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Die Verwaisten

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Der junge Student empfing die Nachricht nicht unerwartet. In Angst und Bangen hatte er die letzten Wochen, eigentlich das halbe Jahr gelebt; nun stand da also auf dem gelben Blatt: „Vater lebt nicht mehr.“ Er packte mit Genauigkeit seinen Koffer, holte Geld von der Bank, telegraphierte seine Ankunft und setzte sich in den Zug. Als es zu dunkeln begann, fühlte er seine Lider schmerzen, die Furcht packte ihn. Der ältere Bruder war am Bahnhof, umarmte ihn, schweigend, durch eine ungeschickte Bewegung beim ungewohnten Druck der heißen Wangen fiel sein Hut auf den Bahnsteig. Im Wagen des Bruders fuhren sie zum Elternhaus, das längst nur mehr ein Vaterhaus gewesen war. Ein Fenster war golden erhellt, sonst schlief schon alles in dieser langen Straße. Der junge Student stand starr an der Bahre, es drängte ihn, näherzutreten und die Hand des stillen Vaters zu ergreifen, aber er fürchtete die Kälte des Fleisches. Gütig lag der Vater in einer Wolke aus Gaze, er war dabei, wie er immer in den letzten Jahren dabei gewesen war, ohne doch direkt teilzunehmen. Ohne Widerstand ließ er alles mit sich geschehen, und noch bei diesem letzten Akt hielt er geduldig still. Der junge Student war sehr zögernd in das Totenzimmer getreten, die Vorstellung von einem Sarg, von Toten, beherrschte ihn nodh aus seiner Kindheit her. Er glaubte Fürchterliches sehen zu müssen, dem er bislang in weitem Bogen ausgewichen war. Worin die Entsetzlichkeit des Bildes bestehen sollte, darüber war er sich nie klar geworden; aber Schreckgedanken verfolgen ihn noch jetzt, und er war fast enttäuscht darüber, daß nichts geschah. Je und je überfiel ihn die vorgefaßte Idee; er suchte gewaltsam das Grauenerregende seiner Phantasien mit der Friedfertigkeit, freilich auch Fremdheit dieses ruhenden Menschen zu vereinen. Fuscht stellt sich nicht ein.

Der ältere Bruder stand neben ihm, stumm und heiß. Ihn würgte der grenzenlose Abschied, er sah nicht eine Leiche, sondern den Vater hier liegen, den einzigen, guten, vielgeliebten und unersetzlichen. Er kinnte es nicht fassen, daß er sich nun für immer von ihm trennen sollte, daß die kalte Erde diesen kostbaren Leib bedecken und seinen Blicken für immer entziehen würde. Aufschluchzend strich er dem Vater über die blasse, gefurchte Stirn, er wollte ihn am Haar schütteln, um ihn zu erwecken, einmal im Leben wollte er Macht über den Tod haben, und schreckliche Vorwürfe über unterlassene Behandlungsversuche zerstießen sein Herz. Seit gestern war der Vater so grausam still. Er zeigte kein Mitleid mit den nächsten Menschen, mit seinen Kindern, denen er einen furchtbaren Schmerz zufügte, er schien friedlich zu träumen, fast zu lächeln. Der ältere Sohn hatte schon viele Tote gesehen, und er glaubte jedesmal zu wissen, ob der Mensch die Gnade des Himmels gefunden hatte. Er scheute sich, Totenzimmer zu betreten, in denen die sterbliche Hülle eines vermeintlich Verworfe- , nen lag. Aber des Vaters Ruhe war unirdisch, wie seine Geduld es gewesen war. Im Gebet besuchte der Sohn seinen Vater droben, am liebsten wäre er mit ihm aufgefahren in die Ewigkeit. Daß er ihm in der Endlichkeit nicht mehr begegnen sollte, war nicht zu glauben. Tränen erstickten jeden weiteren Gedanken, auch die Angst vor dem morgigen Tag, wo man ihn des Letzten von seinem Vater berauben würde. Verzaubert ging er durch die Stunden, sein Schmerz war heiß und sein Trost innig.

Die ledige Schwester sah keinen. Mit verglasten Blicken ging sie durch die Räume, schon jetzt ergriffen von dem Schmerz, der sie später, in Monaten, erst voll überfallen würde. Zunächst schien sie fast heiter. Sie hatte das Sterben miterlebt, hatte gedacht, sie könne es .durch Aufopferung hintanhalten, ihre Machtlosigkeit war nie wieder so deutlich geworden. Sie pflegte und wusch den geliebten Vater; als er tief aufseufzte, fragte sie ihn noch, ob er sich wohler fühle. Der Augenblick des Todes war für sie nicht erkennbar gewesen. Sie hatte wohl auch eine Vorstellung von früher, wonach das Zimmer sich plötzlich vereinsamt, verlassen von einer Seele, zeigen müsse. Sie fürchtete sich oft nachts am Krankenbett, nun neben einem Gestorbenen zu sitzen und eine gewöhnliche Frage an einen zu richten, der nicht mehr antworten konnte — ein Wort in die Ewigkeit hinaus. Ganz unscheinbar war das Schreckliche eingetreten, unglaubhaft. So fehlte auch der Übergang aus der ängstlichen Sorge in den unsäglichen Schmerz. Sie wußte, daß Unwiderrufliches ihr widerfahren sei, man hatte ihr etwas angetan, ohne daß sie es gespürt hatte. Lebte sie noch in Betäubung? Sie fühlte sich wie befreit, sie schlug jene Pietät in den Wind, die sich äußerlich gebärdet, sie- hätte scherzen können oder ganz banal in einen Film gehen, um die tote Zeit hinzuzubringen, bis das letzte Siegel gesetzt war. . Sie würde kaum Trauerkleider tragen, auch sonst würde man ihr nichts anmerken von dem brennenden Stachel im Innern. Sie sehnte sich nach den fernen Tagen vor dem Tode des Vaters, wo sie noch hatte glücklich sein können.

Die verheiratete Schwester war dem jüngsten Bruder ähnlich, skeptisch und übersensibel. Sie ging selten in das Totenzimmer hinüber, empfing die Trauergäste, sprach beherrscht und lächelte sogar den verlegenen Männern zu. Ihre tiefe Sehnsucht gehörte dem Leben, dem sie sich hemmungsloser, als ihre Selbstgewalt es sonst erlaubte, auslieferte. Sie wollte nichts vom Tod wissen, den sie doch tief an sich selber erfahren hatte, als sie vor Jahren durch zwei schwere Operationen gegangen war. Damals hatten die Geschwister um sie geweint, man hatte ihr Blumen gebracht, und sie war sich selber wie eine Bedauernswerte, Abgewandte erschienen. Man machte ein Trauerspiel, bei dem sie die Titelrolle zu tragen hatte, und leider war es Wirklichkeit. Niemand sah die Angst, mit der sie sich dem Messer der Ärzte auslieferte, niemand ahnte, wie hoch ihr Herz schlug, als die betäubende Spritze angesetzt wurde; würde sie daraus wieder erwachen oder „über Nacht“ im Jenseits ankommen, mit Schrecken von der fremden Welt empfangen? Als sie später, fast geheilt, zufällig einen kleinen Schlag vom elektrischen Kissen erhielt, zitterte sie noch stundenlang, denn solche Spannungen können tödlich sein. Sie trauerte um ihren lieben Vater, aber fast (wäre dies nicht roh und auch viel zu einfach ausgedrückt) freute gie sich, daß sie selbst diesmal verschont“worden war. Sie suchte das Leben und sah dem Vetter aus der Provinz, der strahlend gesund und bescheiden trauernd angereist gekommen war, manchmal lange in die Augen. Der Vater schien auch dies zu dulden.

Als sich die Verwaisten im Eßzimmer versammelt hatten, um eine Abendmahlzeit einzunehmen, schien auch der Vater anwesend. Er störte nicht durch sein verändertes Wesen, vielmehr schien es, als sei es immer so gewesen. Der junge Student begann, gegen den „Struwwelpeter“ los2ziehen, den auch die ledige Schwester Kie geliebt hatte. Man nenne das ein Kinderbuch, und es.sei doch eine grausame Direktheit, wie da Daumen abgeschnitten würden und miau mioo gleich eine lichterloh brenne. Der ältere Bruder widersprach ihm, er nannte das Buch ein fast dichterisches Werk von ausnehmender Pädagogik. Für Erwachsene, meinte die ältere Schwester. Sie erinnerte an das Grauen, das sie alle empfunden hatten, als der Suppenkasper rundweg totgesagt wurde, einfach tot, mit einem Kreuz dazu. Das Gespräch ging noch weiter aus dem Kreis eines Leichenhauses hinaus, von dem jungen Studenten absichtlich munter geführt, obwohl ihnen allen nicht danach zumute war. Aber jeder hätte sich gescheut, das Geheimnis des Todes zu berühren, und keiner hatte den Mut, von dem Einzigen zu sprechen.

Erst am nächsten Tage, als draußen schon am Sargdeckel hantiert wurde, sprach der älteste Bruder ein Wort über den Toten, der nun in den Armen des Höchsten lag, fern von ihnen und ihnen am nächsten. Die junge Schwester stützte aufgelöst ihren Arm auf den seinen, es sah aus, als trage sie Krücken. „Sein Beispiel wird immer bei uns sein. Behüt ihn Gott.“ Auf dem Friedhof betraten sie die unendlich verlassene Halle; beinahe neugierig der Student, gleichmütig-dumpf die Schwestern, gejagt und gepeinigt der Älteste. Der Deckel wurde ein letztesmal geöffnet, auch jetzt hielt der Vater rührend still. Ein Herr von der Bestattungsgesellschaft bat die Angehörigen voraus, die nun mit steinernen Zügen an den Zuschauern vorbei ins Freie zogen. Die Zeremonie war kurz, von tröstenden Worten des Priesters getragen. Es regnete, man fror. Nichts blieb übrig.

Wieder daheim, ging jeder verloren seines Weges in den unverbrüchlich leeren Zimmern; merkwürdigerweise hatten alle Hunger. Aus nichtigem Anlaß fiel die verheiratete Schwester die Pflegerin an, und als der Bruder sie verteidigen wollte, gab sie ihm die härtesten Worte. Soeben hatten sie am Sarge einander ewige Liebe gelobt; aber dieser Ausbruch war ja auch nur ein Teil davon, ein fernes Wetterleuchten von dem gräßlichen Gewitter, welches in jedes einzelnen tiefster Brust tobte. Sie schienen äußerlich glatt, nicht wie Hinterbliebene gebeugt oder aufgelöst. Aber die Trauer bohrte in ihnen, besuchte sie in den Träumen, stand beim Erwachen an dem Bette, das Leben wurde schwerer, voller von ihr; der Tod adelte, die er verschont hatte.

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