6569089-1950_11_08.jpg
Digital In Arbeit

Stadt der Jugend

Werbung
Werbung
Werbung

Die Stadt, wo wir geboren, wo wir Kinder und jung gewesen sind, ist die einzige, über die uns kein Urteil erlaubt sein dürfte, Sie verschmilzt mit uns und wird mit uns eins. Wir tragen sie in uns. Die Geschichte Bordeaux' ist die Geschichte meine Lebens und meiner Seele.

Der Fremde erwartet nun, ich werde ihm das Große Theater, ein Werk Louis', oder die Börse von Gabriel beschreiben; wo sich doch meine frühe, schmerzliche Kindheit in der Rue du Mirail begab, in der Gegend der Großen Glocke, und ihrem Jammerbild will ich nachgehn . in das Düster dieser toten Viertel. Da such ich unter Trümmern alte Fährten, die nur mir bekannt.

Die Häuser, die Straßen von Bordeaux, sie sind die Begebenheiten meines Lebens. Wenn der Zug auf der Brücke über die Garonne die Fahrt verlangsamt und ich im Morgendämmer den ungeheuren Leib der Stadt überblicke, wie er sich dehnt und in den Arm des Stromes schmiegt, dann forscht mein Auge nach der Stelle, da ein Glockenturm, eine Kirche den Platz bezeichnet, wo ich freudvoll und leidvoll war, wo ich fehlte und sann. In Bordeaux hat sich meine . Kindheit, meine Jugend von mir gelöst und ist zu Stein geworden. Es ist die Stätte, wo ich klar und rein war: das Schiff der Kathedrale steigt über Dächern empor, und eines ist darunter, das bot den Anfängen meines Lebens Schutz. Bis zu meinem zwanzigsten Jahr waren meine Geschicke von dieser Stadt und ihrer Flur umschlossen; und nie habe ich ihren Umkreis überschritten. Eine chinesische Mauer schied für uns die Guyenne von der übrigen Welt. Meine Brüder und ich, wir reisten kaum mehr, als es unsere Großeltern zur Zeit der Postkutsche getan hatten; die Eisenbahn verkehrte für uns nicht weiter als bis zu den Gütern, die mein Vater als junger Mann mühelos zu Pferd — „mit gemächlicher Post“ — aufsuchte.

Soll ich darüber klagen? Dem Kind Rimbaud genügte eine Dachkammer, um mit der Welt bekannt zu werden und die menschliche Komödie ins Licht zu rücken; und mir genügte diese schmerzlich schöne Stadt, ihr schlammiger Strom, die Rebenhügel, die sie krönen, die „Piguadas“ und Sandflächen, die sie einschließen und ihre Mauern erhitzen, um mit allem bekannt zu werden, was sich mir kundtun sollte. Wohin ich fortan gehen mochte, jenseits von Ozeanen und Wüsten, mein Honig sollte stets nach dem warmen Heidekraut im August schmecken: wenn das Läuten der Sturmglocke und der Geruch verbrannten Harzes mich in meinen Ferienaufgaben unterbrachen. Was auch an Leid meiner harren mag, ich weiß, ich hab es längst erfahren, in der tödlichen Klarheit der Tage, die mich zum Manne reiften, hier auf dieser Terrasse, vierzig Kilometer von Bordeaux, ganz in der Nähe eines Kalvarienberges. So mancher, der unsern aufsteigenden Stern bewunderte oder auch haßte, gab schmeichlerisch zu verstehen, welch schönes Schicksal da seinen Lauf genommen habe; wir aber wußten in tiefster Seele, daß alles schon vorbei war; denn unsere Kindheit in Bordeaux hatte es vorgeformt.

Eine chinesische Mauer, gewiß. Doch ich entsinne mich des Ländchens, das sie umgrenzte, als einer Welt mit vielen, sehr verschiedenen Zonen, von denen jede ihren eignen Himmel hatte, ihre Blumen und Tiere, ihre Stimmung. So war Aquitanien in meinen Augen entschieden ausgedehnter als es die gesamte Erde in denen des Helden ist, der am Morgen in Paris frühstückt und am Abend auf einem Moskauer Landeplatz aus dem Flugzeug steigt. Seine Maschine läßt den Planeten elend zusammenschrumpfen; mein Herz hingegen schuf sich in seinem engen Bereich eine ganze Milchstraße von Welten.

Schon die Stadt allein hat zu viele Gesichter, als daß ich sie aufzuzählen vermöchte. Das Viertel um die Große Glocke mit der Rue du Mirail, wo ich mit fünf Jahren bei den Schwestern war, dann in der Marienstiftung, erweckt in mir das Bild eines schwächlichen Kindes, das die Lehrer nicht liebten (denn das Kind hat es ebenso nötig, schön zu sein, wie der Mensch, wenn er geliebt sein will). Schreckliche Zeit der Lektionen, die man nicht konnte, der Aufgaben, die man nicht fertigbrachte; der Angst, befragt, an die Tafel gerufen zu werden, den Ball im Spiel mitten ins Gesicht zu bekommen; der Qual von frostverbrannten Füßen in groben, feuchten Schuhen — die man im Mannesalter unerträglich fände —: und der endlichen Erlösung um halb sieben. Heute noch geschieht es mir, daß ich beim Schlag dieser Stunde die Heraufkunft des Abends begrüße, die mir ehedem die Grabbinden löste und den Stein von meiner Gruft hob: ich gehe wieder unterm Regen oder unterm Sternenlicht die Rue du Mirail hinauf, den Korso Victor Hugo (meine Eltern nannten ihn noch den Ringgrabenkorso), die Rue Duffour-Dubergier; knapp bevor ich zum Pey-Berland-Turm und zur Kathedrale kam, hob ich mich auf die Fußspitzen, um eine Hausglocke zu erreichen, die meiner Großmutter, zu der meine Mutter als Witwe gezogen war. Im Treppenhaus gefiel mir der Gas- und Linoleumgeruch besser als jedes Parfüm; von Stufe zu Stufe näherte ich mit meinem Glück, meiner Liebe, meiner Mutter, dem liegengelassenen Buch, der langen Mahlzeit unter der Lampe, dem gemeinsam gesprochenen Gebet, dem Schlaf.

Innerhalb dieser chinesischen Mauer, die für mich die Guyenne umgab und sie von der übrigen Welt absonderte, umzirkte der Katholizismus eine Sonderwelt, außerhalb derer es mir den Atem verschlagen hätte. Gab es je ein Kind, das der Stand der Gnade ausschließlich beschäftigt hätte? Und nicht nur in mir, auch bei den anderen Menschen: einer meiner stärksten Kindheitseindrücke rührt von der Sitte meiner Mitbürger her, für ihre Faschingspossen nicht etwa die Fastnacht zu wählen, sondern gerade den Aschermittwoch (einem alten Brauch gemäß, der wollte, daß man am ersten Tage der Fastenzeit zu magerer Kost nach Cauderan fuhr, welche Vorstadt iiirer Weinbergschnecken wegen berühmt war). An diesem Bußtag war jede Maske in meinen Augen ein Mensch im Stande der Sünde. Ob man Fenster oder von der Menge auf dem Korso der Intendantur herumgestoßen, fesselten mich die Schauwagen und der Mummenschanz weniger als das Schauspiel dieser ewiger Verdammnis geweihten Wesen, deren Kartonfratzen den Himmel beleidigten. Als Weiber verkleidete Männer hoben ihre Röcke und hockten zwischen den Schienen der Straßenbahn scheußlich nieder. Dominos, in Fiaker verstaut, bombardierten uns mit Orangen und rollten gen Cauderan... Cauderan! Cauderan! Vorstadtparadies der Masken — wo doch inmitten der großen, staubigen Bäume von Grand-Lebrun mein frommes Gymnasium langsam erstanden war! Ein Omnibus las mich vor dem Hause pünktlich um sechs Uhr vom nassen Gehsteig auf und brachte mich zu meinem großen Schulschiff, das reglos und hell erleuchtet im schwarzen Dämmer lag. Täglich geschah es so, sogar am Sonntag. Was waren doch diese Sonntage: Frühmesse mit Kommunion, Hochamt, Katechismus, Zusammenkunft der Laienbrüder; dann, nach dem Mittagessen, Vesper und sakramentaler Segen. Darüber war es halb vier Uhr geworden; wir befürchteten an den Tagen der Stierkämpfe, den ersten Stier zu versäumen. Der Himmel bedeckte sich; würde das Gewitter nicht vor dem Gefecht losbrechen? Während der Vesper war es unmöglich, durch die Kirchenfenster das Heraufsteigen des Unwetters abzuschätzen; wir wußten bloß, daß die Sonne nicht mehr schien.

Doch war es nicht allein der Aschermittwoch, der mir den Stand der Gnade oder der Sünde fühlbar machte. Da gab es auf dem Rautenhainplatz zur Zeit der Jahrmärkte im März und Oktober verdächtige Buden, die mich erregten: über ihrem Eingang stand ein einziger weiblicher Vorname. Aber selbst wenn man sich gar nicht um derlei Schlechtigkeiten herumtrieb, so blieb immerhin der Eindruck jenes „Lustspieltheaters“ haften, dessen Darbietung lebender Bilder wir eiligst verlassen mußten. Auch der Reitsaal war solch ein Ort; von ihm und seinen fragwürdigen Genüssen erzählten die Mitschüler, die wir die „Schmutzkerle“ nannten; zu einer Tänzerin des Zirkus Plege entbrannten einige von uns in heftigster Leidenschaft und die Lehrer entdeckten ihr Bild in Wörterbüchern.

Ja, während ich in Bordeaux verzweifelt nach dem Glück ausschaute, erwog einer mein Dasein. Hätte ich damals in mich zu blicken gewußt, ich hätte mein künftiges Geschick gewisser lesen können als in den Linien meiner Hand. Die Tugenden und Laster des Jünglings gleichen den Wesen der ersten Schöpfungstage, denen Gott noch nicht Namen gegeben hatte. Alle Grundstoffe waren da, und aus ihrer Mischung konnte kein andres Geschöpft entstehen, als das du heute bist.

Jedes menschliche Dasein begreift in sich eine Offenbarung; und wie in der christlichen Offenbarung, so erhalten Prophezeiungen erst ihren Sinn, wenn der Ausgang sie erhellt. Bordeaux erweckt in dir eine Zeit deines Lebens, da warst du von Zeichen umgeben und wußtest sie nicht zu deuten. Da rührte die mütterliche Stadt mit sanftem Finger an alle die schmerzenden Stellen deines Herzens und deines Fleisches, damit du auf der Hut seiest und dich in acht nähmest vor dem Geschick: sie hat dich in der Einsamkeit geübt, im Gebet und in mancherlei Entsagung, fn Voraussicht kommender Tage gab sie dir Gesichter die Fülle, wunderliche und liebliche, Landschaftsbilder, Eindrücke und Gefühle, kurz alles, wessen man zum Schreiben bedarf.

Du hast ihr mit nichts als mit Beleidigungen heimgezahlt, doch sie vergibt dir; vielleicht sogar bestimmt sie dir an einer Wegkrümmung des Volksgartens eine Büste, wie so manchem ihrer Söhne geringen Ruhms, Maxime Laianne oder Leon Valade etwa. Und zwischen zwei Zügen kommt dann einer deiner jungen Pariser Freunde zur Enthüllung, schon angegraut und berühmt, und verliest eine Rede; er steht unter einem Schirm, der sich drei Sekunden lang auf der Leinwand der Wochenschau bewegt. Wenn sich dann die kleine Gruppe zerstreut hat, bleiben nur die Spatzen, die dein Ebenbild mit weißen Tränen bedecken, und die Kinder, für die du nichts weiter bist als ein gutes Versteck.

(Vorabdruck aus dem Werk Francois Mauriac: „Anfänge eines Lebens.“ Mit Bewilligung der Amandus-Edition, Wien)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung