6920252-1981_41_26.jpg
Digital In Arbeit

Notlandung im Entlebuch

Werbung
Werbung
Werbung

Es begann mit einem Helikopter… Aber wenn nicht der Geist des Simon mir verriete, daß ein Jahr später eine Frau in einer Jauchegrube vergeblich nach Luft schnappen würde und daß ein junger Hugo Emmenegger und seine Schwägerin …

dann könnte ich kaum schreiben: es begann. Mein Beamtenleben würde weiterhin ein dienstleistendes, treues und gehorsames bleiben, also keines, das den Satz „etwas beginnt" verursachte.

Es begann mit einem Hubschrauber.

Hinter dem Pilotensitz strafften Aluminiumstangen feldgrüne Leinwand zu einer Bahre, auf der ich mich trotz dem Bauchschuß wälzte. Die Verletzung war für eine Sanitätsübung erfunden und auf einer Etikette am Handgelenk beschrieben. Die Flügelblätter des Helikopters jagten Wind in die Wuschelköpfe herumstehender Schüler, unter die Röcke zweier kinderwagenschiebender Hausfrauen und in die übungsbestimmenden Blätter des Adjutanten. Dann hob oder hub die Schraube uns hoch über die Stadt Luzern, auf die der HeU nur noch mit dem Schwanz zeigte, und wir schwangen uns der Drei-Uhr-Nachmittag-Sonne entgegen. Ich löste die Gurte und drehte mich auf die fingierte Öffnung im Bauch, wo wegen des Einschusses Därme heraus- (für mich hinaus-)quollen. Ob das Geschoß durch- oder querschlug, stand nicht auf der Etikette. Durch das bauchige Fenster holte ich eine Geographiestunde über den Kanton Luzern nach, lernte die Kleine Emme kennen, die vermutlich aus politischer Überlegung, die letzten zwanzig Kilometer, bevor sie von der großen Schwester Reuss einverleibt wird, von Westen nach Osten abwässert Wie der Fluß in Wolhusen ein Knie machen kann, so konnte es auch der Hubschrauber und schraubte uns gegen Süden durch dort beginnende Entlebucher Luft. Kaum wollte uns rechter Hand der Kirchturm von Doppleschwand seine Standfestigkeit beweisen und unter uns der Weiler Ebnet kirchenlos einen Willkomm bieten, als wir, ohne Absicht des Piloten, ein paar Meter Tiefe gewannen und der Motor zwei Sekunden lang asthmatisch rotierte. Meine Gedärme hätten vergessen, hinauszuquellen. Ruckartig drehte ich mich auf den Rücken.

Für Literatur bringt man Opfer. Um einen Roman schreiben zu lönnen, ließ sich der Schweizer Autor auf einen halben Lehrauftrag setzen. Die Anfänge des nun abgeschlossenen Manuskripts .Bloße Einschnitte" ffnanzierte Luzern — mit einem Förderpreis.

„Matthäi am letzten! — Abends, wenn ich schlafen geh', ich Händ' und Fuß' zu Gott erheb …" - Wollte ich Ueber auf den Rücken fallen? Beim Einschieben der Bahre in den Flugapparat hatte ich noch durchschnittlich schweizerisch an die winzige Absturzgefahr gedacht, an den Beamten Nadelkopf, der im Heustock nicht gefunden würde.

Der Pilot gehorchte vermutlich der Weisung, dem westlichen Abhang der Bramegg entlangzufliegen. Noch zweimal wollten meine Eingeweide himmelfahren, denn noch zweimal mußte der Pilot ein Tiefe-Gewinnen seiner Maschine über sich ergehen lassen. Er fingerte am Kehlkopf-Mikrophon und entschloß sich dann, nicht mehr anzupeilen das geheimnamige Militärspital, worüber ich, unter Dienstgeheimnis Sitzender, wie verlautet wurde, nichts verlautbaren darf.

Der Entlebucher Kirchturm bereitete sich, wie immer, wenn militärische Apparate in der Luft dröhnen, auf eine

Achtung-Stellung vor, aber unser Apparat kümmerte sich nicht darum und ging oder kam in einer Rodung auf der Schattseite des Tales nieder. Auf den Etiketten an den Handgelenken miiß-ten keine Verletzungen nachgetragen werden. Wir drei Verletzten — einer mit einem Kopf streif schuß, der andere auch mit Bauchschuß (man merkt nun den militärischen Charakter der Übung) — durften allein aussteigen. Die Gaze ließen wir zum Teil liegen. Die Funksprüche des Piloten wurden wieder verstanden.

Der Landeplatz lag hinter der Wetterseite einer Scheune, wo etwa, wie ich schätzte, zehn Haupt Vieh einem Bauern zuviel zum Sterben einbrachten. Auf der untern Seite der Scheune schützten zehn Meter breit alte Bretter und Eichenschwellen Kinder vor einem letzten Bad im Jauchekasten. Gegen den Berg hin streckte sich trapezförmig eine Einfahrt, und darauf räkelte sich sonnenbadend ein junger Mann mit Krauskopf. Seine Kleider waren zu einem Kissen zusammengerollt Er drehte nur das Gesicht — die linke Hand als Blende davor — gegen uns, und seine Augen verrieten, daß er sich auf eine wilde, blinde Schießerei gefaßt machte, obwohl er wahrscheinlich hier oben no.ch nie Spiele in Feldgrau gesehen hatte.

„Ich muß vermutlich der Schwester heute schon den Patron Hugo empfehlen."

„Das schöne Kind ist deine Schwester?", rutschte es mir hinaus.

„Von hier aus siehst du das graue Haar nicht."

„Gehört der Hof euchr

Hugos Schwester Annemarie hatte vor sechs Jahren in der Kapelle auf dem Steinhuserberg, deren Gruß wir beim Vorbeifliegen nicht abgenommen hatten, auf die verschiedenen Willst-Du und WoUt-Ihr mit einem damals noch überzeugten Ja geantwortet und war mit Hans Felder auf die Schwändi gezogen. So heißt also die Liegenschaft, die ich eher Rüti- oder Reutimatt nennen würde; denn keine Nachbarn rammen hier ihre Zaunpfähle diesseits der Marksteine ein, weil ringsum Wald die Schwändi lebendig einfriedet — Welch ein Wort, das widerstandslos durch meine Feder ging! Einfrieden, Einfriedung. Einzäunen heißt einfrieden. Selig den Eingefriedeten …

Die zwei Knöpfe, die vorher durch den brustbreiten Spalt geschoben worden waren, fuhren mit einem Kinderroller und einem Plastiktraktor an uns vorbei zum Heli hinüber. Ihre Zungen und Lippen spielten die Rolle des Motors.

„Das sind die zwei Ältesten von Annemarie. Der Kleinste liegt noch in der Wiege. Die Schwriegermutter … ach! Es tut mir leid. Das kann dich ja nicht interessieren. Du fliegst in zwei, drei Minuten wieder davon."

Aber der fremde Johannes, vor wenigen Minuten aus dem blauen Himmel gelandet, fragte weiter. Hugo nannte mich übrigens von Anfang an

Johannes und nicht wie die Kollegen im Bundeshaus, die mich etwa jeden Monat einmal mit einem Gruß überfallen, daß es von allen Wänden des heiligsten Gebäudes der Confoederatio Helvetica hallt: Hannes, Schang und Hänsu, Hans, Jean und Tsehoni, Hausi, Schängu und Tschovanni, und daß als Sopran aus meiner stimmbruchlosen Zeit Kinderrufe nachhallen: Hansi, Hansel und Hänschen, Hänsili, Hansel und Gretel, was Hänschen nicht lernt, lernt Gretchen nimmermehr. — Zu meinem Namen gilt noch zu sagen: den zweiten, Maria, verdanke ich meinen drei älteren Geschwistern, die zwischen den Beinen etwas vorwiesen, womit sich kein Mädchenname reimte, obwohl Mutters neunzig Kilogramm Kerzenwachs, sich selbst verzehrend, vor jeder Geburt in allen Kapellchen der Innerschweiz für ein Mädchen gebetet hatten, diesen drei Brüdern, die zum Leidwesen der Mutter keine Schwestern geworden waren, verdanke ich meinen zweiten Namen: Maria. Auch vor meiner Geburt hatten die Kerzen also vergeblich gebetet Ich stelle mich aber meistens, obwohl drei Namen Degeneration verraten, mit dem dritten vor: Simon. Johannes Maria Simon Schöpfer. Seit einigen Wochen setze ich hin und wieder den letzten Namen voran, damit meine Initialen, J. M. S., nicht verwechselt würden mit denjenigen eines Dorfschreiberlings, von dem mehr gelesen und verfilmt wird, als er geschrieben hat — Und wenn das Gehirn Aufmerksamer auf Simon, den Kreuzträger, aufmerksam macht, füge ich zur Vorstellung unauffällig bei: Simon, der Magier.

Einen Hühneraugenblick lang hatte ich es bedauert, daß sich hier kein Bauernmädchen auf der Einfahrt sonnte. In dieser militärischen Montur, die man am Dienstanfang gegen die eigene Haut eintauscht, hätte vielleicht sogar mein Beamtenmut zu den üblichen direkten Fragen ausgereicht Aber Hugo lag nun da und sagte, als ob er für sich spräche, daß man doch im Militär auf solche Augenblicke warte, auf solche Notlandungen, wo man ohne Schuld vom Erdboden verschwunden sei. Ich würde mich sicher weigern, mit einer solchen Maschine weiterzufliegen. — Ich mußte vor mir zugeben, daß bei unserer Notlandung sehr viel Routine und sehr wenig Not gewesen war, doch einen Atemzug lang begrüßte ich Hugos Vorschlag, wähnte mich in einer vorher nicht gehabten Freiheit, sah den Armeejeep, der mich spät in der Nacht abholen würde, aber sah beim nächsten Atemzug auch den seitensprungarmen Beamten, der mit allergeringstem Widerstand den Heli erklettern würde. Denn was wollen wir Bundeshauspudel denn anderes als in Sanftmut dahingehen?

In Hugos Atem hing ein unaufdringlicher Geruch nach Branntwein.

Ich sah jedoch Hugo an, daß er kaum je gebrannte Wasser pur genossen hatte, wenn man überhaupt das Wörtchen pur dem gegenwärtig erhältlichen

40prozentigen Zeugs beizufügen wagt. Hugo begann mich zu fesseln, und ich begann, ihn durchschauen zu wollen: Ich stellte fest, daß Hugo auch ohne Alkohol und Simon, den Magier, keine Umschweife mag. Wird er unterbrochen, wenn er einem Thema nachhängt, so schleicht er nicht heiß darum herum, bis er wieder anknüpfen kann. Er fährt alltäglich fort. Gibt es keine Nagelschmiede mehr, so gibt es für ihn keine heißen Eisen. — Ich frage mich, frage Simon, den Magier, ob Hugo auch dann mit seinem Thema weiterfährt, wenn es die Hinzukommenden kalt und unbeteiligt läßt

Hugo nannte mich nicht Simon, nannte mich Johannes und erzählte mir, den es nicht kalt ließ, warum er auf diese Einfahrt zu hegen kam.

Dann wollte er doch abschweifen. Er wolle sich mir nicht aufdrängen. Ich widersprach. Ich sei es doch, der sich auf seinen Ruheplatz gedrängt hätte, ich sei in seinen Gedankengängen notgelandet Er müsse in diesen Gängen bleiben. Vermutlich würden sich viel mehr Menschen, als man gemeinhin nimmt, in ähnlichen Gängen aufhalten, wenn sie ahnungslos von einem Helikopter aus der Vogelperspektive angepeilt würden.

Hugo nickte und blieb in seinen Werktagsgedankengängen, wo er vor jneinem Anflug gewesen war…

Die Vorstellung, die Begrüßung lief vfie Harz an der Rottanne. In jedem Satz, womit ich die Verlegenheit verlegen wollte, steckte das Wort „Du", und „Sie" konnte ich Dreiunddreißigj ähriger im Kriegsschmuck einem gut Zwangzigj ährigen im Sonnenbad nicht sagen, und als mir ein Es-Satz nur mit Pausen über die Zunge ging und in einem Nebensatz erst noch die Sonne schien, setzte ich mich rechts von ihm nieder und streckte meine Hand hin:

„Johannes. Damit's einfacher geht"

„Hugo. Ist mir auch lieber."

„Hugo? — Dich brauche ich gerade."

Er zog das Kinn nach unten drük-kend zurück und schob die Brauen vor.

„Hugo. Patron gegen Kopfweh."

„Wußte ich nicht", lachte er auf.

„Patron aller Beamten", setzte ich fort.

„Gut, daß ich das erfahre. Ich werde den Hugo beim nächsten Kater testen. Und ihn auch meiner Schwester empfehlen."

Er fragte nicht nach meiner Anspielung auf die Beamten und auch nicht nach dem Sinn oder Unsinn unserer Landung. Meine beiden Mitverletzten — Beat Duss trug immer noch den Kopfverband — schlurften über den Hof gegen das Bauernhaus, das auf seiner Front drei Fensterreihen erlaubte, mit der Nachmittagssonne zu liebäugeln, und das aus der seitlichen Engangstür gemäß Brauch eine Magd mit Mostkrug in der Hand hätte entlassen sollen, aber nichts von dieser Sitte wissen wollte; denn statt einer Magd — womöglich noch mit Heu im Haar — bog um die untere Ecke mit einem Waschkorb und ohne Krug im Arm eine schlanke, junge Frau, die von den zweien in ein Gespräch über eine alte Sitte verwickelt wurde. Bald darauf bog die Frau wieder um die gleiche Ecke und kam mit einer Flasche voll Birnenmost zurück. Der Most mit Essigstich bewies den beiden Milizen, daß das Hemd näher am Hintern liegt als der Rock, aber die zwei tranken, weil es ein Brauch ist, ohne die Lider zusammenzupressen. Die Hand der Frau hob sich an Beats Kopfverband, worauf die Haustür sich brustbreit öffnete und jemand, der den brustbreiten Spalt schon mit einer Brust ausfüllte, zwei Kleinkinder nach draußen schob und die Tür wieder •schloß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung