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Digital In Arbeit

Wind, Sand und Heuschrecken

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ÜBER NACHT WAR ER GEKOMMEN, war durch die Moskitonetze der offen stehenden Fenster in die Wohnungen eingedrungen und hatte alles Flächige mit einer zentimeterdicken graugelben Schichte bedeckt. Er zerrte an straffgespannten Drähten der Licht- und Telephonleitungen, die wie überspannte Nervenstränge vibrierten, und trieb seinen 'derben Spaß mit den grünen Eisenläden der Fenster und Balkontüren, die er krachend gegen die Wand schleuderte, so daß die wochenmüden Menschen aus schwerem Sabbatschlaf zu früher Stunde aufschreckten. Und als die Verstörten durch die erblindeten Fenster hinausstarrten, bot sich ihnen ein ungewohntes Bild: Im fahlen Licht der verhüllten Sonne glimmerten Millionen Sandkörnchen, die der Sturm so schnell vor sich hertrieb, daß das Auge ihrer Bewegung gar nicht folgen konnte und sie daher unbeweglich in der Luft zu stehen schienen, ein flimmernder, gelbroter Schleier, der sich schwer wie ein Leichentuch über Jerusalems Berge legte und alles Leben zu ersticken drohte. Und unter dieser Decke heulte es atembeklemmend und rüttelte an den Grundmauern der festgefügten Häuser, daß sie zu bersten drohten.

Nicht alle Bewohner Israels hatten die Sturmesnacht in ihren Betten friedlich durchschlummert. Die Sandböen, die sich an den Bergesgraten brachen, stürmten um so hemmungsloser durch das flache, offene Land und rissen alles mit sich fort, was nicht fest stand …

IN EINEM KIBBUZ DES NEGEV, des südlichen Wüstentejls Israels, war an diesem Freitag Festtag. Aus dem fernen Tel Aviv war eine Künstlertruppe auf Besuch gekommen, um hier das Weekend zu verbringen und den Männern der Arbeit einen Hauch der mondänen Großstadt mitzubringen. Die Schauspieler gaben ihr Bestes, und bald war das ganze Auditorium in den. Bann, ihres Vortrages geschlagen. Und keiner merkte, daß es draußen zu stürmen begönnen hatte …'

Es war der Höhepunkt des Stückes. Der Held deklamierte soeben einen dramatischen Monolog, als ein lautes Gepolter alles zusammenfahren ließ. In einer Ecke des Raumes waren Dachziegel eingestürzt, und der Sandsturm fuhr wütend durch das Loch in die erschreckte Menge. Mit einem Knall verlöschten die Lichter, auf der Bühne fielen Kulissen um, Kinder begannen zu weinen und alle drängten ins Freie, wo sie der Sturm anfiel und fast zu Boden warf. Die bestürzten Menschen entdeckten, daß auch von ihren Wohnhäusern der Sturm ganze Dachteile abgetragen hatte. Plötzlich schwirrte es weiß durch die Luft. Der Sturm hatte sich Eingang in die Hühneranlage verschafft, rollte das Wellblechdach auf wie um den Schlüssel einer Sardinendose und hob mit Macht die erschreckt gackernden Hühner in die Luft. Wie um von der Anstrengung zu verschnaufen, trat eine sekundenlange Windstille ein, und 6000 Leghorn- hühner füllten den Hof. Die weißen Federn ihrer gespreizten Flügel bedeckten die dunkle Erde, und man hätte glauben können, daß dichter Schnee gefallen wäre. Jetzt hob' sie eine neue Sturmwelle hoch, hielt sie einen Atemzug lang über dem Kibbuz gefangen und führte sie dann fort gen Westen, zum arabischen Gazastreifen. Nicht ein Huhn war im Kibbuz zurückgeblieben.

Drei Tage und drei Nächte tobte der Sandsturm. Als am Morgen des vierten Tages alles windstill war und die Sonne auf ging, als ob nichts geschehen wäre, ging der Landmann über die sandbedeckten Felder, und wo er sich bückte, um eine Getreideähre oder eine Erbsenstaude anzufassen, zerbröselte sie in seiner Hand und versprühte wie Sand.

TAGE UND WOCHEN WAREN VERSTRICHEN. Längst waren die Bauschäden verbessert und neue Anlagen errichtet, wo die früheren zerstört worden waren. Tage und W'ochen waren vergangen, ohne daß auf dem strahlend blauen Himmel ein Wölkchen aufgeschwommen wäre, das segenspendendes Naß versprüht hätte. Wasser! ächzt die trockene Erde, die zu glühen scheint, als ob sie eine dünne Kruste über den Lavaströmen des vulkanischen Gesteins wäre, die knirschend zerbirst; Wasser! zischt der heiße Sand, wenn seine

Poren wie aber Tausende gierig aufgerissener Mäuler die dünnen Strahlen der Bewässerungsfontänen verschlingen; Wasser! flüstern die fleischigen Blätter der Orangen und Zitrusfrüchte, die schwer in der reglosen Luft hängen; Wasser! stöhnen die bestellten Felder der Wintersaat; Wasser, Bruder Mensch! Wasser!

Und wie in biblischer und vorbiblischer Zeit steht auch jetzt der Mensch ratlos und verzweifelnd vor dem verschlossenen Siegel der allgewaltigen Natur. Jahrzehntelang hatte solche Dürre das Land nicht heimgesucht. Die Schleuse am Austritt des Genezarethsees in den Jordan ist halb geschlossen und doch ist der Wasserspiegel des Sees um einen Meter gesunken. Die Kibbuzim und Moschawoth, die großen Gemeinschaftssiedlungen, zwacken den bedürfnisloseren Kulturen die Wasserrationen ab, um sie den anderen Kulturen zuzuleiten und sie zu retten, aber der jüdische Kleinbauer, der grusinische Beduine, der arabische Fellache mußten schon die Waffen strecken. Sie haben begonnen, die Felder umzupflügen und neu zu bestellen, und der Staat muß seine Speicher öffnen, um die Einzelgehöfte mit Saatgut zu versorgen. Ob der Dürre haben die Menschen längst den Sandsturm vergessen. Die Zeitungen versuchen die Menschen zu trösten, sie zu ermutigen, und bringen lange Berichte über Versuche mit Quecksilberöfen, die auf ihren Aufstellungsplätzen den doppelten Niederschlag als anderswo erwirkt hätten. Doch wie können die Artikel trösten, die Versuchsergebnisse ermutigen, wenn in dem ehernen Blau des verschlossenen Himniels keine erbarmungsvolle Wolke aufscheint, deren Wassergehalt der Mensch niederzwingen könnte?

Sehnsuchtsvoll sucht das Auge des Land mannes das Firmament nach einer einzigen Wolkenflocke ab. Da — ist das nicht ein weiße, Ball, der von der Wüste her die Himmelsbahn hinaufrollt? Rasch reibt sich der Landmann mit dem Handrücken über die brennenden Augen und sieht wieder hin Kein Zweifel! Am Höri zont zieht eine weiße Wolke auf. nimmt rasch an "Volumen zu. Jetzt löst sie sich vorn •Rand des Gesichtskreises, und mit immer zunehmen-

der Geschwindigkeit nähert sie sich den Feldern des Dorfes, wird größer und größer. Dem Landmann wird es unheimlich zumute. Nein, das ist keine Regenwolke, das ist — ein Schreckensschrei entringt sich der zugeschnürten Kehle, und während er zu dem Dorfe hastet, gellt sein Angstschrei: „Heuschrecken! Heuschrecken!“

Heuschrecken! Heuschrecken! hämmert es in den Schläfen des laufenden Bauern; Heuschrecken! Heuschrecken! morsen die Sendestationen Israels; Heuschrecken! Heuschrecken! stampfen die Pressen der Druckereien, schreit es in Riesenlettern den verstörten Menschen entgegen. Im ganzen Land werden Flugzeuge eingesetzt, um den furchtbaren Feind, wo immer er erscheint, zu vernichten. Ueberall werden Sendestationen eingerichtet, die den Zentralen über jede Bewegung in den Heuschreckenzügen berichten. In den Schulen wird die rote Wanderheuschrecke den Kindern lebend vorgeführt, in den Tiergärten werden Spezialausstellungen liier Heuschreckenarten errichtet und Begleittexte über die Kampfführung gegen den ge- riäßigen Feind angebracht. Die Flugzeuge und das Streugift werden unentgeltlich in den Einsatz gebracht, aber ihr Kampf gilt nur dem Schutz der Jungsaaten. Das reifende Getreide. Gemüse und Früchte müssen die Läfidleüte'seTb'st 'ilör Vernichtung' schützen: Und 'dėV"jüdische Bauer wie der arabische Fellache, der Kibbuznik wie der Beduine führen verzweifelt den Kampf gegen den einen, gemeinsamen Feind, der wie reife Beeren in Trauben an Halmen und Zweigen hängt und zerstört, was Sandsturm und Dürre verschonen.

NACH EINER WOCHE HARTNÄCKIGEN RINGENS war es gelungen, der Heuschreckenplage Herr zu werden. Ein Kind der Dürre, vermochte sie der israelische Mensch zu überwältigen; ihr Ursprung jedoch, die Dürre selbst, blieb fern und unnahbar der Menschenhand entrückt und spottete seiner Mühe und seiner Verzweiflung. Tag für Tag beschrieb der glühende Feuerball auf dem kaltblauen Himmelsbogen seine Bahn, und die Städter gingen ebenso bedrückt 'ihrer Beschäftigung nach wie der Bauer seinem Pflug, der die Wintersaat zerstörte, um anderen Sämlingen Platz zu geben.

In dem Jahreszyklus der allwöchentlichen Vorlesungen aus der heiligen Rolle war das Buch der Schöpfung beendet worden, und das Hauptrabbinat veröffentlichte Aufrufe an die Bevölkerung, jeden Montag und Donnerstag sich zu kasteien und Psalmen zu lesen. Ein uralter Brauch gebietet dem gläubigen Juden, Einkehr ‘zu halten und in sich-zu gehen, wenn der Regen noch äm Beginn des Buches des Auszugs aus 'Aegypten- zögert," zu kommen…

Es war in der zweiten Woche des Exodus- buches, da der Abschnitt vorgelesen wird, wo Gott Seinen Knecht Moses zu Pharao schickt, um Wunder zu wirken vor dem Auge dessen, der sein Ohr der Göttlichen Botschaft verschließt. Ein Fastenmontag war es, als von der Bergesstadt Sefad, dem Herzen der Kabbalah, eine merkwürdige Menschengruppe auszog, auf den Weg nach dem mehr als eine Stunde entfernten Rosch Pinah, in dieser Gegend die nördlichste Siedlung Israels. Zwanzig Kabbalisten waren es. angetan in sabbatlichen Seidenkleidern, Biberfellmützen auf ihren Häuptern, in ihren Händen Widderhörner. Sie waren aufgebrochen, um nach dem Grabe des Choni hama’agal, des Kreismachers. zu pilgern.

Die Legende erzählt von dem Kabbalisten Choni, daß er ein selbstgenügsamer, einsamer Gelehrter war, der nicht die Anerkennung der anderen brauchte, um seinen eigenen Wert zu wissen. Er unterhielt keinen Schriftwechsel mit den Gelehrten Jerusalems, wie es wohl seine Zeitgenossen taten, sondern lebte und wob in der Anschauung Gottes. Doch wenn die Himmel ihre Schleusen verschlossen und die Erde nach Regen dürstete, erinnerten sich die Weisen Jerusalems des fernen Choni und sandten nach ihm und baten ihn, Regen zu erflehen. Und die Legende erzählt, daß Choni einen Kreis um sich zu ziehen und den Himmel anzurufen pflegte: „Ich trete nicht aus diesem Kreis, bis Du mich, o Gott, erhörst und Regen niedersendest.“ Und die Himmel neigten . sich seinem Worte und gaben Regen. Die Sendlinge kehrten zurück nach Jerusalem, und Choni, der Kreismacher, lebte sein stilles Leben fort, bis er still zu seinen Vätern ging.

Als die Pilger aus Sefad zu Chonis Grab kamen, beteten sie inbrünstig, stießen in die Widdethörner und warfen sich auf die Erde des heiligen Grabes hin. Als die Männer ihr Antlitz heimwärts wandten, waren sie voll der Zuversicht, daß ihr Gebet erhört wurde. Und als sie sich den Toren Sefads näherten, überzog den Himmel ein Wolkenschleier und ein leichter Regen rieselte auf die Männer nieder. Die Kabbalisten aber warfen die Köpfe in den Nacken und wuschen das Antlitz im köstlichen Naß. Dankes- und Lobeslieder entströmten ihren Herzen. Und schneller als der Schall ihrer Jubelgesänge verbreitete sich der Regen über den ganzen Galil.

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