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Digital In Arbeit

Aufzeichnungen im Luftschutzkeller

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Edwin Erich Dwinger hat jetzt seinen zu außerordentlicher Verbreitung gelangten Romanen, die ihre Historie aus dem ersten Weltkrieg schöpften, eine verwandte Arbeit .Wenn die Dämme brechen“ folgen lassen, eine fast atemberaubende literarische Bilderreihe aus dem Untergang Ostpreußens. Der große Meister der Stoffgestaltung widmet mit diesem ergreifenden Buche, das der Verlag Weisermühle, Wels, hervorgebracht (640 Seiten) der furchtbaren Tragödie des deutschen Bauerntums ein verdientes Gedenken. Nur der Rahmen ist romanhafte Form; die Träger der Handlung und ihre menschlichen Beziehungen sind aus der geschichtlichen Tatsächlichkeit gewählt. So ist auch der Königsberger Universitätsprofessor Höltermann, der versonnene Gelehrte, der in dem Mittelpunkt der nachfolgenden Szene steht, keine erdichtete Person. Die Szene spielt in einem Königsberger Luftschutzkeller, während sich schon das Kriegsgewitter vernichtend über Ostpreußen ausbreitet.

Um diese Stunde hatten sich Höltermanns gerade zur Ruhe begeben — nachdem der Professor Frau Elise eine Stunde aus seinen Aufzeichnungen vorgelesen, jenem kleinen .Gedankenbüchlein“, in das er täglich auf sorgliche Weise seine Erkenntnisse niederzulegen pflegte —, als die Sirene zum erstenmal mit schneidender Schärfe die Nacht durchsägte.

Der Professor hielt in der Herrichtung seiner dürftigen Bettstatt inne, sah Frau Elise mit einem Blick an, der wegen dieses Geräusches auf eine rührende Weise um Entschuldigung zu bitten schien. Ach, er hätte es in der neuen Wohnung gar nicht erst angefangen, in den Keller zu gehen, wäre unter Einschluß aller Gefahren lieber im Zimmer geblieben ... Aber nachdem der Blockwart sie einmal heruntergeholt hatte, zudem auf eine solch grobe Weise, daß es ihn für Frau Elise schneidend geschmerzt, pflegte er dem Signal um ihretwillen pünktlich zu folgen.

So horchte er noch eine Weile mit schiefem Kopf, da gellte es zum zweiten, gleich darauf zum dritten Male unaus-deutbar auf. Es stieg, es fiel, es stieg, es fiel — es wollte kein Ende nehmen.

„Wir müssen also, Elise!“ sagte er bittend.

Das Bündel des Notwendigsten stand jederzeit bereit, so schwang er sich's mit einiger Mühe auf den Rücken, wobei seine steifen Beine fast einzuknicken drohten. Frau Elise nahm mit überraschender Behendigkeit die drei Bilder herab, steckte sie in ihre Handtasche, nahm ein Köfferchen in die Linke, öffnete dem schon Wartenden mit der freien Hand die Wohnurigstür.

Als sie schließlich unten ankamen, gewahrten sie sofort, daß sie die letzten waren. „Ich möchte einmal erleben“, sagte der Luftschutzwart, ihre alte Reinmachefrau, .daß Sie pünktlich sind...“

Sie setzten sich auf ihre vorbestimmten Plätze, grüßten freundlich nach allen Seiten, zogen sich darauf sofort wieder in ihre Welt zurück. Nachdem der Professor seinen linken Arm so in den ihren geschoben, daß sie gleichsam in eins verschmolzen, zog er mit der Rechten das Gedankenbüchlein aus der Manteltasche. Im Rücken des Büchleins stak ein kleiner Tintenstift, den nahm er hervor, sah eine Weile wie in geistiger Vorbereitung vor sich hin ...

An seiner Rechten saß ein weißhaariger Pensionär, seine schlaffen Hänge-bäckchen zitterten bereits. An ihn schloß 6ich ein alter Postbote, neben ihm war der Platz der Reinmachefrau. An der andern Wand saß der Rest der kleinen Besatzung: eine verhärmte Lehrersfrau mit zwei halbwüchsigen Kindern, daneben eine frische Sekretärin mit auffällig bemaltem Munde. „Wir haben lange Ruhe gehabt“, begann der Pensionär weinerlich.

„Hoffentlich wird's nicht wie im August!“ brummelte der Postbote vor sich hin.

„Seien Sie um Gottes willen stilll“ schrie die Lehrersfrau hysterisch auf. „Es ist schon schlimm genug, Sie brauchen nicht auch noch ...“

„Man wird doch noch, mein Jesus...“, brummelte der Postbote. Jetzt begann man bereits deutlich die Flugzeuge zu hören, anscheinend zog diesmal eine große Luftflotte heran. Die Luftschutzwartin stand schleppend auf, spähte durch einen Schlitz des Luftschachtes hinauf. Am Himmel griffen bereits ein Dutzend gespenstischer Finger umher, prallten an wallenden Wolken ab, wanderten in einer gleichsam spürbaren Nervosität am Firmament einher. Dann brüllte es auch schon zum ersten Male auf, ein jäher Feuerschein warf sich über eine Atemlänge empor, ward von einem noch stärkeren Rotblitz abgelöst, ging in einem Dutzend berstender Explosionen unter.

Der Professor sah sich unmerklich nach Frau Elise um, ja, sie hatte wie immer gleich zu schlafen begonnen. In Wirklichkeit schlief sie nie, schlief sie nie eine Minuta, aber sie hatte festgestellt, daß er nur dann schreiben würde. Seitdem sie dies herausbekommen hatte, schlief sie also, vom ersten bis zum letzten Augenblick . ..

So nahm er denn das kleine Tintenstiftchen achtsam auf, begann er mit seiner zarten Schrift zu schreiben: „Nach Uberwindung dieser Zeit verwirrter Übel wird sich eindeutig zeigen, daß weder Philosophie noch irgendeine rationale Lehr imstande ist, die zerstörenden Irrwahne unseres Jahrhunderts zu überwinden. Daß allein die — Religion es vermag...“

„Wenn der Geist des Menschen sich nicht immer wieder zu Gott hingezogen fühlte“, schrieb der Professor weiter, „wäre die Menschheit schon längst in einem Kampfe aller gegen alle untergegangen. Ihre Zerstörungskräfte sind gegenüber denen des Tieres so ungeheuerlich gewachsen, daß nur die gleichzeitige Entwicklung einer Moral uns bisher vor der letzten Auswirkung bewahrte.“

Er schloß kurz die Augen, fuhr dann geruhsam fort: „In allen Jahrhunderten treten auf dem sozialen Gebiet Diskrepanzen auf, als schwerste aber brachen sie für das Abendland mit der russischen Revolution an. Gelingt uns nicht schon in kurzem eine Neuerweckung der bindenden Religionskräfte, muß der einseitig entwickelte Intellekt die Menschheit zwangsläufig zur Vernichtung führen.

Wir haben uns alsdann mit dem einen Pfunde zu Tode gewuchert, aber dabei vergessen, ihm mit dem andern, das man uns nur gab, um das erste zu bändigen, im Sinne einer echten Schöpfung ein sinnvolles Maß zu geben...“ In diesem Augenblick brannte es am Himmel berstend auf, es war wie ein flammender Puff, der sich ringsum gegen die Wolken warf, darauf glitt etwas wie ein glühendes Geschoß zur Erde herab. Das war der erste Abschuß, das erste getroffene Flugzeug... Jetzt schwebte die Besatzung wohl Im Fallschirm herab, soweit sie nicht schon in der Explosion verbrannt war — schwebte sie langsam in die brennende Hölle hinab, die sie noch eben selbst hervorgerufen hatte...

Bravo! rief die Reinmachefrau. „Der erste Abschuß!“

Der Professor warf einen schnellen Blick auf Frau Elise, nahm wiederum das Stiftchen in die klamme Hand: „Ich halte jeden Sozialismus für Stückwerk“, begann er wieder, „solange es nicht gelingt, ihn mit christlicher Bruderschaft zu erfüllen! Ein auf den menschlichen Trieben aufgebauter Staatssozialismus wird nur ein äußerlicher sein, wird zudem auch weiterhin immer vom gegenseitigen Kampf erfüllt bleiben, nur ein lebendiges Christentum könnte ihn für die Menschheit zu einer idealen Lebensform machen. Nur die Oberflächlichen sind heute noch einer gegenteiligen Meinung, den Tieferblickenden zeigt sich im Gegenteil deutlich, daß gerade eine Neuerweckung des Christentums die Forderung der Zeit ist!“

„Wann sollte wohl dafür die größere Stunde schlagen“, schrieb er weiter, „wenn nicht in dieser, wo wir am Bankerott der Unchristlichkeit stehen? Wo als Folgen eines abgesunkenen Christentums Greuel geschehen, wie sie die Welt nicht kannte, wie sie bisher noch über kein Volk der Erde kamen? Denn alles heute sichtbar Gewordene kommt aus jener Wurzel — Brutalität, Vermassung, Ehrfurchtslosigkeit — Konzentrationslager, Menschenquälerei, Kindersterben — ist darum auch nur aus ihren Gegenkräften wieder zu heilen. Der Mensch hat in den .modernen' Staaten nur mehr als Verbraucher Geltung, ihr wesentlichstes Problem ist die Verteilung der materiellen Güter. Aber die menschliche Seele rächt sich gleichsam für diese Entmenschlichung — alle sichtbar gewordenen Greuel entspringen daher ihrer Erniedrigung!“

Er sah einen Augenblick vor sich hin, begann dann eine neue Seite: „In diesem Sinne wartet auf uns die größte Aufgabe, die das Schicksal jemals einem Volke stellte: aus unserem unsäglichen Unglück diese Wahrheit zu offenbaren, denn niemand könnte sie heute tiefer aussprechen als wir. Schaffen wir aus diesem Leiden eine Offenbarung für die Menschheit, eine echte Heilslehre, so können wir unseren Leiden noch nachträglich einen Sinn geben! Wer von uns aber möchte wohl, daß es sinnlos gewesen sei? Fruchtbar können wir es jedoch allein durch eines, können wir es nur mehr durch dies machen: indem wir aus unserer Erkenntnis der ganzen Menschheit sagen, daß sie nur noch durch ein lebendiges Christentum zu retten ist!“

Jetzt blitzte es wiederum am Himmel auf, gleich darauf folgte eine ganze Lichterkette. Noch ein paar feurige Raketen flogen den verkehrten Weg, schössen auf dem Himmel mit langen Schwänzen zur Erde nieder. Die weißen Finger geisterten immer hastiger an den Wolkenballen umher, aber sie spiegelten bereits mit rötlichem Schimmer eine ungeheure Feuersbrunst wider. Um Gottes willen, dachte- die Reinmachefrau, das wird alles rot...

„Wie im August“, murmelte der Postbote, „hab's gleich gesagt...“

Die Lehrersfrau kreischte von neuem auf, preßte die Kinder an sich, wiegte sich zitternd über ihnen hin und her. Das donnernde Bersten schien zudem näher zu kommen, zuweilen zitterte der ganze Keller, wie eine gespannte Seite an einem Bogen schwingt. Jetzt lag der Teppich anscheinend ganz nahe, die Wände begannen zuckend zu leben, von der Decke rieselten kleine Kalkstücke.

„Aech...“, ächzte der Pensionär, „aech...“

„Hat Thomas von Aquin nicht das schönste aller Worte gefunden“, begann der Professor einen neuen Abschnitt, „das man trotz aller Wissenschaft jedem Gottesleugner entgegenhalten kann? .Mag auch der Nachtvogel die Sonne nicht erblicken — es erschaut sie dennoch das Auge des Adlers!' So ihr gerne Nachtvögel sein wollt, so seid es, ich jedenfalls will Adler sein! Nein, das 'Bekenntnis zum Abendland schließt das Bekenntnis zum Christentum ein, wo es nicht mehr gläubig gelebt werden kann, sollte es mindestens als allgemeingültiges Sittengesetz befolgt werden. Mögen wir die Kernkraft des Abendlandes in der Humanitas der alten Griechen, mögen wir sie in der Lehre Christi sehen, beide haben sich so unlösbar durchdrungen, daß ein Bekenntnis zu ihm immer ein Bekenntnis zu beiden bedeutet! Bekennen wir uns also zu ihm, müssen wir auch wissen, was wir von ihm fordern sollen! Dies jedenfalls wissen wir: der totalitäre Staat Adolf Hitlers — hat mit dem Abendlande nichts zu tun.“

„Pascal hat irgendwo einmal das schöne Wort ausgesprochen“, kalli-graphierte der Professor nach kurzem Sinnen weiter, . ,die Welt weise überall auf einen entschwundenen Gott hin!' Wenn er aber einmal in unserer Welt war, muß man ihn auch zur Rückkehr bewegen können! Wenn wir aber den Menschen nicht wieder zu der Erkenntnis bringen, daß auch das Religiöse ein unbestreitbares Recht in ihm hat, das ökonomische nur ein peripherer Teil seiner Erscheinung ist, werden wir der immer schneller fortschreitenden Entgötterung der Erde, nämlich dem weiteren Ansturm des Nihilismus nicht standhalten. Ebenso müssen wir der Relativisierung des Menschen für die Zwecke des Staates widersprechen, denn sie ist es, die alle Grenzen der abendländischen Lebensauffassung wegzuschwemmen droht. Eine einseitig sozialistisch organisierte Gesellschaft bedroht die Freiheit, auch das ist eine neue Erkenntnis, die wir dem Bolschewismus nicht weniger als dem Nationalsozialismus verdanken. Wir brauchen nur die Augen zu öffnen, um alle Gefahren erkennen zu können. Sie zeigen sie uns fast täglich aufs neue auf — die Faschisten der beiden Komplementärfarben.

Wiederum sap.n er eine Weile nach, echriel dann in größter Versunkenheit: „Die letzte Erkenntnis der modernen Wissenschaft ist, daß der Gedanke im All selber ruht, nicht nur dann vorhanden ist, wenn unser Gehirn ihn von sich aus denkt. Er ist auch ohne uns existent, selbst wenn unser Gehirn, einem Radiogerät gleich, ihn nicht aus dem All empfängt. Was den alten Plank wieder fromm machte, ist in erster Linie diese Feststellung. Er kam zu der demütigen Erkenntnis, daß nicht er die Dinge dachte, sondern daß sie auch ohne ihn seien. Die Gedanken treten gleichsam nur aus dem Universum hervor, schlagen sich im Gehirn des Menschen nieder, bleiben aber als Gesetze im Weltall stehen, wo sie für alle Zeiten unveräußerlich hangen. Sollten nicht auch wir Kleinen fromm werden dürfen, wenn das sogar solche große Männer anrührte? Diese im Gefüge des Seins zuweilen sichtbar werdenden Gedanken sind also da, sind nicht von uns geschaffen, sondern existieren gänzlich unabhängig von unserem menschlichen Denkapparat. Unsere Gehirne sind also nichts als Antennen, die zuweilen eine Welle dessen auffangen, was auch ohne uns als Gedanken über uns lebt. Vor dieser Erkenntnis müßte auch der.Nihilismus die Waffen strecken, denn sie beweist, daß der Mensch eben noch mehr als ein nur biologisches Tier ist: wir sind die einzigen Lebewesen der Erde, die erkennen können, daß unser Universum nach Gesetzen kreist! Es wurden also bewußt Wesen geschaffen, die erkennen sollen, das letzte Geheimnis anrühren dürfen..

In diesem Augenblick schlug eine Bombe in das Haus auf der anderen Straßenseite, riß es wie ein berstender Vulkan mit einem ungeheuerlichen Schlage auseinander. Der weißhaarige Pensionär rutschte von seiner Bank herunter, fiel auf die Knie, begann auf unverständliche Weise ächzend vor sich hin zu beten. Die Lehrerin riß ihre beiden Kinder an sich, stürzte sich mit einem irren Sprung an die Tür, schleifte die Kleinen am Boden nach. Die Reinmachefrau warf sich ihr an der Tür entgegen, hing sich wie ein zerrendes Gewicht an sie, schlug schließlich mit beiden Fäusten auf sie ein.

.Ich habe es ja gesagt“, schrie der Postbeamte, als triumphiere er, .wie im August wird es ..

Durch die Ritzen der Tür drang immer stärker gelblicher Rauch, gleichzeitig sank eine gefährlich anmutende Wärme in den Keller hinab. Hörte man von draußen nicht deutlich ein Knistern — wie das eifrige Fressen tausend feuriger Zähne?

„Ich lass' Sie nicht 'raus“, schrie die Luftschutzwartin, .ich lass' Sie nicht 'raus...“

Der Postbote nahm eines der am Baden liegenden Kinder auf den Arm, die hübsche Stenotypistin bückte sich mütterlich nach dem zweiten. Ihr Gesicht war jetzt so schneeig, daß ihr roter Mund wie ein Klecks wirkte. Sie sang dem Kinde sogar noch irgend etwas vor, aber ihre Stimme flatterte wie zerbrochen einher...

Der Professor drückte Frau Elisens Arm nur stärker an sich — schlief diese kleine Frau nicht wahrhaftig immer noch? Er sah wieder angestrengt auf sein Büchlein hinab, aber die Linien verschwammen, der gelbe Rauch machte sie immer weniger erkennbar. Da klappte er es ergeben zu, behielt es aber in der Hand. Ein Hustenreiz spannte auch seine schwache Brust, er kämpfte mit aller Kraft, um sie durch die Erschütterung nicht aufzuwecken. Aber daß sie so tief schlief, nicht einmal husten mußte...?

„Es scheint jetzt vorbei zu sein!“ rief die Luftschutzwartin endlich.

Der Professor preßte Frau Elisens Arm, da schlug sie die Augen auf, sah sich gleichsam verwundert um. Er klopfte mit dem Tintenstift auf sein Büchlein, sagte mit einem Tone merklicher Befriedigung: „Ich habe heute über das Christentum geschrieben...“

Die andern waren schon hinausgestürzt, sie waren also wiederum die letzten.

Er schwang das Bündel auf den Rücken, ließ ihr den Vortritt, reichte ihr dann den freien Arm.

.Gehen wir also!“ sagte er lächelnd.

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