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Shakespeare und seine Geschichten

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Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer hat gemeinsam mit Walter Richartz Fabeln zu den Dramen von William Shakespeare nacherzählt. Angeregt wurde er dazu von den Tales about Shakespeare der beiden Engländer Charles und Mary Lamb. Dabei gelangen Widmer manche einführende Passagen von meditativer Eindringlichkeit. Die FURCHE bringt nun aus dem beim Diogenes Verlag, Zürich, erschienenen Bänden „Shakespeares Geschichten“ essayistische Betrachtungen zu „Coriolanus“, „Cäsar“, „Titus Androni-cus“ und „Liebesleid und Lust“.

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Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer hat gemeinsam mit Walter Richartz Fabeln zu den Dramen von William Shakespeare nacherzählt. Angeregt wurde er dazu von den Tales about Shakespeare der beiden Engländer Charles und Mary Lamb. Dabei gelangen Widmer manche einführende Passagen von meditativer Eindringlichkeit. Die FURCHE bringt nun aus dem beim Diogenes Verlag, Zürich, erschienenen Bänden „Shakespeares Geschichten“ essayistische Betrachtungen zu „Coriolanus“, „Cäsar“, „Titus Androni-cus“ und „Liebesleid und Lust“.

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Coriolanus

Es soll eine Zeit gegeben haben, da lebten auf der Erde nur ein Mann und eine Frau. Sein Atem war ihr Atem, ihr Herzschlag seiner. Sie wärmten sich in derselben Sonne und badeten im gleichen Regen, sie teilten die Früchte der Bäume und labten einander an stillen Quellen. Nie ging die Sonne über ihnen unter, denn sie begleiteten sie auf ihrem Lauf rings um den Erdball. Immer war Mittag. Hand in Hand gingen sie auf dem Gürtel des Äquators über die noch nicht auseinandergeborstenen Kontinente. Sie kletterten über Gebirge, wateten durch Wüsten, durchschwammen Flüsse und hieben sich durch Urwälder. Sie wurden nie müde. Die Frau legte dem Mann Moose auf Kratzwunden, und der Mann zog der Frau Dornen aus dem Fuß. Sie sahen, wie, durch das stetige Ausschreiten, der andere kräftiger, größer und freier wurde. Sie sahen später, wie sich ihre Gesichter mit Runzeln durchzogen und ihre Haare erbleichten. Ihr Atem wurde schwerer, und eines Tages - es war immer derselbe Tag gewesen - bemerkten sie, daß, zum erstenmal, die Sonne weit vor ihnen herflog. Sie konnten sie nicht mehr einholen. Sie setzten sich keuchend auf einen Stein. Schweigend sahen sie zu, wie Schatten - sie hatten kein Wort für die schwarzen Abbilder ihrer Körper - aus ihren Füßen wuchsen, und wie dann die Sonne in fernen Bergen versank, in einem unglaublichen Feuerbrand, wie es Nacht wurde- auch für die Schwärze, in der sie sich nicht mehr erkennen konnten, kannten sie kein Wort -, daß es Sterne gab, einen Mond. Nachtvögel schrien. Sie hielten sich an den Händen. Sie fröstelten und starben.

Als die Sonne zurückkam, waren überall Menschen. Sie drängten sich nun in Höhlen zusammen, auf Stegen über Wassern, in Hütten, die von Palisaden umgeben waren, in Burgen, in Häusern zwischen gewaltigen Stadtmauern, in Städten mit rauchenden Kaminen. Niemand mehr folgte dem Lauf der Sonne. Alle gingen in alle Richtungen, hochaufgerichtet am Tag, geduckt in der Nacht. Die Kontinente brachen auseinander, und die Wege, die dem Gürtel des Äquators folgten, wucherten mit Unkraut und Brombeergestrüppen zu. Die Menschen vergaßen die Sonne. Sie atmeten jeder möglichst viel Luft ein und möglichst wenig aus. Sie trügen Kleider, die jedes Licht tausendfach reflektierten. Sie sahen zu, wie Menschen - zuweilen ihre Feinde, zuweilen ihre Freunde - von Kaisern geköpft oder von Königen erwürgt wurden. Arme Schweine. Sie begründeten, wieso gerade jetzt die Welt besonders schlecht war. Sie sprachen, wenn sie jung waren, wie wissende Weise, wenn sie alt waren, wie narbenlose Draufgänger. Alle waren immer Sieger. Alle verstanden alles. Alle waren nie allein. Wenn sie allein waren, fühlten sie ein tiefes Entsetzen in sich. Dann war alles in ihnen Eis und Schutt. Hilflos standen sie dann vor kalten Spiegeln und tappten nach der Hand des Ebenbilds. Manche machten sich auf, einem undeutlichen Ruf aus tiefsten Zeiten folgend, und gingen der Sonne nach, ohne Schatten, über Äk-ker, Autobahnen, Sümpfe, Moose, Fabrikanlagen. Sie verkamen. Ihre Wege endeten an den Ufern der neuen Meere oder in staubheißen

Hochländern. Fremde Polizisten fremder Staaten griffen sie auf, und die Sonne eilte ihnen endgültig davon. Sie hatten nicht mehr das Herz und die Lunge für so etwas und starben in Neumondnächten in Provinzgefängnissen, einsam und klein. Die Großen zu Hause, wenn sie in ihren Zeitungen, den Zeitungen der Großen, von den Schicksalen der zerlumpten Sonnenwanderer lasen, lächelten und nickten sich zu.

Julius Caesar

Seit immer klammern sich die Menschen an das, was ist, und seit nie kümmert sich die Zeit darum. Die Menschen wollen die bleiben, die sie sind, in Häusern, die dastehen wie Felsen. Wie die Hasen wünschen sie sich ein ewiges Ostern, aber schon stürzen die Adler aus den Himmeln und verwandeln ihren Frieden in ein Blutbad. Immer erneut sitzen Adler in Fellfetzen und Darmresten, und weil das so ist, denken alle Menschen seit Anbeginn der Welt, daß früher alles besser war. Aber auch dieser Gedanke macht sie krank. Sie wollen selber die sein, die, schneller als die unerbittliche Zeit, das Antlitz der Erde tätig verändern. Plötzlich wollen sie eine neue Welt. Mit heißen Köpfen stürmen die, die gerade noch in den dunkelsten Ecken ihrer Hütten zusammengekauert gewesen waren, in eine hehre Zukunft. Sie drehen sich nie mehr um nach dem, was in ihrem Rücken stirbt. Nie dürfen sie daran denken. Nie dürfen sie darüber weinen. Das macht sie stark. Das macht sie fühl- und leblos, sie, die die lebendigsten von allen sein wollten.

Titus

Andronicus

Die Hütte, in der ein Mensch wohnt, mag für diesen ein Raum sein, in dem er auf und ab schreitet ein Leben lang, ohne wissen zu wollen, was sich tut hinter der Hecke des Nachbarn. Seine Hütte, die Hütte des Nachbarn, die nächsten Hütten rechts und links mögen in einem Dorf stehen, das zu durchmessen ein rüstiger Mann eine halbe Stunde braucht, und dieses in einem Land, an dessen einem Ende der Morgen graut, wenn an seinem anderen Ende die Menschen die Kerze ausblasen. Und dieses mag der Teil eines meerumspülten Kontinents sein, und dieser ist gewiß ein Teil der Erdkugel, die so groß ist, daß ein Mensch sie nicht in vierzig Jahren zu umwandern vermag, und wenn er's versucht, und wenn er's vermag, so wird er doch in stillen Winternächten innehalten im knirschenden Schnee, in den kalten Himmel blicken und denken, daß sein Wandergebiet - als junger Mann ist er aufgebrochen, und als Greis wird er an denselben Punkt gelangen - nicht mehr als ein Steinbrocken ist, der durch eine eisige Leere rast, stumm und gnadenlos, vorbei an gnadenlosen und stummen Steinbrocken, die, wenn eine Sonne sie bescheint, Sterne heißen, und daß hinter diesen Sternen Sterne durchs All stürzen, die er nicht sieht, und daß auch diese noch die allernächsten sind, und daß hinter diesen Sternen Gestirne fliegen, die niemand je gesehen hat, von bloßem Auge nicht, nicht mit Fernrohren oder Radiosonden, und daß hinter den nur vermuteten Gestirnen neue Nebel aus glühenden Sonnen und eisigen Monden anfangen mögen, mit dem unsern verbunden oder nicht - aber wie soll ein Nichts zwischen wirbelnden Nebeln beschaffen sein? -, und daß endlich hinter jenen Gaswänden, in die auch das Denken der Menschen nie gedrungen ist, immer neue, immer licht- und zeitlosere Welten beginnen könnten. Dort hörte der Wanderer dann, könnte er sich dahin begeben, immer deutlicher das Sirren dann Surren dann Toben dann Tosen dann Donner des ersten Tags, an dem dies alles plötzlich da war, mit einem Knall, der so unfaßbar war, daß Wir heute noch, wenn wir in eii^ämen Nächten die Ohren in den Himmel richten, sein Echo hören, oder ist dies schon der Widerhall unseres Endes? Von dort her gesehen wäre die Erde nichts, die Menschen auf ihr wären nichts, der Weg des Lebens eines Menschen hätte nicht die Länge der Breite eines Haars, und die Dauer seines Daseins wäre nicht das Aufflammen eines Streichholzes.

Liebes Leid und Lust

Auf dieser Erde gab es von jeher -wenn wir von den ersten paar Jahren absehen - verwilderte Wälder und Gärten, deren Bäume zu Kuben zurechtgestutzt waren, das Trällern von Eseltreibern und die Koloraturen von Sopranen, die kuhwarme Milch im Becher und den Champagner im Glas, die nackten Menschen und die in Gewänder gehüllten, das Wildschwein und das zahme, das Herzbeben des Bauern, der auf der Leiter im Fenster seiner zukünftigen Freundin steht, und den unsichtbaren zustimmenden Augenschlag der Dame, die eben ein billet doux gelesen hat, Löwen und Katzen. Seit immer versuchen die tierigen Menschen - welcher kluge Sperling, welcher weise Elefant täte das? -, sich über ihre Tierig-keit zu erheben und Ordnung in das Chaos ihrer Köpfe und Herzen zu bringen.

Immer mehr füllt sich die Welt mit rechten Winkeln, geraden Geraden und korrekter Ortographie an. Es ist dabei, als wollten wir die Luft des Weltalls mit einem Teelöffel abschöpfen. Wir schätzen die Arbeit, weil wir uns selber nicht gewachsen sind. Wir verehren den Staat, weil er unser Durcheinander in Regeln bindet. Wir mögen die Kultur, weil sie unsre Natur beruhigt. Darum hassen wir Kultur, Staat und Arbeit. Darum hassen wir uns. Wir lieben das wildwachsende Gras und reißen es aus. Wir lieben den nackten Menschen und hüllen ihn in Gewänder. Wir liegen die Freiheit und nehmen sie uns weg.

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