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Wildenten ziehen

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Der Park lag etwas außerhalb des Stadtzentrums. Zwar merkte man auch hier, daß die Feuerwalze des Krieges über das Land gegangen war, doch in den drei, vier Bombentrichtern, die eng beieinanderlagen, wucherten schon wieder niedere Stauden, die zerbrochenen Äste der alten Bäume in der Allee hatten neue Zweige getrieben, und die Splittergräben in den Wiesen waren im Laufe des Sommers von Unkraut überwuchert worden.

Franz war aus dem Zentrum, wo man kilometerweit nur Schuttberge, höchstens Hausskelette und dazwischen verkohlte Autowracks sah, in diese Zone der Ruhe gekommen. Er saß auf einer der noch unbeschädigten Gartenbänke und genoß die Wärme der Herbstsonne. Vor acht Tagen aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, wartete er auf seinen Transport in die Heimat. Drei Lastfahrzeuge sollten die aus dem Lager entlassenen Österreicher in den Süden bringen. An jedem Morgen hieß es, die Autos sind nicht durchgekommen, doch sie sind schon unterwegs, es könne bereits , morgen oder übermorgen so weit sein, daß sie eintreffen, und dann würde man sie sofort abtransportieren, die Versorgungslage, hier sei sehr angespannt.

Franz rückte jeweils der Sonne nach, wenn der Schatten der Bäume seinen Platz auf der Bank erreichte. Es waren nicht viele Menschen in dem großen Park. Eine ältere Frau mit einem Blinden konnte er noch in einiger Entfernung sitzen sehen. Eine junge Mutter, die einen Kinderwagen vor sich her schob, ging in der Allee auf und ab, ununterbrochen mit dem Kleinen redend, der aber erst lallte und quiekte.

Es war über ein halbes Jahr her, daß er den letzten Brief von zu Hause bekommen hatte. Die Nachrichten waren nicht erfreulich. Das Haus, in dem er gewohnt hatte, war von Fliegerbomben zerstört worden, die Mutter war krank, und der Neffe, dessen Vormund er war, schaufelte irgendwo an der ungarischen Grenze am „Ostwall”.

Franz streckte die Beine von sich. Die Füße staken in hohen, derben Militärschnürschuhen, die Beine in einer Militärhose. Ein graublauer Mantel der Luftwaffe, von dem alle Abzeichen, die Schulterklappen und sogar die Metallknöpfe abgetrennt und letztere durch Hornknöpfe ersetzt waren, verriet trotzdem sein Herkommen. Was tat es? Er hatte einen ordnungsgemäßen Entlassungsschein in der Tasche, und die Engländer hielten sich an Ordnung und Recht. Nun streckte er die Beine weit von sich. Es tat gut.

Es tat auch gut, in die Herbstsonne zu blinzeln und dem frühen Blätterfallen zuzusehen. Schwankend und schaukelnd kamen die Blaßgrünen, Goldgelben, manchmal auch Rötlichbraunen aus den hohen Kronen. Da oben aber, über den Baumkronen, flog eine Kette Wildenten, ganz so, als wäre dieser Herbsttag ein Tag wie jeder andere, als wäre dieses Jahr ein Jahr wie alle anderen Jahre.

Er riß die Augen weit auf. Hatte er sich getäuscht? Nein, da flogen sie dahin, zu irgendeinem Wasser, einem Teich oder Fluß wohl. Sie waren davongekommen, hatten die bösen Jahre überlebt.

Und er? Glaubte er, entkommen zu können? Diese ahnungslosen Tiere, da zogen sie ihre Schleifen im Herbsthimmel, und in einigen Monaten, wenn nicht schon in Wochen, wird der Frost alles erstarren lassen und der Schnee ihre Futterplätze dek-ken. Dann werden sie in einer Bratpfanne oder einem Suppentopf landen. Er aber wird in die Heimat fahren, und dort wird Arbeitslosigkeit, Hunger und Brennstoffmangel herrschen. Hat er denn das nicht schon vor dem Krieg kennengelernt, in der langen Zeit der Wirtschaftskrise?

Da flogen sie wieder über ihn dahin, der Erpel voran, gefolgt von zwei Enten.

Er hatte interessiert ihrem Flug zugeschaut und gar nicht bemerkt, daß die alte Frau mit dem Blinden von ihrer Bank aufgestanden ist. Erst jetzt, da sie schon fast an ihm vorbeigingen, beachtete er sie. Es war ein schmächtiger junger Mann. Er trug eine dunkle Brille. Sein Gesicht war von Narben entstellt. In der rechten Hand hielt er einen weißen Stock, die Linke lag in der Armbeuge der Frau. Er sagte etwas in einer fremden Sprache, und die Frau wiederholte es, sprach es aber etwas anders aus, sehr deutlich und akzentuiert. Nun wiederholte er es in der Betonung, die sie ihm vorgesprochen hatte.

Französisch, dachte Franz. Die lernen Französisch. Er kann noch nicht viel über zwanzig sein! Das verunstaltete Gesicht und diese schmächtige Gestalt! Als Blinder Französisch lernen... Er blickte ihnen nach, der kleinen alten Frau und dem mageren, hochgeschossenen Jungen. Deutschland, 1945.

Und er? Was, so fragte er sich, wird ihn erwarten? Die Druckerei, in der er gearbeitet, hatten die Nazis beschlagnahmt, für das Reichspropagandaamt, hat es geheißen. Die guten Bücher hatte man öffentlich verbrannt, dafür mußten sie deutschnationale drucken, Wehrwille von den Nibelungen bis zu Langenmark und Tannenberg, Flugschriften und Plakate. Doch schließlich war kein Papier mehr da, die Papierfabriken lagen still. Der letzte Brief: Keine Wohnung, die Mutter krank, der Bub verdorben, und doch zog es ihn nach Hause. Komm mit, etwas Besseres als den Tod findest du immer noch, fiel ihm ein. Wer war der Esel und wer der Hund? Sprach er mit sich?

Er blickte in die Baumkronen, sah dem Fallen der Blätter zu und bemerkte es erst ziemlich spät, daß aus der Richtung, in die die Alte mit dem Blinden gegangen war, wieder die junge Frau mit dem Kinderwagen kam. Der Kleine saß aufrecht und fuchtelte mit seinen Ärmchen. Er hatte ein kleines Zelluloidpferdchen in der einen Hand, das er ab und zu in den Mund zu stecken versuchte. Da ihm das nicht gelang, warf er es neben dem Wagen zu Boden. Die Mutter hielt an, hob das Tier auf, wischte es mit einem Tuch ab und gab es wieder dem Kind, das schon heftig quietschend die Arme danach ausgestreckt hatte. Wieder folgte das Gefuchtel und schließlich das neuerliche Wegschleudern des Spielzeuges. Wieder hob die Mutter das Pferdchen auf, wischte es ab, drohte dem Kind mit dem Finger und gab ihm wieder das Spielzeug. Doch sogleich landete es wieder neben dem Wagen auf dem Weg.

Sie kamen einige Schritte weiter.

Franz schaute den beiden lange nach. Sie kamen nur langsam vorwärts. Da er aber ein Schnattern über sich hörte, sah er auf. Da flogen sie. Vorne der Erpel und dahinter die beiden Enten, ganz so, als wäre dieser Herbsttag ein Tag wie jeder andere, als wäre dieses Jahr ein Jahr wie alle anderen Jahre.

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