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Die Stunde des Herrn Karl

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Wer wissen wollte, wußte schon lange, wer nicht wissen wollte, wußte auch im März 1945 noch nichts, wer in der falschen Gesellschaft den Mund aufmachte, starb. Opportunismus, Angst, vielleicht sogar eine gewisse Einsicht hatten aber im März 1945 doch längst einen großen Teil der Wiener zu einem vorerst streng geheimgehaltenen Frontwechsel veranlaßt.

Seit Monaten war immer deutlicher zu erkennen, daß Wien eine Besetzung durch die Rote Armee bevorstand. In den ersten Monaten des Jahres war jede Hoffnung, die Amerikaner könnten früher eintreffen, geschwunden. Denn die Amerikaner kamen in Italien nicht weiter. Monatelang verlief die Front zwischen Florenz und Bologna quer durch den Apennin, dafür rückten die Russen immer näher.

Schon im vergangenen Sommer hatten sie bei Baranow diesseits der Weichsel einen Brückenkopf geschaffen. Am 12. Jänner traten hier 60 Schützendivisionen zum Angriff an, einen Tag später begann die Offensive auch an mehreren anderen Stellen zu rollen. Am 15. Jänner existierte keine zusammenhängende Frontlinie mehr. Am 18. Jänner wurde Warschau von den Deutschen geräumt: eine Trümmerstätte, ein Leichenfeld. Mit der Zusammenarbeit Hitlers und Stalins bei der Zerschlagung Polens hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, und am Ende stand die stumme Zusammenarbeit bei der Liquidierung aller Kräfte, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein unabhängiges Polen, für das Großbritannien in den Krieg gezogen war, hätten schaffen können. Hitler warf die Aufständischen nieder, die in der Hoffnung auf die näherkommende Sowjetarmee losgeschlagen hatten. Stalin wartete, bis die letzten im Feuer der Mörser und der Exekutionskommandös gefallen waren. Dann vertrieb er die Deutschen.

Er mußte wochenlang warten, bis es soweit war, aber dann ging es flott. Am 23. Jänner erreichten die Sowjets in Niederschlesien die Oder. Am 31. Jänner vollendeten sie die Einschließung von Königsberg. Damit hatte die Endphase des Zweiten Weltkriegs unwiderruflich begonnen. Seine letzte große Rede hatte Reichspropagandaminister Doktor Joseph Goebbels schon am 27. Februar gehalten. Aus allen Lautsprechern Wiens heulte diese Stimme (während die Hitlers eher einem Bellen glich). Sie steigerte sich zu einem kreischenden Crescendo, dröhnte Haßgesänge in die kaum geheizten Gaststätten, ließ die Fensterscheiben erzittern, wo noch Fensterscheiben waren, und die Menschen sowieso. Sie verebbte zu einem beschwörenden Pianissimo, um erneut auszubrechen.

Da war kein Wort mehr von „erfolgreichen Frontbegradigungen“, von „geglückten Absetzbewegungen“, von „unbedeutenden Gebietsverlusten“. Einst war Goebbels sprachschöpferisch im Erfinden solcher Phrasen, nun gab es nichts mehr zu vertuschen. Er gab zu, daß es dem Feind gelungen war, „tief in den deutschen Ostraum vorzudringen und damit eine Situation zu schaffen, die ausgesprochen bedrük-kend ist“, doch er sprach noch immer vom Sieg, „und wenn wir uns am Ende in unsere Erde festkrallen müßten“. Die Deutschen, so sagte er, würden „stehen wie die Eichen im Sturmwind“, oder „der Erdball würde in Blut und Tränen ertrinken“.

Redensarten, wie „Daß wir den Krieg verlieren, wissen wir, aber der Pessimist fragt, wann...“ oder „Ratten werden wir noch essen, aber vor dem Rattenersatz graut uns schon heute“, genügten, noch immer und jetzt erst recht, für ein Todesurteil wegen Wehrkraftzersetzung. Trotzdem konnte man im März in Lokalen, wo man Stammgast war, auf ein vorsichtiges „Wie lange noch?...“ von der Kellnerin unter vier Augen die einst selbstmörderische Antwort hören: „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrek-ken ohne Ende“. Und das Gerücht, in Budapest spiele wieder die Zigeunermusik, wurde wie eine verfrühte österliche Auferstehungsbotschaft weitergeflüstert.

Opportunisten waren damals die sympathischesten Zeitgenossen, denn auf sie konnte man sich verlassen. Noch immer gab es die fanatischen Anzeiger, die Exekutionen am laufenden Band, aber ein Professor Jörn Lange, der unmittelbar vor der Besetzung Wiens im Chemischen Institut (oder war es das Physikalische?) einen jungen österreichischen Wissenschaftler, der ihn an der Zerstörung des einzigen in Wien vorhandenen Elektronenmikroskops hindern wollte, erschoß und dafür nach dem Krieg selbst hingerichtet wurde, war doch sehr in der Minderheit — nun ja, er war ein Reichsdeutscher.

Herr Karl hingegen wußte, was er sich schuldig war. Der Herr vom Nebenhaus, er ist längst tot, der Herr von unter uns, auch er längst tot, ich höre noch, wie sie die neuen Redeweisen einübten. Und was schlich denn da nach Einbruch der Dunkelheit zu einem der vielen Bombentrichter in der Nachbarschaft? Ja, und was hatte er denn auf dem Arm? Was Braunes. Ach ja, die Uniform. Schwupps, da lag die schöne braune Uniform im Bombentrichter, und die glänzenden, noch immer glänzenden Schaftstiefel flogen hinterher. Und der Mann, der als „Goldfasan“ (so genannt wegen der Farbe der Parteiuniform) ein ganzes Haus hatte ängstigen können, war wieder der kleine Herr Karl. Die arme Uniform, sie fiel wenigstens weich und auch keineswegs gleich mitten in den Schlamm, denn dort unten im Bombentrichter, da lagen schon ein paar solche Uniformen. In vielen, vielen Bombentrichtern in ganz Wien leuchtete es verdächtig braun.

Armer Herr Karl. Armer kleiner, ganz kleiner Gemischtwarenhändler in einer Wiener Straße, der, vorher ein Niemand und nachher ein Niemand, im Krieg als Parteimitglied und Luftschutzwart seine große Zeit erlebte und der eines Tages, nach Einbruch der Dunkelheit, all seine Wichtigkeit, seine ganze Überlebensgröße in einen Bombentrichter werfen mußte und noch dazu so, daß es niemand sah, denn damals gab es in dieser Stadt mehr aufrechte, vor einem mannhaften Wort der Anzeige gegen einen Nazi nur zu bereite Antifaschisten, als es je Nationalsozialisten gegeben hatte.

Die Parteiabzeichen in den Wiener Bombentrichtern, in den Wiener Ruinen, auf den Straßen. Vielleicht spiegelt mir die Erinnerung diese koriandoliübersäte Stadt nur vor, vielleicht kam wirklich nicht eines auf jeden Quadratmeter. In den Bombentrichtern jedenfalls lagen sie in Massen.

Manchmal veranstaltet eben die Wirklichkeit ein Kabarett, das jeden Kabarettisten übertrifft. Aber die Zeit war nicht kabarettistisch. Ich erinnere mich an meine eigene, gewissermaßen achselzuckende Ratlosigkeit beim Anblick des berühmten Plakates „Wien ist zum Verteidigungsbereich erklärt worden — Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen“. Ja, es hatte Menschen gegeben, die gehofft hatten, Wien würde als „offene Stadt“ übergeben. Es war reinstes Wunschdenken. Es hatte niemals den geringsten Hinweis gegeben, der eine solche Hoffnung gerechtfertigt hätte. Jeder wußte: Wien würde verteidigt werden. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Er fragte sich nur, wie lange.

Es gab keine Waffen mehr, keine Munition mehr, keinen Treibstoff mehr, keine Lebensmittel mehr, keine Menschen mehr, nur eines gab es in beliebiger Menge: Panzerfäuste. Panzerfäuste waren im Überfluß vorhanden. Eine kleine, leichte, auch zum Gebrauch von Frauen und Kindern entwickelte Waffe zum Abschießen von Tanks. Eine tatsächlich äußerst gefährliche Waffe, die den Blutzoll der Alliierten in den allerletzten Wochen des Krieges sinnlos erhöhte. Aber die Panzerfaust war mehr als eine Waffe. Sie war ein Mythos, sie wurde dazu gemacht. Wo es nach dem Willen der Verteidigungsfanatiker ging, konnte jede Frau, jedes Kind damit umgehen. Frauen wurden im Reichspropagandaministerium für besonders geeignete Kämpfer gehalten. Da eine deutsche Frau in Goebbels' Vorstellung ohnehin nicht lebend in die Hände der Feinde fiel, konnte sie vor ihrem Ende ebensogut noch einen Panzer abschießen. Wenn sie nicht traf, war nicht viel verloren. Panzerfäuste waren billig zu produzieren und leicht zu transportieren. Sie wurden in Kisten zu je vier Stück mit schußfertiger Treibladung geliefert.

Nur der Kopf war vor der Verwendung mit ein paar Handgriffen scharf zu machen, eine primitive Klammer zu lösen, Zündladung und Zünder einzuschieben, der Kopf wieder auf das Rohr zu setzen, der „Vorstecher“ herauszuziehen und das Visier hochzuklappen, der Sicherungsstift mit beiden Händen nach vorne zu schieben, dann konnte man zielen und abdrücken, falls in der Zwischenzeit nicht der Schütze im näherkommenden feindlichen Panzer abgedrückt hatte, und sieben bis zehn Sekunden warten und die Waffe dann vorsichtig zwecks späterer Sprengung fortzulegen, falls sie wider Erwarten nicht losgegangen war. Der Schütze hatte sich ansonsten lediglich zu vergewissern, daß hinter ihm niemand stand. Der Feuerstrahl, der hinten aus dem Rohr fuhr (Pappkappe an dessen Ende nicht abnehmen, verbrennt von selbst!), wirkte auf drei Meter Entfernung unbedingt tödlich.

Immer mehr Männer mit Karabinern, Rucksäcken, Panzerfäusten auf den Straßen. Fast alle über sechzig Jahre alt oder unter sechzehn. Ein Teil der Hitlerjungen Wird sieh tapfer schlagen. Man kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Sie wußten es nicht besser, sie nahmen ernst, was man ihnen sagte. Sie glaubten an den Führer — noch immer. Aber die Erwachsenen?

Reichs Verteidigungskommissar Bal-dur von Schirach hatte sich an dem Tag, an dem die ersten sowjetischen Soldaten von Süden her in die Stadt eindrangen, selbstverständlich längst in den Westen abgesetzt. Eines seiner letzten Dekrete galt einer „kriegsbedingten Maßnahme zur Einsparung von Futter“: Alle Ziegen und Ziegenböcke von Wien waren zu schlachten, freflich bis zu einem Stichtag weit im Mai, an dem Wien längst in russischer Hand war. Schirach nahm damit dieselbe Haltung wie Tausende kleiner und großer NS-Bonzen ein, eine Haltung, die Hunderttausende von Menschenleben gekostet hat: Sie taten bis zum letzten Augenblick so, als stünde die Dauer ihrer Herrschaft außer Frage. Selbst auf der Flucht gaben sie noch Durchhaltebefehle. Ein General Schörner (oder war er gar Feldmarschall?) ließ noch unmittelbar bevor er selber die Uniform aus- und Zivilkleider anzog „feige Fahnenflüchtige“ aufknüpfen.

Am Dienstag, 3. April 1945, erschienen die ersten sowjetischen Flugzeuge über Wien. Sie warfen leichte Bomben und nahmen da und dort eine Straße unter Maschinengewehrfeuer. Ich stellte mich unter einen Türstock. In der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag rollte eine Kolonne deutscher „Tiger“-Panzer mit weit über den Bug hinausragenden Geschützen über die Kreuzung Zweierlinie und Kärntnerstraße. Richtung Favoriten. Ihre Raupenketten rissen die Steinquadern des Straßenpflästers heraus und schleuderten sie durch die Luft. Ich erinnere mich an ihre Silhouetten vor den Gasflammen, die aus ungezählten Bombentrichtern loderten, wo Gasleitungen zerrissen waren und das Gas sich entzündet hatte. Sie sanken in sich zusammen, wenn die „Gassperrzeit“ begann, und

schlugen in jenen Stunden, in denen die Bevölkerung noch mit Gas versorgt wurde, meterhoch empor. Die Volkssturmmänner wärmten sich dann und wann an den Gasflammen die Hände.

Am nächsten Vormittag fielen an der Peripherie die ersten Schüsse. Oder doch erst am Samstag? Wer merkt sich das so genau? Während irgend jemand rief: „Panzerspitzen in Favoriten!“, versuchte ich in einem Geschäft auf dem Graben neben dem Ohne-Pause-Kino noch irgendwelche Textilien zu bekommen. Ich stand am Ende einer langen, auf die Straße reichenden Schlange. Nach einem Granateinschlag in vielleicht 200 Meter Entfernung* warteten vor mir nur noch fünf oder zehn von den fünfzig Frauen, nach einem Treffer ins Dach — die Dachziegel klirrten auf dem Pflaster — schlüpfte ich in das nun leere Geschäft und ergatterte zwei Handtücher für meine kostbaren letzten „Spinnstoffabschnitte“.

Ich hätte gern auch noch Schuhe gehabt, denn ich ging auf Löchern. Es gab ein offenes Geschäft und es gab auch noch Schuhe, aber ein Offizier brüllte uns an: „Wahnsinnig geworden? Jetzt Schuhe kaufen? Marsch, marsch zur Oper, Sie melden sich bei den Barrikaden, ich zähle bis drei...“

Ich rannte, aber nicht zur Oper. Es knallte ein paarmal hinter mir, ich weiß nicht, ob er jemanden getroffen hat. Ich erinnere midi noch gut an das unwillkürliche Zusammenkneifen eines bestimmten Körperteils beim Laufen.

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