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Der Kokolcl

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Die Damen der Gesellschaft in Moskau, London oder Belgrad hätten dieses merkwürdige schwarzbehaarte Wesen, das da im Gebüsch herumkrebste, wahrscheinlich für ein Tier des Waldes gehalten. Es kroch um einen Steinbrocken herum, schnüffelte im Moos, schnaufte und nieste, scharrte mit den vorderen Gliedmaßen in einem Laubhaufen. Dann richtete es sich auf wie ein Mensch und gab Laute von sich, die wie das Schluchzen eines Kindes klangen.

Die Landschaft hatte keine besonderen Schönheiten aufzuweisen: Buchen, einige Fichten, einige helle Birken und ein dichtes Unterholz. Kein Mensch hätte sie freiwillig als Wohnsitz gewählt, denn kein Ackerland lag in der Nähe, kein See oder Fluß, der einen Anreiz dazu hätte bieten können.

Unt. doch wanderten drei Männer hier umher, Männer die einander nicht kannten und die doch von einander wußten, daß sie da waren, da waren als Gattung, als Begriff, als Soldaten dreier Staaten,, die dh-.sen neuralgischen Punkt im Walde, diese Ecke, wo drei Sphären aufeinanderstießen, zu bewachen hatten: Ein Russe, ein Tito-Soldat und ein Tommy. Sie waren nicht sonderlich vergnügt und einer verfluchte im stillen den anderen, dessen Anwesenheit die seine erst notwendig n.achte. Jeder von ihnen war bereH, dem inderen das Lebenslicht auszublasen, faüs es oiesem einfallen sollte, das fremde Territorium nvt feindlichen Absichten oleT auch ohne solche zu betreten. Es konnte in jeder Sekunde der Fall eintreten, daß eines der Länder mit einer Invasion begann. Es war zwar wenig wahrscheinlich, theoretisch aber war es immerhin möglich, sonst hätte die Anwesenheit der Soldaten in dieser gottverlassenen Einöde keinen Sinn gehabt. Keiner der drei bis an die Zähne bewaffneten Männer war jemals auf den Gedanken gekommen, daß die Befehle seines Leutnants, Hauptmanns, Majors, Obersten und so fort bis zum General und zum Kriegsminister etwa sinnlos sein könnten. Glücklicherweise waren den drei schlechtgelaunten Männern solche Dinge niemals eingefallen, denn wo käme sonst die Ordnung der Welt hin, wenn schon einfache Soldaten zu denken begännen.

Der Engländer hörte soeben auf, den sehr alten Schlager zu pfeifen, der ihn ein halbe Stunde lang beschäftigt hatte. Sein eigenes Pfeifen ärgerte ihn. Der blaue Himmel ärgerte ihn, der Wald ärgerte ihn, die ganze Welt war ihm ein Ärgernis. Ein jagdbares Tier, ein Bär oder Wolf, ein Erdbeben, die Invasion — kurz, jede Abwechslung wäre ihm lieber gewesen als diese Öde, dieses Nichts, dieses Gebirge von Langeweile. Ein Rascheln im Gebüsch ließ ihn hoffnungsvoll zusammenzucken. Es raschelte abermals, er riß das Gewehr von der Schulter. Er war ein -mutiger Bursche, er dachte nicht an Deckung, nicht an den Schutz seiner Person, er dachte nur an das, was im Gebüsch raschelte. Die Zweige teilten sich und das Wesen kroch hervor. Der Tommy nahm das Gewehr hoch und brachte es in Anschlag. Es war kein Fuchs, es war kein Has, es war ein zottiges Etwas, das sich jetzt aufstellte und ihn aus funkelnden Knopfaugen anstarrte. Er spähte über den Lauf seiner Büchse und wußte jedenfalls, daß es nicht der Beginn der Invasion war.

Das Wesen bewegte sich nicht. Es war ein Kind. Ein schmutzstarrendes, verwildertes, mit Laubblättern und dürren Grashalmen behangenes erschrockenes Kind, das keinen anderen Gedanken hatte, als wie es sich am besten aus dem Staub machen konnte.

Der Tommy ließ das Gewehr sinken und lachte.

„How do you do?“ fragte er höflich, wie es in England Sitte ist. Das Kind antwortete nicht, es verstand diese Sprache nicht. Wer weiß, wo es herstammen mochte, vielleicht verstand es überhaupt keine Sprache mehr. Es bewegte langsam den rechten Fuß und machte ersichtlich Anstalten, zu verschwinden.

„Komm her, du Kobold“, rief der Tommy und kramte in seinen Taschen nach Cakes und Schokolade. Er hatte die besten Absichten der Welt und ging einen Schritt auf das Kind zu, Da machte es einen schnellen Satz und war im Dickicht untergetaucht. Wie ein Blitz sprang der Tommy nach, aber er hatte wenig Glück. Er hÖTte noch ein Weilchen dürre Zweige knacken, dann hörte er nichts mehr und mußte sich ruhmlos zurückziehen. (Es war nur gut, daß kein Berichterstatter einer östlichen Zeitung sein Unternehmen be-. obachtet hatte, wer weiß, welch eine hochpolitische Reportage daraus geworden wäre, Anlaß genug, d'e Vergangenheit und Gegenwart der britischen Nation zu schmähen.) Zu dieser Zeit hockte das Kind mit klopfendem Herzen und angstvoll aufgerissenen Augen hinter einem moosigen Baumstamm und lauschte in die Stille. Allmählich beruhigte es sich und krebste weiter durch das Unterholz, geradewegs dem Tito-Soldaten, einem riesigen wildbärtigen Bosniaken, in die Arme. Der Mann hockte auf einem Stein, hatte seine Puschka auf den Knien liegen und drehte sich eine Zigarette, die er sich, als sie fertig war, zwischen die Lippen klebte und anbrannte.

Er sprang auf, wie von einer jener berühmten und für spannende Schriftsteller unentbehrlichen Tarantel gestochen, als der Waldkobold, über eine Wurzel stolpernd, ihm vor die Füße purzelte. Im ersten Schrecken — er war nicht ängstlich, nur abergläubisch — fällte er das Bajonett gegen das seltsame Wesen, dann knurrte er ein Lachen, daß sein Bart wackelte. Das Kind war sofort wieder auf den Beinen und sauste davon. Der Bos-niak war ein hartnäckiger Verfolger. Keuchend jagte er dem Wesen nach, seine Augen funkelten und er griff nach dem siebenschüssigen Trommelrevolver, den er im Gürtel trug — erschrecken Sie nicht meine Damen —, er griff nach dem schweren Trommelrevolver, nicht weil er das Kind mit sieben Kugeln durchlöchern wollte, denn auch Balkanmenschen tun solches im allgemeinen nicht, sondern nur, weil er ihn beim Laufen behinderte, und schob ihn zur Seite.

Aber es half alles nichts. Das Kind war rascher und vor allem geschickter, es schwindelte sich durch das Unterholz wie ein Schatten, und der Tito-Soldat hatte das Nachsehen.

Ärgerlich murrend kehrte er zu seinem Platz zurück; er hätte das Kind gerne in seine Hütte genommen und ihm zu essen gegeben, denn es sah erschreckend mager und verhungert aus.

Das Kind, das keine Ahnung hatte, in welch hochbrisanter Umgebung es sich nahrungsuchend herumtrieb, floh sein eigenes Glück und lief wie ein armer gejagter kleiner Hase weiter. Es wußte nicht, daß es soeben zwei weltpolitische Zonen durchlaufen, daß es bereits in die dritte hineingehoppelt war, in die dritte, in der sich sein Schicksal aufs entsetzlichste erfüllen sollte.

Der Russe, der, wie es sich gehörte, ein getarnter Russe war und in einer ungarischen Uniform steckte, ging mit kurzen, drohenden Schritten auf und ab. Er trug kein Armeegewehr wie der Tommy, er trug keine alte Puschka wie der Tito-Soldat, er hatte eine Maschinenpistole lässig über die Schulter gehängt, eine funkelnagelneue Maschinenpistole, mit der er imstande war, den Leib eines Feindes in wenigen Sekunden mit Stahlmantel-, geschossen vollzijpumpen.

Der Russe war gebaut wie ein junger Stier, weh dem,, der in seine Finger geriet. Er war glattrasiert, aber er hatte breite asiatische Backenknochen, die seinem Blick etwas Tückisches verliehen. Auf und ab, auf und ab ging sein Schritt, heftig, drohend, gefährlich, ein Schritt, hinter dem die Kraft halb Asiens lauerte.

Er wendete sich blitzschnell um, als er das Rascheln hörte, eine elastische, instinktsichere Bestie. Sollte der Engländer ... dachte er ... oder sollte Tito, der Verräter... Er verschmolz mit dem nächsten Gebüsch, lautlos, wurde unsichtbar für jedes Menschenauge. Er wartete mit der Sicherheit dessen, der weiß, daß seine Stunde kommen wird.

Das Kind, immer noch auf der Flucht vor dem Bosniaken und rasend vor Furcht, kam wenige Sekunden später auf die Lichtung herausgeprescht. Der Russe kniff die Augen zusammen und hob seine Waffe. Das Kind war hinter einem einzeln in der Lichtung stehenden Buschwerk verschwunden, er hatte nicht erkennen können, was für ein Wesen es sein mochte, das da in seinen Bereich eingebrochen war. Ein Späher, ein Spion? Er hielt den Lauf seiner Maschinenpistole erhoben und auf das Buschwerk gerichtet. Wenn das Wesen links oder rechts hervorkam, genügte ein Fingerdruck, es unschädlich zu machen.

Das Kind inzwischen stand vor dem Gebüsch und blickte sidi verzweifelt um. Nein, kein Verfolger war ihm mehr auf den Fersen. Erleichtert ließ es sich nie? der und zog eine weiße Rübe hervor, an der es hungrig zu knabbern begann. Es dachte nicht an den Vater, dessen es sich nicht mehr zu erinnern vermochte, es dachte auch nicht an die Mutter, von der es allzu früh getrennt worden war, es dachte nur an den Hunger, der in den Eingeweiden wühlte. Es fürchtete die Menschen, von denen es nichts Gutes erfahren hatte, und trieb sich eben wie ein wildes Tier herum, von Beeren, Pilzen, Vogeleiern und kleinen Diebstählen in nächtlichen Bauerngärten lebend.

Traurig beobachtete es nun, wie die Rübe immer weniger wurde. Als es das letzte Stückdien verzehrt hatte, erhob es sich seufzend, um am Waldrand nach Himbeeren zu suchen. Die meisten waren zwar noch grün, aber es war immerhin besser als nichts.

Jetzt war der Augenblick des schlauen Russen gekommen. Er hatte riditig gerechnet und sollte auf seine Kosten kommen, ohne auch nur einen überflüssigen Schritt getan zu haben. Er sah, wie sich ein dunkler Schatten von dem Gebüsdi löste, welches er die ganze Zeit über ruhig im Auge behalten hatte. Sein rechter Zeigefinger krümmte sich und berührte den Abzug seiner Waffe. Bevor er aber noch den letzten Druck ausgeübt hatte, als dessen Folge das Kind durch eine genau gezielte Feuergarbe zerfetzt worden wäre, spürte er etwas wie das Prickeln des Instinkts im Innersten seiner Seele. Er riß die Augen einen Augenblick lang weit auf. Kopfschüttelnd ließ er die Maschinenpistole wieder sinken. Das war kein Spion, kein Späher, kein Tier, das war ein zottiges, dreckiges Kind, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Und es kam geradewegs auf ihn zu. Seine asiatischen Augen zogen sich wieder zu Schlitzen zusammen. Er brauchte nichts zu tun, als zu warten. Er legte die Maschinenpistole neben sich ins Gras, damit er die Hände frei bekam und sich ohne ein Hindernis auf das Kind stürzen konnte.

Eine Minute später erfüllte ein schriller kleiner Schrei die Lichtung und wurde von den Baumkronen verschluckt, weder der Tommy noch der Bosniak hörten etwas. Das Kind wand sich unter den breiten, ungefügen Fäusten des Russen, es stieß mit Händen und Füßen um sich, aber umsonst. Er zerrte es mühelos ins Gebüsch. Dort nahm er seine Waffe auf, dann zerrte und schob er es weiter zu d£m Zelt, wo er sich unterzustellen pflegte, wenn es regnete. Beim Zelt angelangt, hielt er es mit der Linken fest, mit der Rechten griff er unter die Zeltbahn und holte einen langen, giftscharf geschliffenen und blitzenden Dolch hervor. Das Kind schloß, halb tot vor Entsetzen, die Augen und rührte sich nicht mehr. Erschrecken Sie nicht, meine Damen! Dieser Russe benutzte den Dolch keineswegs dazu, das Kind abzuschlachten und wie ein Reh oder einen Hasen auszuweiden, denn Russen, auch wenn sie noch so breite Backenknochen haben, machen so etwas ebensowenig wie Bosniaken, selbst wenn es Tito-Soldaten sind sondern er schnitt bloß höchst unvorschriftsmäßig ein Stück Zeltleine ab. Mühsam genug, denn mit einer Hand mußte er das Kind halten, formte er eine Schlinge, legte sie dem Kind um den Leib und band es dann fest und sicher an den nächsten Zeltpflock. Als dies geschehen war, lächelte er heimtückisch und stemmte die Hände in die Hüften. „Proklatsdioe ctvorenie“, sagte er. Was er sonst noch sagte, hat keinen Sinn, wiederzugeben, weil Sie es ja wahrscheinlich doch nicht entziffern oder übersetzen können. Er stemmte also die Hände in die Hüften und sagte etwas auf Russisch. Das Kind zitterte und duckte sich. Dann ging er ins Zelt und holte Proviant hervor: Fleisch und Brot. Er legte beides vor das Kind hin und entfernte sich hinter das Zelt. Auch ohne Psychologie studiert zu haben wußte er, daß es zu verschüchtert war, um in seiner Anwesenheit etwas zu nehmen.

Als er nach einiger Zeit wiederkam, waren das Fleisch und das Brot verr schwunden und das Kind bemühte sich eben, die Schlinge aufzuknüpfen, die es an den Pflock fesselte. Der Russe lachte und sagte wieder etwas. Das Kind sah ihn an, aber es zitterte nicht mehr.

Nun geschah, was, seitdem die Welt besteht, wohl schon öfter vorgekommen ist. Ein fremder Mann setzte sich zu einem armen, fremden Kinde, schnitt Grimassen und machte kleine Spaße. Er zog so etwas wie ein Sacktuch hervor und begann eine Art von Puppenspiel. Nach fünf Minuten hatte er gewonnen. Das Mädchen breitete die dünnen Ärmchen aus und lachte, daß es silbern durch die Lichtung schallte.

Der Russe knurrte befriedigt. Er zog das Mädchen an sich, das sich nicht mehr wehrte, griff in die Tasche und holte einen Kamm hervor. Das wurde eine ziemlich harte Arbeit, aber nach einer Weile war die Spreu vom Weizen geschieden, und es zeigte sich, daß der Kobold eine Flut hübscher, dunkelbrauner Locken besaß. Es ereignete sich noch einiges an diesem Nachmittag, wobei Wasser aus einer Feldflasche und ein Handtuch die Hauptrolle spielten. Und als die Ablösung kam, hatte sich der Waldschratt in ein lustiges Mädelchen verwandelt, das keine Lust mehr zum Ausreißen zeigte.

In der Unterkunft gab es ein großes

Aufsehen, als der Posten seinen Fang einbrachte. Die Leute musterten und bestaunten das Kind. Jeder gab etwas, der eine ein paar Stück Zucker, der andere ein buntes Tuch, der dritte eine hübsche, geschnitzte Schachtel.

Schließlich ging der Posten mit dem Mädchen zum Leutnant. „Ich hab da dieses Kind gefunden“, sagte er, „es hat wahrscheinlich niemanden mehr auf der Welt und treibt sich allein im Wald herum. Ich schick es heim zu meiner Frau, wenn es geht, ilst das möglich?“

Der Leutnant betrachtete das Mädchen.

Dann kniff er es in die Backe und sagte: „Warum soll es nicht möglich sein? Wir werden einen schriftlichen Antrag stellen.“

Und so geschah es. Eine Woche später wurde dem Mädchen eine hölzerne Tafel um den Hals gehängt, mit einem für westliche Augen unlesbaren und für westliche Zungen unaussprechlichen Text. Und das K;nd begann eine Reise, die es sieben Tage lang nach dem Osten führen sollte, in einen sehr entfernten Teil des russischen Reiches.

Bedenken Sie, meine Damen, nach Rußland ging di Fahrt, ins innerste Rußland! Wie entsetzlich!

Ungefähr zur gleichen Zeit legte in Cherbourg ein großer Dampfer an. An der Reling stand inmitten einer Menge von Leuten eine verhärmte, schmale Frau, von mehreren Kindern umgeben. Eine DDP-Frau mit mehreren D vor dem P, denn sie war schon mehr als einmal dis-placiert worden. Sie fuhr nach Südamerika zu ihrem Bruder, ein ordentliches Leben für die Kinder erhoffend. Sie lehnte an der Reling und weinte, weinte um jenes eine, das in einer wirren Nacht in den letzten Wochen des vergangenen Krieges auf so unbegreifliche Weise verschwunden war. Und sie fühlte Zorn und rasenden Haß in sich aufsteigen, Haß gegen jenes Ungeheuer, das manchmal so plötzlich über die Menschen kommt, gegen das Ungeheuer, das man hassen, aber nicht fassen kann, um Rechensehaft von ihm zu fordern für seine Beute.

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