrheit gestoßen, die Wahrheit in Fleisch und Blut und zugleich göttliche, außerweltliche Macht. Sie ist für mich die einzige Macht, die ein Leben aus den Angeln heben kann.

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