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Es war einmal der Klaunzerberg

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ln diesen Tagen werden die „Weihnachtsgeschenke für Katastrophenopfer“ an die von den schrecklichen Unwettern im vergangenen August und November Betroffenen verteilt. Doch viele Kärntner und Tiroler Bauern stellen sich wiederholt die Frage: Und wann wird es wieder zu solchen Unwettern und Katastrophen kommen? Sollen wir wieder aufbauen, nur um das Geschaffene abermals zu verlieren?

ER LIEGT SONNSEITIG OBER MATREI in Osttirol. Ein früher mit Ackerbau, Getreide, Saatkartoffel, in letzter Zeit hauptsächlich mit Grünland, Wiesen kultivierter, eher steil als bloß geneigter sonnseitiger Berghang. An ihm neun Bergbauernhöfe, in Abständen von einigen 100 m über den Hang verteilt, erschlossen und verbunden mit einem zwar steilen und schmalen, aber immerhin nicht nur mehr Karren-, sondern passablen Wirtschaftsweg. Ausgang und — wie für das ganze Matreier Becken — auch für den Klaunzerberg Herzstück ist die Kirche am Fuß dieses •Güterweges und des Klaunzerberges, die mächtige Pfarrkirche mit breitem Turm; rundum gebettet vor kunstvoll geschmiedeten Kreuzen die Berge. Wibmer, Lublasser, Rainer, Preßlaber, Thimmelthaler und wie sie alle heißen.

Groß sind die Wirtschaften nicht, die am Wege liegen; drei bis fünf Hektar und etwas Wald, im Stall sechs und manchmal zehn Kühe, mit oft sehr beachtlichen Leistungen bei gutem Aussehen, züchterischer Qualität; zur Ergänzung der Futtergrundlage natürlich Almrechte, einige Stunden entfernt etwa im Tauerntal; die Arbeit Handarbeit, auch wenn auf zwei Höfen Traktoren Zugarbeit übernehmen. Die Familien sind kinderreich; das Wirtschaften hier verlangt viele Hände, geschickte Hände — und findige Köpfe — und verlangt nie erlahmende Hände und harte Lebensfrohheit.

FRÜHER GAB DER BODEN, der Wald, was die Familie benötigte. Das ist heute nicht mehr so. Die Lebensansprüche derer da unten und jener da draußen, wo die Täler breiter werden und in die Ebene verlaufen, begnügen sich nicht mit den Speckknödeln am Sonntag, dem Beisam- merisein bei der Sonntagsmesse und ein wenig Besuche machen sowie dem stillen Zuhause. Aber wenn die Ansprüche auch noch bescheidener sind, sehr viel muß dennoch zugekauft werden. Freilich, man versteht viel und gutes Futter zu erzeugen, viel Milch geht zur Sennerei, die Viehversteigerungen in Lienz sind sehenswert ob der prachtvollen Tiere. Aber alles zusammen nährt dann doch nicht mehr die ganze Familie. Nacheinander müssen die Söhne auswärts „ins Verdienen“ gehen. Gut, wenn wohl ausgebaute Wege und Arbeit im benachbarten Wald, beim Straßen- und Wildbachverbau, in der Säge und der Fremdenverkehr Arbeitsmöglichkeit und Verdienst bringen. Welchem von Asphalt, Lärm, Hast, stickiger Luft und allzuviel Gedränge geplagten Großstädter gefiele das nicht, so hoch oben, wie in einem Adlerhorst, vielleicht beim Huber oder beim oberen Thimmelthaler, zu einer Jause einzukehren, mit ihnen zu wohnen. Sie haben mehrere Zimmer hergerichtet und das schönste daran ist immer die „Lab’n“, das Gangl, von dem aus — aber schwindelfrei muß man sein — die ganze Osttiroler Herrlichkeit vor einem ausge- breitet liegt.

Man würde es kaum glauben, was diese Bergbauem alles leisten. Ein wohlgebautes Tiroler Haus, die wohnliche Küche, die Stube, die Zimmer für die Gäste; ein mit moderner Aufstallung versehener Stall, steile, aber üppige Wiesen, gesunde Kartoffel, hoch hinauf oft noch Silomais. Überall unter Einsatz moderner Wirtschaftsweise: Seilzug für Ackerbau oder Heutransport, Güllebehälter, Schwedenreuter,

moderne Unkrautbekämpfung.

Sie machen kein Aufheben von sich; den vom Regenguß zerstörten Weg richten sie; den stundenlangen Marsch ins Marktl gehen sie, zwar nicht weniger mühsam, aber unverdrossen; ihre Einkünfte sammeln sie,

sparsam Schilling um Schilling. Aber — sie sind die Herren „ihres Landes“; sieh sie dir doch an, wenn sie dich einladen, in ihr Haus zu treten; sieh sie dir doch an, wie sie dir die Jause sorgsam, fast festlich, reichen; sieh sje dir doch an, wie sie fest stehen auf ihrem Grund.

WER SIEHT NICHT DIE PROBLEME, die sich dahinter bergen; die Söhne, die verdienen wollen, und müssen, die Töchter, die ihren Weg suchen zwischen ihrer nie endenden Hausarbeit und dem leichten Geldverdienen in den Läden und Gaststätten da „unten“. Wie sie kaum fertig werden mit der vielen Arbeit im Haus, im Stall, auf den Hängen, auf der Alm, im Wald. Jung schon gehen sie gebückt, und als Alte tragen sie ihre vielen Narben. Die Mutter ist immer beschäftigt; nur am Sonntag, da ist sie allein, hütet das Haus und sitzt auf der Bank vor dem Haus, dort, wo man hinuntersieht ins Marktl, und hört die Kirchenglocken läuten oder die Schützenmusifc zum Tanz aufspielen.

Man kann es sich an den Fingern abzählen, was bleibt von den Einkünften aus Milch, Vieh und Wald. Und man als Soll nicht vergißt, was alljährlich dazugelegt werden muß an Schweiß und Überlegung, damit diese Heimat erhalten bleibt. Denn hier, noch weniger als anderswo, wird nichts von selbst. Aber es bleibt auch nichts von selbst.

ÜBER DIESE HEIMAT, über diesen Klaunzerberg, war in den späten Augusttagen 1966 (und wie über ihn auch über so viele Bergbauernheimaten Oberkärntens und Osttirols) das Schicksal schonungslos mit dem Schrecken der Zerstörung hinweggegangen. Gegensätze gab es im Gebirge ja immer. Wer wüßte nicht, daß man sich Gapfelglück, Sonnenschein, freie Sicht und labende Weite immer noch hatte erkämpfen, ertrotzen müssen mit nebeligen Tagen und peitschendem Regen. So auch diesesmal. Welch ein klarer, farbenleuchtender Tag war es gewesen. Aber schon am „Frauentag“ begann der Regen, der darauffolgende Dienstag brachte die Regengüsse. Die Nacht zum Mittwoch war erfüllt vom nassen Rauschen; die Wiesen waren regenschwer. Und waren noch vorerst die Vögel von Ast zu Ast gehüpft, die Schwalben niedrig gezogen, jetzt waren die Vögel wie tot, nichts rührte sich, es goß nur aus unerschöpflichem Himmel. Und mehr und mehr kam ein anderes Geräusch dazu, das Rauschen der zu

Bächen gewordenen Quellen, die zum wilden Strom gewordene Isel im Tal unten. Sie stieg und stieg; werden die Brückenpfeiler das aus- halten, wird der Tauernbach sie zum Überströmen bringen, und der Bretterwandbach, er, die ewig drohende Mahnung für Matrei, werden oben die Wehren, herunten die Becken, seine Wassermassen bewältigen können?

DAS UNGLÜCK KAM AUF BREITER FRONT. Als wir in der Nacht den Klaunzerbergweg hinuntergingen, war er an mehreren Stellen bereite überflutet. Insbesondere dort, wo die neue Felbertauernstraße die Bergschulter aufreißen mußte, war das Wasser unbezähmt; beim „Kir- cher“ ergoß es sich in breitem Strahl den Weg hinab, in die Häuser hinein, unten in den Friedhof und über den Kirchenplatz. Im Markt war es ein Hin und Her von Gestalten; Bürgermeister, Feuerwehrmänner, Ortsansässige, Sommergäste; die Sirene tönte eindringlich in die unter den Regenschauern von Neonleuchten gespenstisch erhellte Nacht. Aber alles wurde übertönt vom verdächtigen Rauschen des Bretterwandbaches.

Über den im Nebel schemenhaft erleuchteten Hang stiegen wir in der Nacht Wieder bergauf, nicht ahnend, daß das der letzte Anstieg über den Klaunzerberggüterweg sein sollte. Die Nacht war erfüllt vom stetigen Rieseln des Regens und Rauschen naher und ferner Bäche und aus Bächen gewordener Flüsse, Ströme.

Am nächsten Morgen gab es den Klaunzerberg nicht mehr, nicht mehr als Siedlung von Menschen. Dutzende größere und kleinere Erdrutsche, Erdmuren hatten den Hang zerrissen. Wie Burgen stehen jetzt die Höfe auf den verderblichen Grasschultern, vom Güterweg ist höchstens noch ein silhouettenbafte Spur zu sehen.

Oben beim „Gönn“ haben sie das Haus verlassen müssen und sind zum „Steiger“ geflüchtet, und hätte die Mutter nicht im letzten Augenblick noch etwas mitnehmen wollen, wäre sie vor den Augen der Kinder von der Mure mitgerissen worden. Das Haus des Kriegsversehrten Pat- terer wurde rechts und links von Muren eingeschlossen. Wo einst in einem Wäldchen ein Quell lief, ist Wäldchen und Quell verschwunden — ein Bach ergoß sich und eine Schlucht tat sich auf. Der Bach beim „Kircher“ ist ein reißender Wildbach geworden.

Den oberen Thimmelthaler hat es zunächst verschont. Dann aber riß der Hang, und — es hatte am Don nerstag sogar zu regnen aufgehört — am Nachmittag gab es auf einmal ein Poltern, Gurgeln, Mahlen und ein aus dieser Gegend bisher noch nicht gehörtes Rauschen: aus dem Wald war eine Mure aufgebrochen und ergoß ihren Brei und Schlamm, jäh und unablässig, als einen dicken Strom hinunter, immer weiter hinab.

NUN SITZT JEDER HOF wie in einem Gefangenenhaus, zunächst tatenlos, denn noch ist alles in Bewegung. Und was sich bewegt hatte, ist nun Schlamm und Brei und Stein und Wasser. Donnerstag fliegen die Schwalben wieder; Vogelstimmen kommen wieder hervor, es hört zu regnen auf, wir schöpfen Hoffnung. Wir suchen einen Weg ins Tal, möglichst durch Wald, über von Bäumen verwurzeltes Land, möglichst fern von Quellen, und erreichen auf Umwegen den Markt. Per Bretterwandbach hatte gehalten, aber sonst war das Verhängnis los: das E-Werk ausgefallen, kein Strom, kein Fernsprecher, keine Straßenverbindung, Notstand ausgerufen, alles, was Hände hatte, beim Helf en; Brot wurde bald Mangelware, Milch ausverkauft.

Und vom Tale aus sah man erst richtig, wie die Hangsiedlung Klaunzerberg mit breit aufgerissenen Wunden dem Tal, dem Himmel ihr Leid klagte.

DER BAUER BICHLER ABER, wie das schon seine Vorfahren getan, nahm den Buckelkorb, tat die 20 Liter Milch (die Kühe gaben Milch wie all die Tage vorher, aber nie mand konnte sie abfahren) in die 20-Liter-Kanne, nahm den Stock zur Hand, stieg ab ins Tal, Milch zu bringen, und — nach soviel Vernichtung all der mühsamen Arbeit erst recht nötig — Geld für den Hof.

Tat den Weg und setzte so den Weg fort, wie das alle vor ihm auch getan hatten. Und der obere Thim- melthalersohn nahm die Haue, um den Heuschober und das darin befindliche Heu von der schlammigen Erde zu befreien. Und er und sein Vater legten das Gras, das von der Mure nicht überflutet, auf die Reuter, und die Mutter mit den Kindern wusch die Wäsche und die flatterte, als ob tiefer Friede wäre, nun im trägen Wind.

Doch sie fragen sich: wie soll es weitergehen auf dem Klaunzerberg? Wie aber, wenn Regenströme nun jedes Jahr Heimat und Arbeitsstätte und Glück überfallen? Vielleicht kann man Wildbäche abfangen, vielleicht Überflutungen ableiten: wir haben den Wald doch oben gelassen, den Nässepolster nicht geschlägert; war es früher besser, als wir Getreide bauten und die Hänge Acker waren? Sind ės nun unsere Wiesen, das aus Arbeitsgründen bevorzugte „Grünland“, und weil sich dies übermäßig vollsaugt, daß uns nun Erde und Unterboden herunterrutscht?

230 mm Regen in drei Tagen sind mehr, als wir jemals erlebten, und Bedrohung ist geworden für uns der Wetterbericht, der ein „Tief in Oberitalien“ ankündete. Muren und Erdrutsch hat es bei uns schon immer gegeben. Immer schon wurden sie von fleißigen Händen, von unermüdlichen Buckeln hinaufgetragen, hinaufgekarrt. Können wir aber einen ganzen Berg hinauftragen? Dürfen wir unseren Berg hinauftragen, damit er nur wiederum herunterrutscht und uns einmal begräbt? Ist die Zeit des Klaunzerberges abgelaufen? Abgelaufen ganz anders als menschliches Sinnen es denken könnte?

DÜRFEN WIR KLEINMÜTIG SEIN, wo doch vor uns so viele andere Generationen Gleiches zu bestehen hatten; wo der tedmische Geist des Österreichers schon so viel große Aufgaben gemeistert hat? Haben wir denn nicht wieder gesehen, wie sie alle Zugriffen, wie sie über sich hinauswuchsen?

Wir werden nicht nur zugreifen, sondern nüchtern forschen und wägen müssen: Ursache, Weg, Ziel. Es geht um mehr als um diesen und jenen Hof, es geht um unser Alpenland Österreich.

Immer schon gab es Höfe, die unabweislich gehen mußten; immer aber gab es den Kampf, nicht um die Erhaltung von ein paar Joch Wiesen und ein paar Stück Vieh, sondern um das gestaltete Land und seine menschliche Geborgenheit.

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