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Die letzten Stunden Jes Krieges

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Schon über eine Stunde erzählte Ezra Arrigho seinem Pfarrer in seiner irischen Heimat über die Greuel des Krieges, die er in Deutschland erlebt hatte.

„Jede Straße" fuhr er in seiner Erzählung fort, „hat ihre eigene Atmosphäre. Sogar wenn Häuser Zusammenstürzen, liegen sie in ihrem eigenen Staub, in ihrem eigenen Licht. Alles bewegt sich oder steht in seinem eigenen Licht oder seinem eigenen Schatten, auch Bäume, Straßen, Felsen und selbst die Erde, und die letzte, endgültige Vergewaltigung geschieht, wenn ein Ding seiner eigenen Luft beraubt wird.

Ich erfaßte dies zuerst, als Granaten auf meine Straße zu fallen begannen. Granaten sind anders als Bomben. Sie sind das erste Anzeichen jener anderen, das Zeichen ihrer Gegenwart; Granaten machen den Anfang damit, die gewohnte Luft wegzureißen, und bringen den ersten Atemzug der unbekannten Finsternis mit sich.

Diese wachsende Fremdheit der Straße ist mir aus jenen Tagen in Erinnerung geblieben. Ich fühlte, wie sie sich in etwas anderes verwandelte. Ich durfte nicht auf der Straße sein, weil ich Ausländer war, aber ich ging bei Nacht aus, um mich umzusehen. Ich kam aus dem Keller heraus, wo wir warteten, und jeden Abend war eine neue Art von Finsternis über der Straße. ?

In der nächtlichen Straße waren immer neüe Zeichen von kommendem Schicksal. Niemand wußte, was sie eigentlich bedeuteten, nur das eine, daß das Ende immer näher kam. Da waren Leutnants und Unteroffiziere, die unter der Brücke der Hochbahn hingen, mit jener Tafel auf der Brust: .Angetroffen ohne Waffen angesichts des Feindes.'

Angesichts des Feindes ... Auch diese Worte waren rätselhaft und entsetzlich. Die Straße lag nun angesichts des Feindes da! Die Straße, die zu einer Brücke über der Eisenbahn und weiter hinaus zu einer belaubten Allee geführt hatte, die.f in eine Vorstadt mündete, sie führte jetzt nur mehr in den Rachen des Feindes.

Alle Leute vom Haus lebten im Keller. Der Keller war zu einer Verkehrsader geworden; man hatte Löcher in die benachbarten Keller durchgebrochen, und man konnte durch sie von einer Straße in die andere gelangen. Ich blieb zwei oder drei Tage mit den anderen Hausleuten im Keller, manchmal im Dunkeln und manchmal bei einem kleinen Kerzenlicht. Im Keller gab es keine Konventionen mehr; ich bekam eine Ahnung, wie die Stämme in der Tiefe der afrikanischen Wälder in ihren Hütten leben. Jegliches Ausweichen — Kino, Radio, Bücher — war weg, und auch jedes Privatleben.

Wir waren ein kleiner Stamm in der Mitte des Urwalds, am Rande des Todes. Es war kein Unterschied mehr zwischen uns, nur was man sehen und fühlen konnte. Wir waren weder Deutsche noch Polen noch Iren, weder Eisenbahnbeamte noch Schneider oder Schullehrer. Die unterirdische Finsternis war so voll von Empfindungen, wie man es in der Oberwelt nur selten, weder bei Tag noch bei Nacht, erleben kann. Die zwei trockenen Schnitten schwarzen Brotes, die wir einmal in zwölf Stunden essen durften, waren ein Erlebnis, sie waren süßer als Manna, und das Erzittern der Finsternis unter Bomben und Granaten war wie ein Schauer im Rückgrat und in den Ein- geweiden, wie ein Baum erzittern mag, dessen Wurzeln im Sturm erbeben. Und wenn wir beteten, waren unsere Gebete anders als die Gebete in der Kirche: wir wendeten unsere bleichen, schmutzigen Gesichter der Finsternis jenseits des Kellerdunkels zu; in dem Wanken der įminta..

Kellermauern und dem Stürzen des Mörtels fühlten wir den Schritt des Todesengels und des Engels, der das Ende ankündigte.

• Es mochte die dritte Nacht gewesen sein, als ich hinaufging und auf die Straße hinaustrat. Jetzt hatte sie sich von neuem verändert. In zwei Tagen war eine Veränderung mit ihr vorgegangen, die sonst Jahrhunderte gedauert hätte. Da lagen Leichen umher, und niemand kümmerte sich um sie. Noch vor zwei Tagen wurden die Toten aufgehoben und fortgetragen. Da war der Tod noch ein Unfall, ein Teil einer Unordnung, die rasch bereinigt werden muß. Jetzt gab es nur noch Unordnung; Chaos und Tod waren in der Straße nichts Zufälliges mehr, sie waren zum Bestandteil der Straße geworden. Frauen mit Waschschüsseln und Eimern und ein paar Männer mit Messern zerlegten ein totes Pferd in der Mitte der Straße.

Eine Menge Granaten fielen, und während ich unter den Ruinen einer Hochbahnbrücke Schutz suchte, traf mich ein Schrapnellsplitter an der Schulter. Weitet oben war eine Verbandsstation, und obwohl es eine militärische Station war, ging ich hin, mit einem Unteroffizier, der am Bein verwundet war, und da ich ihn stützte, ließ man uns beide ein. Sie konnten nicht viel für uns tun; es war kein Verbandzeug da, keine antiseptischen Mittel. Nur eine Krankenschwester war da, und während sie die Beinwunde des Unteroffiziers auswusch, sprach er mit ihr.

,Wozu kämpfen wir noch? Glauben Sie wirklich noch, daß die Armee durchbrechen wird?' fragte die Schwester. Sie war so müde, daß sie die Schüssel mit Wasser kaum halten konnte.

Der Unteroffizier zuckte die Achseln und lächelte müde und wissend.

,Wir haben gehört, daß heute kapituliert wird', sagte die Schwester. ,Sie sollen noch über die Bedingungen verhandeln. Es hat doch alles keinen Sinn, gar keinen Sinn', sagte das Mädel und verschüttete Wasser aus der • Schüssel vor lauter Müdigkeit.

Nachher saßest der Unteroffizier und ich in dem Vorraum. Es war eine klare Nacht mit einem abnehmenden Mond, und ich konnte ganz gut die Straße entlang sehen. Die glatte schwarze Oberfläche der breiten Straße schimmerte, und alles schien sehr ruhig. Ein Hintergrund von Lärm war immer da, aber daran waren wir gewöhnt, und es gab keine neuen Geräusche mehr und keine Granaten. Nur die Straße war da, leer, mit ihrer vom Verkehr glänzend polierten Oberfläche, und führte in die Nacht hinaus. Seit Wochen war kein solcher Augenblick der Stille gewesen, und ich stand da und kam zu mir, wie ich das in der ganzen Zeit nicht gekonnt hatte. In den langen Stunden im Keller war ich nur fähig gewesen, mit den anderen zu warten, vom Essen und von einem Bett zu träumen, auf die Stunde zu warten, in der man die zwei Schnitten Brot und die zwei kalten Kartoffeln essen durfte, und jeden Fetzen eines Gerüchts in mich aufzunehmen. Aber jetzt, in der Straße außerhalb der Verbandstation, fühlte ich eine Veränderung in mir. Ich hatte wieder Kraft, wurde nicht mehr hin- und hergetrieben von jedem Hungerkrampf und jeder Welle der Schlaflosigkeit oder von jedem geflüsterten, neuen Gerücht.

Der Unteroffizier zog einen alten Zivilanzug an, den er ergattert hatte, und streifte langsam die Hose über sein verletztes Bein. Er nahm Papier und andere Sachen aus der Tasche seiner Uniform, zerriß einiges und legte anderes beiseite, einen Kamm, etwas Geld und ein kleines, abgegriffenes Neues Testament. Ein Briefkuvert steckte drin als Lesezeichen, und er öffnete das Buch und sagte zu mir: .Weißt du, das alles ist in der Bibel prophezeit worden. Hör nur zu!' Er hielt das kleine Buch nahe an die Sturmlampe und begann zu lesen:

,Und alsdann sagte er ihnen: Volk wird sich gegen Volk erheben, Reich gegen Reich. Starke Erdbeben, Hungersnot und Pest wird es bald hier, bald dort geben. Schreckbilder und gewaltige Zeichen werden am Himmel erscheinen ...' Ich ging hinaus, innerlich tief aufgewühlt. Denn ich hatte gesehen, daß solche Dinge kommen müssen, sollen wir nicht immer weiter in unserem Ententeich in der Runde schwimmen. Es darf uns nicht zu viel Sicherheit gegeben sein. Sobald wir uns nur ein wenig sicher fühlen, lassen wir uns an unserem Ententeich nieder. Es ist immer der gleiche alte Schlamm. Die kleinen Ententeichschriftsteller, die Ententeichverbesserer. Darin besteht Unser großes Genie: im Zähmen. Wir haben unseren zahmen Gott, eine zahme Kunst, und nur wenn die Tage der Ver-

gcltung kommen, dann gibt es ein Geflatter um den Teich herum.

Nach den Tagen der Vergeltung kommt ein frischer Hauch. Da und dort dämmert den überlebenden eine neue Erkenntnis auf, die weiter reicht als die Erkenntnisse des Ententeichs. Das ist jetzt unsere einzige Hoffnung: ein neues Ziel. Das war es, was ich in der letzten Stunde vor dem Ende gesehen habe, auf der weiten, leeren Straße, die im Mondlicht wartete. Es war ein seltsamer Mond, in der Farbe von ausgeblutetem, bläulich-weißem Fleisch. Und dann ging ich zurück in die Verbandstation, und der kleine Unteroffizier las aus dem Buch, das er beim Ausleeren seiner Uniformtaschen gefunden hatte, die Worte: ,Und es werden Zeichen an Sonne, Mond und Sternen erscheinen. Auf Erden wird ob des Brausens der Meeresflut Angst und Verwirrung unter den Menschen herrschen ...' "

Ezra schwieg, und auch der Pfarrer sagte kein Wort. Stumm verabschiedene sich der Besucher und ging.

Aus „Das Lächeln“, Verlag Herold, Wien.

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