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Digital In Arbeit

Die Nuß

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Als ich das Haus zum erstenmal betrat, standen drei Totenkränze im Flur an die Wand gelehnt, und es roch nach Rosen, Wachs und Tųjen. Hinter den Kränzen stand ein großer Karton, und unter seinem aufgeschlagenen Deckel lagen winzige weiße Brautbuketts reihenweise aufgeschichtet, zum Versand bereit. Dahinter stand eine Tür offen und aus dem Rumoren erriet ich, daß dort die Küche war und daß jemand eifrig dabei war, eine Mahlzeit zu bereiten.

Aber der Herr des Hauses führte mich an der offenen Küchentür vorbei und hinaus in den rückwärtigen Hof.

Dieser Hof war wie ein Saal, grün und rosa und hinten stand ein langes niedriges Haus mit einem höheren Vorbau. Rechts war der Hang mit einer klobigen Granitmauer abgefangen, und da erhob sich mit einem Rundbogentor ins Kellergeschoß und einer blitzenden Fensterreihe unter Dach ein niedriger stumpfer Turm.

Links fiel das Gelände ab und verlor sich in einer dichten Kulisse von Weiden- und Eschenwipfeln und dahinter und jenseits des kleinen Tals lag das alte Stift mit hohen Dächern und langen Fensterfassaden und war jetzt Zucht- und Arbeitshaus, und wenn ich hinüberschaute, dann waren die Bilder da. Ich hatte sie nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hatte sie mir nur vorgestellt nach dem, was ich erfahren, und hatte sie mir nie anders vorstellen können als etwas Unwirkliches…

Aber war nicht alles unwirklich dahier? Die Totenkränze und die Brautbuketts und die Rosenfarbe des alten Hauses und sein zerfleddertes Strohdach und die Fischreuse, die an das eine Eck gelehnt stand und schon seit langem so stehen mußte, denn sie war schon zur Hälfte von wildem Weinlaub übersponnen. Es war unwirklich, daß ich hier einzog mit zwei meiner Kinder für fünf, sechs Wochen dieses Sommers, es war erst recht unwirklich, daß ich von nun an hier daheim sein sollte und daß mich dieser Hof und dieses Haus, das alte vom und das neuere rückwärts und daß mich sogar der Turm von nun an etwas angehen sollte, und mir war auf einmal, als kehrte ich aus einer kahlen und kühlen leergefegten Welt ein in eine braune warme duftende Nußschale, und ich konnte mich einrollen in sie und mich von ihr umschließen lassen.

Wir wohnten im rückwärtigen Haus.

Da war die Werkstatt mit einem großen hohen nach Norden gewandten Fenster, man sah von dort auf den Inn hinab und nach Bayern hinüber, und wenn der Tag klar und schön war, so sah man bis zu den Bergen hinter Passau, auf den Bayerischen Wald. Neben der Werkstatt war ein Zimmer, in dem mein Bett stand neben den kleineren Betten der Kinder, und ein Schrank war ausgeräumt für unsere Kleider, und daneben war ein neuer Schreibtisch aufgestellt: für meine Arbeit.

Dann war der Flur mit rotem Ziegelboden und dahinter eine kleine Stube mit Nußholz getäfelt und dahinter das Zimmer des Hausherrn.

Die Fenster waren klein und vergittert und Glyzinien und wilder Wein und die Äste der Apfelbäume und die Wipfel der Rosenstöcke filterten das Sommerlicht zu einer grünen Dämmerung.

Unten ging der große Fluß. Wer zu ihm hinunterwollte, mußte über eine Treppe hinab und an den Sonnenblumenbeeten vorbei, und noch eine Treppe hinunter, und da war der Bach, schmal und träge und zwischen weichen Ufern sumpfend. Ehe er in die Mündung schlich, lag ein Steg darüber und dieser Steg verband den Plattenweg flußabwärts mit dem, der flußaufwärts führte, den Damm entlang, der den Inn begleitete und ihn von Altwassertümpeln und Auwald und vom Steilufer schied. So lag zwischen Strom und Hang ein Gewirr von Weidenschöpfen und Wasserstraßen, eine Flucht von Wasser-Sälen und -Gängen, ineinanderverzweigt und labyrinthisch verwachsen. Hier konnte man baden oder mit einem Boot durch grüne Tunnels fahren, hier standen die Hechte lauernd auf Beute, hier raschelten Reh und Hase und abends strich die Eule mit seidiglüstemdem Flug.

Aber hinter dem aus riesigen Steinen geschichteten Damm, zog und wirbelte eilends und rauschte der Fluß.

Oben das Dorf und immer wieder das alte Stift, aus dem man die Stiftsherren verjagt hatte in der josephini- schen Zeit, und statt ihrer saßen nun die Verurteilten in den Zellen und Sälen, und am Sonntag sangen sie in der Kirche hinter dem Gitter. Dann und wann wurden jene aus geführt, die kurz vor ihrer Entlassung standen, sie wurden zur Arbeit gebracht, dahin und dorthin, um einen Keller auszuheben oder eine Straße zu schottern, so sollten sie sich wieder an die Freiheit gewöhnen, die ihnen bevorstand. Sie trugen noch ihre Sträflingskleider, und zwei Aufseher begleiteten sie, die Leute im Dorf waren den Anblick gewohnt, sie sahen gar nicht viel hin.

Aber ich säh hin und hörte zu, wenn Geschichten erzählt wurden von diesen Leuten, diesen und vielen anderen, die hier eingesessen hatten, Generationen von Zuchthäuslern, Immer-wieder-Rückfällige; auch Flüchtige waren darunter immer wieder, die den Ausbruch wagten und dann gehetzt wurden, jedesmal war das ganze Dorf mit auf den Beinen, Jung und Alt, und die Flüchtigen liefen, so hieß es, erst einmal so weit ihre Beine sie trugen, ehe sie wieder den ersten Einbruch wagten, zumeist, um sich Zivilkleider zu verschaffen; doch hier im Dorf, so hieß es, brach keiner ein, hier - gleichsam im Schatten des Zuchthauses - war man sicher. Drum ließ man nachts die Haustür offenstehen, und die Räder lehnten unabgeschlossen -an der Gartenmauer, man sorgte sich nicht.

Man erzählte viel „von denen drüben” und man erzählte auch von den Revolten im Ersten Weltkrieg, als es so wenig zu Essen gab überall und im Zuchthaus die Leute dem Hunger erlagen.

Man erzählt auch vom Schmuggel hier an der Grenze, und wie man die Zöllner getratzt und irre gemacht und was man ihnen für Schabernack gespielt hatte; und erzählte auch die schreckliche Geschichte von der Räuberbande, die hier noch vor hundert Jahren ihr Unwesen getrieben, und wie ein Bauer einmal einen Räuber erwischt und in einer Art Falle gefangen hatte, an beiden Armen band er ihn fest am Türpfosten. Morgen, hatte er dem Gefesselten gedroht, wirst du aufs Gericht gebracht und einen Kopf kürzer gemacht.

Doch so lange dauerte es gar nicht, daß der Ertappte seinen Kopf verlor, noch in derselben Nacht verlor er ihn unter den Händen und Messern seiner eigenen Kumpane. Damit der eine sie nicht verriete, nahmen sie seinen Kopf mit und zogen den Toten aus bis auf die Haut, daß niemand ihn erkennen konnte, so retteten sie sich selbst.

Und andere Geschichten wurden mir erzählt von dem Metzger, der seine Dogge dazu abgerichtet hatte, die Kälber totzubeißen, damit er sich das Schlachten ersparte, aber auch lustige Geschichten hörte ich, wie die von der Ziege, die es liebte, in einem kühlen weichen Bett zu liegen, jeden Nachmittag schlüpfte sie ins Haus und stieg in einem unbewachten Augenblick die Treppe hinauf und legte sich, nachdem sie ihre schwarzen Perlen über den Bettvorleger gestreut, auf die blumige Decke und das weiße Kissen.

Ich schrieb nachts in der Werkstatt, wenn alle anderen schliefen, an dem Buch, das ich eben damals in Arbeit hatte, ich schrieb die letzten bangen Kapitel und führte die Korrekturen aus. Es wurde ein und zwei Uhr Nacht darüber. Da - es war wieder einmal sehr spät geworden - überfiel mich ein ängstliches Gefühl. Auf einmal hörte ich die Mäuse unter den Dielen rascheln und die großen braunschwarzen Lederkäfer hinter dem Schrank wirtschaften, sie hausten dort zwischen aufgestappelten Plänen und in Mappen geschichteten Zeichnungen und nährten sich von dem Papier.

Auf meinem Arbeitstisch stand eine Flasche Kaiserbimlikör, ich hatte davon getrunken, ahnungslos und unerfahren im Umgang mit Alkohol, immer wieder hatte ich mir das Glas gefüllt, als handelte es sich dabei nur um einen harmlosen süßen Saft. Ich spürte meinen Kopf plötzlich so leicht und hell und meine Sinne geschärft für die allerzarteste Sensation. Und da sah ich auf und sah, daß in der Ecke über meinem Tisch ein großes Spinnennetz hing und daß sich in diesem Netz soeben eine Fliege gefangen hatte. Sie summte entsetzt auf und versuchte sich zu befreien und ließ ihre Flügel schwirren und ließ die schwarzen dünnen zitternden Beinchen zappeln. Aber sie kam nicht mehr los von dem klebrigen Faden und klebte nur fester an und nun war auch schon ein Flügel gefangen und nun der zweite. Da sauste von oben die Spinne heran und stürzte sich auf ihr Opfer, riesig und grau, eine Maschinerie der Mordlust, und ich schrie laut und gellend auf und stürzte davon.

Und im nächsten Jahr kam ich wieder und war wieder in der Werkstatt, und da war auch schon mein Kind bei mir, das ich inzwischen geboren hatte und von dem es hieß, es werde einmal hier Herr des Hauses sein. Doch kam dann alles noch einmal anders, denn der Fluß wurde verbaut, verbaut und gestaut, und damit heraufgebracht von seinen gedämmten, dicht umbuschten Ufern über das Tälchen mit seinen Weiden, über den Garten mit seinen Treppchen, über den Hof sogar mit seinen Rosenbüschen und Apfelbäumen. Und das Haus wurde abgerissen und niedergewalzt, das alte, rosa und grünumwucherte Haus mit dem Strohdach und den Totenkränzen und Brautbuketts, auch das neuere mußte weichen samt Turm und Werkstatt, und alles wurde kahlgeschlagen und eingeebnet und eine Betonwanne über den Hang gelegt, da gluckst nun das Wasser und klatscht an die Ufer.

Ich aber lebe mit den Bildern - und in der Nuß.

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