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MEIN KLEINER KAMERAD

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Während ich unter den seltsamen Schattenbildern der Pinien meines Weges zog, dachte ich der Zeiten, in denen das trockene Land, das heute meinem Wandern Raum und Ziel gab, arm und trostlos Jahr für Jahr Stück um Stück Beute der anstürmenden Wogen gewesen war, die mit den unerschöpflichen Wassern des Atlantischen Ozeans gegen das Land gekämpft hatten. Bremon-tier war es, der im Jahre 1830 die ersten Pinien anpflanzen ließ als Schutz vor der zerstörenden Flut. Die jungen Bäume hatten in bester Kameradschaft gegen den furchtbaren Feind zusammengehalten und sich in den folgenden Jahrzehnten in außerordentlicher Weise vermehrt; sie waren zu Wäldern geworden und schließlich gar zu den ausgedehntesten Wäldern des gesamten französischen Landes. Die Bewohner dieser völlig veränderten Gegend waren gekommen, das Harz aus den willfährigen Stämmen zu holen, und das in stetig steigenden Mengen und immer eindringlicherer Wirtschaftlichkeit. So lange, bis das weite Gebiet, die Provinz „Les Landes“, zu den reichsten des ganzen Landes gehörte. Der kluge Chambrelent war der Mann gewesen, der die Bewohner auf das wertvolle Harz hinwies und den Abbau in die Wege leitete.

Einsam war der Weg, feucht die Luft und die Sicht in der Ferne verhängt. Als seien dort feine Schleier gespannt, schien es, die ein Geheimnis hüten sollten und damit erst recht zum Anmarsch verlockten. Seit Stunden blieb ich in meinem gleichmäßigen Schritt, den jahrzehntelanges Wandern anerzogen hatte. Kein menschliches Wesen kreuzte meinen Pfad. Nur Vogellaute begleiteten mich zufrieden und vertraut. Manch einer von jenen, die da oben flogen, mochte mich kennen, mochte mich da oder dort in der Gegend gesehen haben. Ein Lied ging mir von den Lippen, und die feinen Stimmlein erklangen dazu lauter als vorher. Allgemach ging es auf den Abend zu. Leicht stieg das Land an, und der Wind ließ sich darob stärker verspüren. Der Körper hat seine Arbeit, das Wandern. Die Seele schwingt in Freiheit und lockt den Geist Und macht sich der ans Tun, vergeht die Zeit, auf daß manche Stunde zu Minuten wird und mancher volle Tag uns gleich wenigen Stunden dünkt. £ ^ 5nu[mmK &???•

Längst war ich vom Pfad abgeWlchen 'iÄkF suchte meinen ' Weg “aufe Geratewohl. Der Frm1me,£''hallfte sich schwarz verhängt, und der Wind sparte nicht mit kalten Wellen. Langsam senkte sich die Nacht auf mich und meine Umgebung. Einmal erkannte ich kurz vor mir die Umrißlinien einer Hütte. Sie war vom Wetter ziemlich mitgenommen. Die Türe fehlte. Im Innern der baufälligen Behausung fühlte ich mich sogleich wärmer, denn der

Wind ging hier über. Zu träge, mir ein Mahl zu bereiten, wik-kelte ich mich in meine dicke Schlafdecke und glitt sogleich in tiefen Schlaf.

Um Mitternacht erwachte ich zu einer Art Halbschlaf. Ich fühlte irgend etwas neben mir an mich gedrückt, irgend etwas Warmes. Meine Hand suchte und spürte ein grobes Fell. Mit der Vorstellung, ein Hund, war ich schon wieder eingeschlafen. Um die Zeit des ersten aufkommenden Morgenlichtes wurde ich aufs neue geweckt; ich hörte meinen Schlafkameraden auf- und da-vonspringen. Schnell sprang auch ich auf, denn ich wollte ihn nicht verlieren. Als ich durch die Türöffnung spähte, entdeckte ich ihn, einen Steinwurf weit, auf drei Beinen. Ich stellte mich auf die verwitterte Schwelle und lockte ihn. „Mein Kleiner, du warst die Nacht über mein Kamerad. Laß uns auch für den Tag Kameraden bleiben!“

Er drehte den Kopf, und ich, ich erkannte in diesem Augenblick: ich hatt«j mit einem Wolf geschlafen oder mit einem Bastard. Es war ein ganz junges Tier, ein Bürschchen von einigen Monaten, das seine Mutter verloren hatte, oder das den Geruch seines größten Feindes, des Menschen, noch nicht richtig kannte. Oder hatte ich, der große Vagabund, nicht mehr den ausgesprochenen Geruch menschlicher Zweibeiner?

Jetzt wandte mein Kamerad den spitzen Kopf nach dem Walde drüben. Darnach wandte er ihn zu mir. Ich machte keine Bewegung, sprach jedoch mit ruhiger Stimme und in einem fort. Endlich senkte das Tier den Kopf ganz tief, und es war mir, als könne ich seine Gedanken lesen: Es hat keinen Zweck für uns beide. Langsam, unsicher setzte es die Pfoten. Dreimal, viermal blieb es stehen und sah nach mir zurück. Es fühlte gewiß die Trennung, und es war offensichtlich, es trauerte darüber.

Mein Herz war tief angesprochen, und mein Arm winkte zum Abschied. Und wieder blieb es stehen und sah nach mir; länger als vordem. Hinterher warf es den Kopf auf und trappte wie müde in das Unterholz. — Mein kleiner Kamerad hatte recht gehabt. Er war der Klügere von uns beiden. Es hätte für uns keinen Zweck gehabt. Unsere Wege Tiefen- in verschiedenen Richtungen.'Mochten sie sich auch kreuzen, oft genug-kreuzen - sie verliefen nicfii

Von jener Stunde an stieg manchmal das Bild des Tieres der Freiheit vor mir auf, und sooft ich in der Einsamkeit eines Vierbeiners ansichtig werde, wünscht sich mein unkluges Herz allemal, es möchte jener sein, der in der verfallenen Hütte und über eine lange Nacht mein guter Schlafkamerad gewesen war.

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