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Der Tempel der „Unzähligen Oötter“

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Auch verregnete Sommertage haben ihren Zauber, ob dieser nun von den Menschen um uns oder der Landschaft die uns umgibt, uns zukommt, ist im Grunde gleich.

Grau und trüb hing der Regen aus dem tiefen Gewölk über dem See. Wir saßen auf der geräumigen Veranda, dem luftigen Obergeschoß des Bootshauses. Die Tropfen klopften auf das breitausladende Dach, rauschend brauste es auf die hohen Parkbäume nieder. Dahinter stand schlafend das große Haus. Wir hatten ein Windlicht auf den Boden gestellt und hockten herum wie um ein Lagerfeuer. Um uns stand die Regennacht. Unter uns schlugen die Wellen katschend an die Wände der schaukelnden Boote. Und daß Anders Merü bei uns saß, machte die Stunde zu einer außergewöhnlichen. Er war erst vor einer Woche aus Asien zurückgekommen, wo er sich als Mitglied einer Expedition fast zwei Jahre aufgehalten hatte.

Luzie brachte neuerlich starken russischen Tee, hüllte sich auch in eine der warmen Decken und hockte sich zu uns auf den Boden.

„Den Abschluß der sechsundzwanzig Himmel stellt im volkstümlichen Buddhismus Hinterindiens der siebenundzwanzigste Himmel, Nirwana, dar“, schloß unser Gast seine Erklärungen und-klopfte seine kurze Pfeife an seinem Absatz leer. Umständlich stopfte er sie wieder, und erst nachdem er sie, gleichsam den Handlungen einer kleinen Andacht folgend, in Brand gesetzt hatte, begann er wieder zu erzählen:

„Wir waren schon drei Tagereisen von Adschanta unterwegs zum Tempel der .Unzähligen Götter'. Immer wieder trafen wir einzelne Männer, die erst im Busch verschwanden, wenn sie unsere kleine Karawane näher kommen sahen.

.Späher“, sagte Karli mit einiger Besorgnis. Es gab hier nirgends Ansied-lungen. überall im Urwald lagen kleine Tempel und Tempelchen verstreut, oft schon recht verfallen, aber alle hatten sie ihre Hüter, die oft mit recht seltsamen und uns Europäern in ihrer Art unverständlichen Mitteln verteidigten, besser gesagt das Heiligtum vor unseren Augen zu bewahren suchten. Sie töteten selbst mit Bedachtsamkeit und Überlegenheit, wenn es ihnen notwendig schien, und empfanden es als Genugtuung ihren Göttern gegenüber. Das Seltsamste war wohl ein Tempelchen ganz tief im Urwald aus der Welt der Samsara, der Seelenwanderung, das von einem prächtigen Königstiger .bewohnt' und sozusagen bewacht wurde. Wir erlegten das herrliche Tier nicht. Es verzog sich, als es uns wahrnahm, und wir konnten uns zwei Tage dort aufhalten. Aber ich komme damit vom The-na ab. Wir waren also auf dem Weg zum Tempel der unzähligen Götter und wollten, da es Abend wurde, unser Nachtlager aufschlagen. Die Träger legten ihre Lasten ab und begannen in der Nähe brennbares Zeug für das Feuer zu suchen. Konde und Karli sorgten für das Abendessen. Das Flußufer war schlammig und die Fliegenplage fast unerträglich. Plötzlich stand ein Mann vor uns, das Schilf reichte ihm bis an den Hals. Er hob abwehrend beide Arme. Sie waren so mager, daß wir fürs erste zweifelten, ob das wirklich menschliche Arme sein könnten. Kopf- und Barthaare waren so verfilzt und zerzaust, daß es aussah, als trüge er eine dunkle Fellkappe auf dem Kopf. Die Augen überraschten. Ihr Blick war ruhig und ohne Haß oder Angst. 'Er deutete über den Fluß und hob wieder abwehrend die Arme. Wir fragten ihn in verschiedenen Eingeborenensprachen, aber er antwortete nicht. Er zeigte in seinen Mund und wir sahen, daß ihm die Zunge fehlte. Sie war ihm herausgeschnitten worden.

Während wir noch berieten, duckte er sich und war verschwunden. Sosehr wir auch suchten, er kam nicht mehr.

,Weg ist er, dagegen gibt es nichts zu tun', sagte Konde in seiner unerschütterlichen Ruhe, .Hauptsache ist, es gibt keine Krokodile im Fluß, ich freue mich auf ein Bad.'

Gegen Mitternacht weckte uns Mitteregger, der die Wache hatte.

,Ich sehe nichts, ich höre nichts, aber ich spüre, es ist jemand da, meinetwegen viele jemands', flüsterte er.

Wir weckten auch die schlafmüden Träger. Es konnte immerhin ein Uberfall möglich sein. Wir lebten schon über ein Jahr in der Wildnis, hatten viel erlebt und waren wachsam wie die Tiere geworden.

Außer den gewohnten Urwaldgeräuschen war die Nacht still. Nach kurzer Beratung legten wir uns wieder hin, nur anscheinend schlafend, hielten die Augen offen und horchten aufmerksam.

Und da kamen sie an, scheu und doch neugierig. Schemenhafte Gestalten, ohne Waffen, bis zur Brust im Dickicht stehend. So starrten sie zu uns herüber. Ihre Umrisse hoben sich gegen den besternten

Himmel. Ihre Köpfe glichen verfilzten Flachsbüscheln.

Die trägen Wasser des Flusses klucksten im Schilf.

Plötzlich sprangen wir auf, und es gelang uns, zwei dieser sonderbaren Geschöpfe zu fangen. Es stellte sich heraus, daß auch sie keine Zunge mehr im Munde hatten. Es waren bis zum Skelett abgemagerte Gestalten mit Augen wie verhungerte Waldtiere.

Nach langem brachten wir heraus, daß wir schon ganz nahe unserem Ziel waren. Mitten im Fluß lag die Schlangeninsel und auf ihr mußte der Tempel der .Unzähligen Götter' sein. Die Männer bejahten, immer wieder mit dem Kopf nickend, aber mit Zeichen großer Furcht in ihren Gebärden.

Konde schlug vor, die Männer gefesselt auf einem improvisierten Floß mit nach der Insel zu nehmen. Ich war dagegen, weil ich der Ansicht war, es sei besser, das Vertrauen dieser Leute zu gewinnen und daß sie uns, gut behandelt und ohne Schaden freigelassen, eher nützen würden denn als Gefangene. Es stellte sich auch in der Folge heraus, daß ich sehr recht getan hatte. Im Morgengrauen war das Floß fertig. Wir hätten zur Not auch waten können, das Wasser war grau und träge und nicht tief. Die Träger aber weigerten sich entschieden, in den Fluß zu steigen, und das Gepäck wollten wir unter keinen Umständen am Ufer zurücklassen. Ängstlich beobachteten die zwei Gefangenen unser Treiben, und als sie sahen, daß wir uns anschickten, nach der Insel zu fahren, gerieten sie in eine Art Raserei. Sie hoben die Arme, wiegten die Köpfe und rissen sich in völliger Verzweiflung Bart und Haare. Ich wollte ihnen durch Zeichen zu verstehen geben, daß sie frei seien und fortlaufen könnten, aber sie hörten nicht auf, uns mit Gesten zu beschwören, nicht nach der Insel zu gehen. Einer riß Lianen von einem Baum und wand sie sich wie Schlangen um Arme, Brust und Hals. Die Augen traten ihm aus den Höhlen und er ließ sich hinfallen, wie von schrecklichen Krämpfen geschüttelt, Er wollte uns offenbar den Schlangentod deutlich vor Augen führen. Als sie sahen, daß wir von unserem Vorhaben nicht abzubringen waren, wurden sie plötzlich ruhig, und ihre Augen bekamen wieder den rätselhaften Glanz, eine sanfte Abgeklärtheit, die ich nicht zu deuten wußte und die mich erschütterte. Sie verschwanden im Busch. Bald aber tauchten sie wieder auf. Auf der nackten Brust trugen sie den schwarzen Fleck, mit Holzkohle hingezeichnet, gerade

über dem Herzen. Wir hatten dies schon bei einigen Totenfeiern beobachtet. In den Armen trugen sie die riesigen, sattblauen Blumen, die die Blume des Todes hieß. Jedem von uns legten sie etliche dieser prächtigen Blüten in die Hände. Es war also für sie klar, daß wir auf der Insel sterben würden. Unsere Träger begannen zu heulen und weigerten sich, das Floß zu besteigen. Konde riß sein unendlich langer Geduldfaden und er sagte, man müsse die Narren mit dem Schießeisen zum Gehorsam zwingen, und so geschah es auch.

Die beiden seltsamen Männer blieben am Ufer zurück.

Wir landeten auf der Insel und es empfing uns eine Schweigsamkeit, die uns irgendwie bedrückte. Nichts regte sich. Kein Vogel sang, kein Tier wurde flüchtig. Sogar der Wind schlief. Mit dem Buschmesser mußten wir uns einen Weg bahnen. Die Insel war klein und in einer halben Stunde etwa leicht zu umgehen. Der Anblick aber, der sich uns bot, war so zauberhaft, so überraschend schön, daß wir für Augenblicke jede Vorsicht außer acht ließen.

Und doch geschah nichts. Keine Schlange war sichtbar.

Vor uns ragte ein Tempel in den seidigen Himmel, ein Tempel von so seltsamer, vollendeter Schönheit, so gut erhalten und von so eigenartigem Reiz, wie wir auch annähernd noch keinen gesehen hatten. Die zahlreichen, tatsächlich unzählbaren Buddhas, die den Bau zierten, waren alle völlig gleich geformt, klassisch in ihrer Form, von der Wirklichkeit abstrahiert, sitzend mit gekreuzten Beinen in Yoghistellung, also aus der Gupta-periode (320—470) etwa.

Es waren Buddhas ohne Ende viel. Das war also der Tempel, den wir suchten.

Konde und Mitteregger knipsten und knipsten von allen Seiten. Uberall wucherte hier die „blaue Blume des Todes“. Wir suchten vergebens nach einem Eingang in den Tempel und wir würden wohl etliche Tage gebraucht haben, um die unteren Mauern von wuchernden Pflanzen und prangend blühenden Blumengewinden freizulegen. Wo mußte doch ein Eingang zu finden sein.

Bald rüsteten wir zum Nachtlager, damit uns die Dunkelheit nicht in dieser Wildnis überraschen konnte.

Bis Mitternacht war es ruhig, dann hob plötzlich ein Lärm an wie von Hunderten von Peitschen, die auf nackte Menschenleiber niederklatschten. Es war grauenhaft.

Wir horchten. Da gewahrten wir im Mondschein einen Mann auf halber Höhe des Tempels. Er stand hochaufgerichtet und schlug mit einer langen Peitsche an die Mauer. Der Widerhall war so vielfältig und rief das grauenhafte Klatschen hervor. Plötzlich begannen unsere Träger zu winseln und sich auf dem Boden zu wälzen. Es war unheimlich, und nun hatten auch wir dieses schauderbare Gefühl, von Peitschen gepeinigt zu werden.

Ein entsetzliches Hohngelächter zerriß die Nacht, der Widerhall war so grauenvoll. Es war, als lache jeder Baum. Es fror uns vor Schauder, obwohl wir in der Wildnis schon allerlei Ähnliches erlebt hatten. Als wir wieder zum Tempel blickten, war der Mann verschwunden.

Wir blieben wachend bis zum Morgen.

Am hellen Tag besprachen wir das Ereignis der Nacht, es war nun in der hellen Sonne ein wenig anders und weniger schrecklich.

,Der Tempelhüter — wir müssen uns auf alle Fälle vor ihm in acht nehmen', riet der bedachtsame Konde.

Die Träger waren so verstört, daß sie nicht einmal mehr auszureißen wagten. Sie drängten sich an uns wie ängstliche Schafe.

Plötzlich streckte Karli die Hand aus. ,Das Tori' jubelte er, ,das Tori' Seltsam, daß wir es am Tage vorher nicht wahrgenommen hatten. Es war doch ganz deutlich zu sehen. Wir berieten, ob wir alle in den Tempel gehen sollten. Wir kamen überein, Mitteregger sollte mit den Trägern zurückbleiben. Innerhalb des Pförtchens verbreiterte sich der Gang zusehends und ein hohes Portal empfing uns vor dem Inneren des Tempels. Dieses buddhistische Heiligtum war unbeschreiblich schön. Wir hatten auf unserer langen Reise noch keine solche Pracht gesehen. Unzählige vergoldete Buddhas standen, besser gesagt, hockten an den Wänden bis hoch hinauf, von wo irgendwie ein seltsames Licht eindrang.

Plötzlich nahm mich Konde“ am Arm. ,Dort oben in jener Nische stand eben noch ein Mann. Hochaufgerichtet, in königlicher Haltung, wie ein Sieger.' Wir konnten ihn nirgends mehr entdecken. Konde wurde ärgerlich, er hatte ihn doch eben noch gesehen. Das Sonderbarste war der Sand des Bodens, er war von zahllosen Rillen durchzogen, wie von Tausenden von Schlangenleibern durchfurcht. Das Verschwinden des Mannes da oben an der Wand beunruhigte uns. Wir suchten den Ausgang. Entsetzen überfiel uns, es waren viele Nischen, aber in keiner fanden wir die Pforte, durch die wir hereingekommen waren. Es war uns klar, daß wir in eine Falle gegangen waren. Wir standen wie erstarrt. Mitteregger und die Träger draußen konnten nur wenig oder nichts für uns tun. Unsere Stimmen hallten von den Mauern, als wären wir Tausende von Männern. Es half auch nicht, daß wir unsere Schußwaffen bereit hielten. Der Feind war unsichtbar. Zudem verblaßte das Licht und es begann finster zu werden im riesigen Gewölbe.

Ich fühlte mich am Arm gepackt und fortgerissen und wehrte mich verzweifelt, aber eine Hand legte sich wie eine Kralle auf meinen Mund. Einen Augenblick spürte ich mich losgelassen und jemand streichelte, wie um mein Vertrauen werbend, meinen Arm, eine Hand umfaßte meine Finger, wie um mich zu führen. Im ungewissen Licht, an da s sich meine Augen gewöhnt hatten, sah ich einen der stummen Männer, die wir als Gefangene gehalten hatten, neben mir und hinter uns den zweiten Mann mit meinen Kameraden. Wir verstanden, daß sie uns befreien wollten und folgten ihnen willig. Der Gang war schmal und wir konnten nur hintereinander gehen. Mit einemmal wurde es wieder heller, wie Morgengrauen, das Gewölbe weitete sich und wir erkannten, daß wir auf halber Höhe an der Wand des Tempelsaales auf einem Gesimse waren, das von unten nicht einzusehen war. Hier mußten wir kriechen, um nicht entdeckt zu werden. Ein vorsichtiger Blick hinab ließ uns schaudern. Der Boden der Halle, auf dem wir vorhin noch gestanden hatten, war angefüllt mit tausenden Schlangen. Vom Sand war nichts mehr zu sehen, nur Schlangenleiber bedeckten ihn. Schlangen aller Art knäulten und krümmten sich, und aus dem Gewimmel ragten die breiten Häupter der Brillenschlangen, der zischenden Kobra.

Und über allem hallte von irgendwoher ein Gelächter, daß die Wände dröhnten in seiner fürchterlichen Gewalt.

Unsere Führer drängten vorwärts. Ein langer schmaler Gang nahm uns auf, dann war mit einemmal der Himmel über uns und viele, viele Blüten der Blume des Todes. Wir wollten unseren Befreiern danken, aber sie waren nicht mehr unter uns.

Hastig halfen wir Mitteregger und den Trägern die Lasten auf das Floß verstauen, um so rasch als möglich von der Insel fortzukommen. Erst auf dem treibenden Fahrzeug, das nur langsam sich weiterbewegte, erzählten wir Mitteregger unser furchtbares Erlebnis.

,Da wäre unsere Reise nun zu Ende gewesen', sagte Konde in seiner trockenen Art.

In leuchtender Schönheit ragte der Tempel in den weiten, blauen Himmel, sieghaft und unantastbar. Immer mehr verbarg er sich hinter den Urwaldbäumen. Unser Floß trieb langsam dem anderen Ufer zu. Im trägen Wasser schwammen zwei menschliche Körper, verhingen sich an den Uferstauden und wurden wieder weitergetragen, hinter ihnen zog sich ein breiter, roter Streifen auf den trüben Fluten.

Wir fischten die beiden heraus. Sie waren noch warm. Als wir uns über sie beugten, erkannten wir sie. Es waren die beiden Männer, die uns aus dem Tempel geführt hatten. Ihre Augen standen offen und hatten den seltsamen, sanften Glanz im Tod nicht verloren.

,Sie haben gegen das Gesetz des Tempels gehandelt', sagte einer der Träger. ,Sie haben euch wieder zu Lebenden gemacht durch ihre Tat. Solltet ihr leben, mußten sie sterben. Sie wußten dies am Anfang schon.'

Wir begruben sie mitten im Urwald.“

Andre Merü schwieg und sah nachdenklich in die Flamme des Windlichtes. Unten schlugen die Wasser klatschend an die Bootswände.

Luzie hob das Licht vom Boden auf und trug es uns voran durch den nächtlichen, verregneten Park zum Haus.

Im Buchsbaum raschelte es. Wir fuhren zusammen.

„Der Igel“, sagte Andre Merü und lächelte.

Wir hatten an Schlangen gedacht und es graute uns, wiewohl es wirklich nur der Igel gewesen war.

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