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Der Grubengaul / Ein Erlebnis

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Ein Weg meiner Heimat führte vom Gutshof meines Vaters zu den Enzenreither Koppeln seines Gestütes. Wenn ich diesen Pfad beschritt, so durchrauschte meine Seele immer ein ländliches Erwachen, welches seinen Widerhall im Morgenliede des Waldes fand und im Lauf des Wildstromes, wo dieser sich mit Helmen aus weißem Schaum wappnete, um gegen die Stromengen zu stürmen. Die Natur schien hier nirgends von Menschenhand entweiht. Meine Schritte verloren sich im grünen Samt des Mooses und das Buschholz prangte im hellen Bast der Rinde. Das zarte Grün der Blattspitzen wirkte wie ein kunstvolles Gewebe, daraus bald das dichte Ornament des Laubes entsprießen würde. Mir zu Häupten strich mit ploderndem Flügelschlag ein Wildtäuberich durch das Geäst seines Wald-revieres. Über der Leuchtkraft des Morgens schwebte sein würziges Liebesgirren.

So erreichte ich den Wiesenrain. Vor meinen Blicken lag die Pferdeweide! Taufeucht strich der Wind durch die Mähnen der edlen Tiere und trieb mir die goldenen Wolken vom Blütenstaub der Haseln ins Gesicht. Mehrere Pferde trabten sogleich auf mich zu; eine Felcjmaus piepste erregt und huschte in ihr schützendes Erdloch, um von den trabenden Hufen nicht zertreten zu werden. Ragende Steinbrocken, groß wie Wegkapseln, säumten die Koppeln des Gestütes. Die Stille des Morgens wurde immer wieder vom Wiehern der Hengste durchbrochen, welche im kraftvollen Galopp dahinjagten. Ihre sehnigen Leiber wirkten wie große Silhouetten, gestellt vor die aufgehende Sonne. Andere grasten zwischen den hellen Stämmen der Birken, deren Äste sich mir wie Hände zum warmen Willkommgruß entgegenstfredtten. Gleich alten Freunden luden die Bäume mit weitausgebreiteten Armen ein Hier auf der Pferdekoppel wurde dem Auge alles zur Liebkosung, alles wurde hier farbfrohe Geste, die sich mir entgegenneigte.

Langsam wich die Kühle dem Dampfen der Erde und dem vertrauten Wohlgeruch der Pferdefefle. Anmaßend fauchte der Wind über die Berghänge herunter und •faßte nach der Fülle der prachtvollen Schweife; dann riß er ein paar zarte Blüten von den Obstbäumen und bedeckte meine Schultern mit einem Riesel hauchzarter Blütenkätzchen. Auch ein paar Schaum-flocken trägt er von den Nüstern der schnaubenden Stuten hinweg, die sich fürsorglich ym ihre Fohlen bemühten.

Das war der Frühling! Der Frühling auf den Koppeln des Gestütes! Meine Augen suchten jetzt den „Braunen“, einen Zweijährigen, der mir vom vorigen Herbst her besonders ans Herz gewachsen war. Kraftvoll hatte sich sein Wuchs gerundet. Seine malerische Gestalt stand gerade neben dem alten Bildstock des heiligen Stephan, dem Schutzpatron der Pferde. Aus dem verwitterten Gestein des Bildsockels wudis eine blühende Staude, die der „Braune“ bekab-berte. Dort schreckte er ine Hummel auf; geradewegs flog sie in die grenzenlose Weite des blauen Maientages. Mit sich trug sie die honigsüße Schwere ihres Erlebens zwischen den Blüten. Meine Gedanken folgten 'Ihr, während meine Hände den „Braunen“ zwischen den Ohren kraulten — es waren Gedanken, trunken vom Frühlingserwachen! '. * *

Die Harmonie dieses grünvioletten Talwinkels und dieses sorglos-seligen Morgens klang unvorhergesehen in einer leidvollen Dissonanz aus. Als ich abends nach dem Gutshof zurückkehrte, befand sich mein Vater in großer Erregung. Die, Skrupel-losigkeit mehrerer Geschäftskonkurrenten drohte sein Fabriksunternehmen zu vernichten. Um* den Riesenverlust wettzumachen, gab es für ihn als rechtschaffenen Mann nur eine Notfolgerung: Das Gestüt zu verkaufen! Es war ein Entschluß, der ihn binnen weniger Nächte um Jahrzehnte altern ließ.

Zusammen mit allen anderen Pferden wurdeauch der „Braune“ versteigert. Beim Bildstock des heiligen Stephans nahmen wir voneinander Abschied. Es erschütterte mich zutiefst. Immer wieder vergrub ich meine Finger in der seidigen Mähne des „Braunen“, als wollte ich ihn verzweifelt halten — mir erhalten! Seine dunklen Augen sahen mich mit forschender Wärme an. Das stumme „Wohin“ dieser Frage schnitt mir unsagbar leidvoll .ins Herz. „Wohin habt ihr mich verkauft?“ schien er wissen zu wollen. Die Kenntnis ••“der Antwort verdoppelte in mir das Weh des Abschieds. Der „Braune“ sollte in ein nahes Bergwerk! Dort würde er tief anter der Erde che Grubenkarren ziehen, wenn sie schwer mit Kohle beladen aus den engen Förderstollen zu den unterirdischen Sammelschächten auf ächzenden Schienen rollten. In modernen Bergwerken geschah dies elektrisch, aber in der kleinen Braunkohlengrube des benachbarten Ortes taten diesen Dienst noch immer Pferde.

Der Gedanke, das geliebte Tier in, ewiger Finsternis zu wissen, machte mich fast wahnsinnig. Nur einmal im Jahr wurden die Pferde nach uraltem Brauch ans Tageslicht gebracht — nämlich in der Christnacht. Dann führte man sie in dicke Decken gehüllt vor die Dorfkirche, wo sie im eisigen Schnee scharrend mit den Bergknappen der heiligen Mette beiwohnten. Hierauf mußten sie wieder über ein langes Jahr unter der Erde fronen. Zumeist erblindeten die Tiere von 'der anhaltenden Dunkelheit und starben schließlich an siechen Lungen.

Aber all mein Mitlid vermochte nichts gegen die Unterschrift auf dem Kaufvertrag. So versuchte ich die letzte Stunde meines Beisammenseins mit dem „Braunen“ zm einem kameradschaftlichen Erlebnis zu gestalten. Ich ließ ihn ein Stück Zucker nach' dem anderen von meiner flachen Hand wegknabbern und flüsterte dabei in seine gespitzten Ohren, daß ich ihn bei der erstbesten Gelegenheit zurückkaufen würde. Ob er den Sinn dieser tröstlichen Worte verstand? Seine Hufe scharrten den Boden und er rieb den Kopf schnaubend an meinen Schultern, als wollte er sagen: „Es wird sich schon alles finden — ich gebe den Mut nicht auf!“

So schieden wir voneinander. Ein letztes Mal faltete ich meine Finger über seinen Nüstern; es lag in dieser Geste ein wortloses Versprechen, ihn nie zu vergessen; dann fühlte ich einen harten Druck gegen die Kehle und die Brust. Man führte ihn fort.

,Zu Weihnachten kauf ich dich frei!' war mein letzter Gedanke. Aber es sollte so ganz anders kommen... Es kam der Einmarsch der deutschen Armee, es kam der Krieg, es kam die Enteignung meines Vaters. Der Unerbittlichkeit dieser Verfolgungen war mein Vater nicht gewachsen, an ihren Mühsalen starb er. Er starb al ein Gedemütigter unter Millionen Gedemütigten.

Auch um den ,.Braunen“ im Kohlenbergwerk änderte sich einiges. Er wurde von seelenlosen Militärschindern zum Grubengaul degradiert und bekam Gesellschaft in Form von Zwangsarbeitern, die man schonungslos unter die Erde stieß zu schmählicher Fron. Der Gutshof wurde Sitz der Wachmannschaften, die Anlage der Kohlengrube ein Internierungslager, alle Weihe der Umgebung wurde durch häßliche und grimmbärtige Stacheldrahtverhaue zerrissen. Die Menschen im Innern der Erde stöhnten. *

Einer dieser unglückseligen Schattengestalten zeigte eine tiefe Zuneigung zu dem „Braunen“. Die Nähe des treuherzigen Tieres ließ ihn das geteilte Leid als halbes Leid empfinden. Ihrer beider Lager war im Stall auf dem harten Holz der Grüben.-bohlen. So kam es, daß der Drohruf „He, Grubengaul, vorwärts! ...“ bald gleichermaßen dem Pferd und dem Menschen galt, so trafen die Peitschenschläge gleichermaßen das Pferd und ihn, so entkräftete der Hunger unterschiedslos das Pferd und ihn. In der drückenden Enge und lastenden Schwüle der Stollen träumten beide schweißgebadet und rußgeschwärzt von der weitatmigen Morgenfrische der Weiden. Der lichtentrissene Mensch und das langsam erblindende Pferd schleppten sich durch die Qual der gotteslästerlichen Arbeitsjahre. Als der abgemagerte Grubenverbannte einmal erkrankte und im Fieber zusammenbrach, leckte das Pferd nächtlicherweile stundenlang die Stirne des Entkräfteten. Die Zuneigung des Pferdes war ihm in seiner Verlassenheit Freude und Trost. Er faßte Mut zu glauben und zu hoffen — bis ... Bis unfaßbarerweise der Donner der befreienden Geschütze erklang!

Nach der Bangnis einer letzten, langen Naght beförderte man den Menschen und das Pferd lichtwärts hoch in die Freiheit. Noch am gleichen Morgen schleppten sich beide zum Bildstock des heiligen Stephans auf der blumigen Weide. Dort sank der Mensch nieder zu kräftigendem Schlaf und neben ihn streckte sich das müde Tier. So lagen sie beide, der „Braune“ und jener Grubenverbannte — der niemand anderer gewesen war ak ich 1

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