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Das Fest in Rom

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Die schönste Krippe Roms ist das ganze Jahr zu besichtigen, doch man verfehlt sie leicht. Nicht die Kirche, in der sie ausgestellt ist, die ist eine der berühmtesten auf dem Forum Romanum, aber die kleine, ganz im Dunkel liegende Pforte rechter Hand, an der der Strom der Besucher vorbeidrängt, denn vor ihnen zeigt sich schon der Kerzenglanz des Hauptschiffs von SS. Cosma e Damiano - und ist man dort eingetreten, bleibt kein Gedanke mehr für anderes.

Selbst die kostbare barocke Dekoration, die das Mauerwerk des alten Templum Sacrae Urbis verkleidet, selbst die herrlichen Gemälde über den Seitenaltären werden unwesentlich durch das Mosaik in der Halbkuppel der Apsis, das einen nie gesehenen Himmel öffnet. Und aus diesem Himmel tritt Christus, überflutet von Licht, er wandelt über ein violettrotes Wolkenmeer, aus unvorstellbaren Fernen kommend, der Welt zu, erdenwärts, der Gemeinde entgegen, die ihn erwartet, um Zeuge der Übergabe des Gottesgesetzes an Petrus und Paulus zu werden: Traditio Legis Divinae. Das ist ein Anblick, der jeden, zumindest für die Zeit, die er dem Bildwerk gegenübersteht und die aus tausendfünfhundertjährigen Steinen geformten Augen dieses Christus auf sich gerichtet fühlt, gläubig macht.

Nebenan liegt dieser Himmelsherrscher, der bindet und löst und gleichsam aus jeder Pore seines sichtbar auferstanden Körpers Todesabwehr ausstrahlt, noch machtlos in der Krippe. Ein neugeborenes Kind — freilich nicht irgendeines, dafür haben die Künstler gesorgt. Es gefiel ihnen nicht, Jesus in einem zugigen Stall unterzubringen. Die heilige Fami- lie hat sich in einem verfallenen Prachtbau der römischen Kaiserzeit einquartiert, sie verbringt die Nacht der Geburt und die Tage nachher bis zur Ankunft der Könige aus dem Morgenland unter hohen korinthischen Säulen, in einer windgeschützten Nische, die wie ein Nymphäum aussieht. Warum nicht? Es scheinen sich ja nicht einmal die Evangelisten über die näheren Umstände einig gewesen zu sein. Johannes und Markus schweigen sich über sie aus; für sie beginnt die Geschichte des Jesus von Nazaret am Jordan und mit dem Ausruf des Täufers: „Seht das Lamm Gottes!“ Nur Lukas erzählt von der überraschenden Niederkunft Marias in Bethlehem. Die Herbergsuche wurde erst später rührend ausgeschmückt und dramatisiert.

Lukas berichtet nüchtern: Maria wickelt den Säugling in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in den Herbergen kein Platz war — kein Wunder, wenn eine ganze Region zur Volkszählung zusammenströnvt. Er läßt die Hirten kommen und das Kind bestaunen, aber es gibt bei ihm weder die zutraulichen Haustiere noch den berühmten wandernden Stern. Der erscheint allerdings bei Matthäus als Wegzeichen für drei weise Männer, nur führt er sie nicht zu einem Stadel oder Stall, denn Jesus kommt in diesem Evangelium im Haus des Joseph, Marias Verlobten, zur Welt: „Joseph stand vom Schlafe auf und tat, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm sein Weib zu sich. Aber er erkannte sie nicht, bis sie ihren Sohn gebar (den Erstgeborenen). Und er nannte seinen Namen Jesus.“

Man sieht, es bestand für die neapolitanischen Künstler San- martino, Schettini, Vassallo, Gori, Mosca, Celebrano, Vaccaro und für die vielen Helfer, die sie beschäftigten, kein Grund, sich für den Stall zu entscheiden, als sie im Auftrag Karls III. von Bourbon Hunderte von Figuren aus Holz und Terracotta zur Krippenkomposition zusammenstellten, zumal sie keine historische Szenerie beabsichtigten, sondern ein

Abbild ihrer eigenen Umwelt, zu der nun einmal alltäglicherweise römische Ruinen gehörten, die als Wohnungen benutzt wurden, da sie anscheinend niemandem gehörten. Sehr gut aber hatten diese Künstler den Geist des Evangelisten Lukas begriffen, der als einziger die Worte des Engels überliefert: „Siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volke zuteil werden soll.“

Als ich, es war 1957 glaube ich, zum ersten Mal in den Seitenraum von SS. Cosma e Damiano kam, nicht ganz sicher, was es dort zu sehen gibt, den ausgebleichten Zettel „Presepio Napoletano“ hatte ich nicht beachtet, lag draußen die Gluthitze des römischen Sommers. Man flüchtete in die Kirchen nicht um zu beten oder der Kunstwerke wegen, sondern weil sie angenehm kühl waren. In dieser Atmosphäre der Atemlosigkeit an Weihnachten zu denken, wäre absurd gewesen. Aber selbst wenn es kühler Spätherbst gewesen wäre, sogar in Adventstimmung hätte ich Mühe gehabt, mich zurechtzufinden und die Weltbühne, der ich mich plötzlich gegenübersah (ja, das waf sie: ein Welttheater, und nicht einmal en miniature!) mit dem Fest von Christi Geburt, wie ich es kannte, in Verbindung zu bringen.

Da lag, an eine pinienbestandene Hügelkette gelehnt, eine nächtliche Stadt vor mir, so eng und winkelig und verwirrend wie nur alte mediterrane Städte sein können, unzählige schmale, höchstens zweigeschossige Häuser, alle ein wenig verwahrlost, manchmal schief und einsturzverdächtig, in Terrassen einander übersteigend, und aus allen diesen Häusern leuchtete es heraus, jedes schien allen offenzustehen. In allen Gassen, in allen Stüben, auf allen Plätzen und auf halsbrecherischen Treppen und Steigen wimmelte es von Menschen: Kaufleute, Handwerker, Bauern, Bürger, Arbeiter, Reiche und Arme, und ganze Bataillons vitaler, grotesker, farbenprächtig kostümierter Typen. Natürlich war das Bild starr und lautlos, aber es dauerte nur wenige Sekunden, bis es in Bewegung geriet, bis die Stimmen lauter und lauter hörbar wurden, bis man in dem Trubel mitgerissen wurde.

Vielleicht hätte man als Fremder Bedenken haben sollen, sich in unübersichtliche Viertel locken zu lassen, aber man durfte unbesorgt sein, sogar die Langfinger und die ganz, ganz dunklen Existenzen waren des Weihnachtsfestes wegen gnädig gestimmt.

Weihnachten? Konnte das Weihnachten sein? Gewiß, unter den zackigen Mauern der Stadtburg lag das Kind in seinem säulengeschmückten Haus, ganz in umsorgender, warmer Helligkeit, und darüber tanzte wie ein Mückenschwarm in einem merkwürdig weißblauen Nachthimmel ein Engelschor mit weit ausgespannten Flügeln, noch höher bauschten sich ein Baldachin von ineinandergreifenden dunkelgrünen Laubzweigen und eine Soffitte aus Seide und Samt mit der Aufschrift: „Venite Adoremus. Gloria In Excelsis Deo“ — aber niemand in der ganzen Stadt schien besonders ergriffen oder in sich gekehrt zu sein. Die Obsthändler schleppten volle Körbe durch die Straßen, da wurde gefeilscht und gehandelt und viel gelacht, die Schmiede hämmerten in ihren Werkstätten, die Trödler riefen ihren Ramsch aus, da wurde gebacken und gebraten, die Sprößlinge kugelten über das Pflaster, Musikanten zogen von Taverne zu Taverne, manche führten einen Mummenschanz mit Masken auf,an den Wirtshaustischen drängten sich die Gäste, der Wein floß, und noch ein Krug, und noch ein Krug, schon sahen alle durch das flackernde Licht rotnasig und beschwipst aus.

Irgendwo versteckt in dem Gewühl glaubte man schon die drei Könige und ihre Dienerschaft zu erkennen, wie sie sich verzweifelt durchzufragen versuchen. Es lag auf der Hand, daß sie noch Tage brauchen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Man wird sie einladen, in eine Osteria schleppen, mit allen Genüssen des Landes traktieren — da hilft keine Weisheit, das Fest ist überwältigend und duldet keine Außenseiter.

Wie einen Gruß aus fernen biblischen Zeiten sah ich auch ein paar Legionäre mit ihrem Feldzeichen unterwegs — von der berühmten römischen Disziplin war wenig übriggeblieben, sie wirkten eher wie verhinderte Überläufer. Wahrscheinlich beeilten sie sich, in die Kaserne zu kommen, wo es sicher auch nicht gerade trocken zugegangen sein wird. „Venite Adoremus“? „Wenn es im 18. Jahrhundert schon Kinos gegeben hätte“, dachte ich, „hätten es sich diese Bildschnitzer und Modelleure sicher nicht nehmen lassen, eine Menschenschlange zu zeigen, die sich scherzend, einander abküssend und umarmend zur Nachtvorstellung anstellt!“

Nun, ich habe die Menschenschlange gesehen, am Heiligen Abend 1958 in Rom. Die Kinos waren geöffnet, sie waren es auch um Mitternacht noch, doch viele der Besucher rannten kurz vor dem Happyend aus den Sälen, die Kinderschar hinter sich herziehend, um die Mette zu erreichen. Dort sank man ohne langwierigen Übergang tief ergriffen in die Knie und berührte inbrünstig mit den Lippen die bleiche Wachspuppe mit goldenem Strahlenkranz und schmuddeligem Len- dentüchlein, das der Priester durch die Reihen trug. Dann wieder voll übersprudelnder Lebensfreude hinaus unter den kühlen, merkwürdig weißblauen Nachthimmel, von dem sich mit beinah unnatürlichem Ernst die pinienbestandene Hügellinie in der Villa Borghese abhob.

Es war, als hätte sich ganz Rom in die Krippenszenerie von SS. Cosma e Damiano verwandelt. Die figurenwimmelnde kleine Fläche des Kunstwerks, sechzehn Meter Länge, acht Meter Tiefe, erstreckte sich auf einmal kilometerweit von der Piazza del Popolo übers Marsfeld bis nach Trastevere, und ich war darin eine Figur wie alle anderen oder eine Figur, die den Krippenschnitzern damals noch nicht so gut vertraut war, daß sie sie ins Repertoire der grotesken Typen hätten aufnehmen können: die Figur des zuerst ratlosen, dann mehr und mehr überwältigten, schließlich hemmungslos begeisterten Touristen.

Ich muß gestehen, ich habe mich keinen Augenblick in schneeverwehte Täler, in unsere ausgestorbenen Straßen und in die enge Fa- milienrunde, zu der an diesem Abend kein Fremder, kein Nachbar, kein Freund Zutritt hat, zurückgesehnt. Und ich bewunderte diese Römer, die den Mut hatten (Mut! Freude ist Mut zu sich selber!), die Türen weit aufzustoßen und das Fest so zu feiern, als wäre wirklich jeder Familie und „dem ganzen Volke“ ein großes Glück widerfahren.

Ich spreche von vergangenen Zeiten. Vor zwei Jahren erlebte ich ein weihnachtliches Rom von bedrückender Stille, nur auf der Pjazza Navona, dem Nachtschwärmertreffpunkt, bei den geschlossenen Buden der fliegenden Händler, wo tagsüber die Neapolitaner von heute die Plastikkrippenfiguren von heute verkaufen, nur dort war eine Bar geöffnet, ein paar Reisegruppen standen beisammen, von S. Agnese in Agone her kam geistliche Musik, die Instrumente klangen erkältet, verschwommen, trist. Und ich erinnerte mich unwillkürlich, daß mir im gleichen Jahr bei einer Zugfahrt in Österreich ein südamerikanisches Paar, das schon oft unseren Kontinent bereist hatte, sagte: „Europa ist so traurig geworden.“

Zum Trost ging ich am nächsten Tag zur Krippe von SS. Cosina e Damiano und dann zu dem auf purpurvioletten Wolken schwebenden Christus, um zu sehen, was aus dem Kind geworden ist.

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