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Drei Uh ren

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Meln Zimmer weist einige Möbel auf, wie man sie braucht. Die eine halbe Wandseite wird von einem hohen Büchergestell bedeckt. Es sind dabei viele schöne und berühmte und sehr lesenswerte Bücher, und die Stunden, die ich mit ihnen verbrachte, waren die besten in meinem Leben. Das Zimmer ist hell. Einige Zeichnungen und Photographien, von mir verfertigt, hängen an den Wänden, und dann einige sportliche Diplome und Preise, die ich gewann. Diese Sportdiplome machen sich auf Kosten der Bücher und Bilder breit, und es scheint, daß zwischen ihnen und dem kultivierteren Teil des Raumes ein gespanntes Verhältnis herrscht. Dann gibt es da noch ein schmales Regal, und darauf liegen drei Uhren.

Die erste dieser drei Uhren ist eine goldene Taschenuhr. Sie ist ehrwürdig, gediegen, ein wenig verziert und geht ßehr genau. Sie ist ein Erbstück von meinem Großvater. Er starb vor rund 16 Jahren, und da war er etwa 80 Jahre alt und hatte ein Leben voller Gleichmäßigkeit und Harmonie hinter sich. Außer der Uhr hinterließ er mir dte meisten der Bücher, die jetzt mit halo trostreichen, halb vorwurfsvollen Gesichtern auf mich herabschauen. Sie sind alle noch im besten Zustand, teils, weil in ihnen so wenig gelesen wird, teils, weil mein Großvater ein gar so akkurater Herr war, sehr ordnungsliebend und leicht pedantisch. Eigentlich fügte sich das nicht ganz natürlich, zu seinem Leben als Künstler, denn er war Schauspieler und Regisseur. Er lebte ganz seinem geliebten Beruf, aber im Alter hatte er genug davon, verbrachte seine letzten Jahre auf dem Lande, damit beschäftigt, sich zu erinnern, die Sterne, Tiere und Pflanzen zu beobachten, mit alten Kollegen und Freunden zu korrespondieren und seinem Enkel das Lesen, Schreiben, Rechnen und die Grundlagen der Turnkunst beizubringen.

Er war ein geduldiger und belesener Mann, den man nie um etwas vergeblich befragte und der es beherrscht ertrug, wenn die fahrige Großmutter seine Kreise störte. Er liebte die Klassiker mehr als die Modernen, wenn er auch Strindberg interessant fand und gerne las. Dem sechsjährigen Enkel, auf langen Spaziergängen an den Ufern des Sees, erzählte er von Hagen und Siegfried und wie der eine den anderen tückisch erschlug, um dann in Etzels brennendem Saal selber ein noch größerer und weniger sentimentaler Held zu werden. Noch sehe ich den gütigen, kindlichen alten Mann mit den guten Augen und der breiten Stime vor mir, wie er seine Pfeife rauchte. Er verkörperte noch die versunkene Welt des Sicheren und Stabilen, feste Preise, Goldvaluta, unverrückbare Staatengrenzen und eingehaltene Verpflichtungen. Schaudernd erlebte er noch den Wandel des ehemals mehr kavaliersmäßigen Krieges, der episch und lyrisch besungen werden konnte, zum grellen Massengemetzel des ersten Weltkrieges. Seinen natürlichen, patriotischen Sinn erschütterten die ersten Beben umstürzlerischer Epochen. Die russische Revolution konnte er noch fassen, das Spätere, den Faschismus etwa, zwischen Mißtrauen und Bewunderung schwankend, in seinen Anfängen erblicken. Er glaubte noch fest an den Menschen im liberalen Sinn und an seine Sendung und an den Fortschritt und daß alles sich zum Guten wenden werde. Als er starb, war es das sanfte Auslöschen eines gesegneten und erfüllten Lebens, und es trat zutage, daß er tief religiös gewesen war, was er nie gezeigt hatte. Gott liebte ihn wohl, da er ihn so sachte an sich zog.

Die zweite Uhr ist eine goldene Armbanduhr, und ich erbte sie von meinem Vater, der sie immer trug. Er starb vor einigen Wochen und war über 70 Jahre alt. Sie ist glatt und modern, geht aber womöglich noch genauer, als die des Großvaters, Verzierungen fehlen und die neue Linie dominiert. Im Leben meines Vaters, das vom letzten Viertel des vergangenen bis zur Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts reichte, hatte man nicht mehr so viel Zeit, um umständlich die Uhr aus der Tasche zu ziehen, ein schneller Blick bei eilig hinaufgeschobe-ner Manschette mußte genügen. Sie stammt aus Holland, die Uhr, mein Vater kaufte sie dort, als er mit seinem Ensemble dort gastierte.

Mein Vater war ein ganz anderer Mann, als mein Großvater, und seine Zeit war eine ganz andere, als jene. Ich möchte nicht in den bekannten Fehler der meisten Leute verfallen, die ihre lieben Verstorbenen entwürdigen und entmenschlichen, indem sie ihnen alles Gute andichten und die charakteristischen, nicht immer bei Lebzeiten leicht erträglichen Merkmale fortschwindeln, bis ein blasses Zerrbild übrigbleibt. Mein Vater war ein Mann, an dem man nicht vorübergehen konnte. Er verdan*fe alles

sich selbst und der Gunst eines Schicksals, eine große Laufbahn, Erfolge, Bildung, Besitz, Einsicht und vor allem seine Menschlichkeit. Noch immer ist mir schwer verständlich., wie man mit so wenig Neigung und Fähigkeit zu Unterwürfigkeit und Kompromiß im Leben so yWeit gelangen konnte, aber das war wohl früher möglich, als das Sein noch nicht im Schatten des Scheines aufging, wie etwa heute. Er war ein eigenwilliger und dennoch grundgütiger Mensch, mein Vater, und folgte stets nur seinem Willen und Antrieb. Von daheim lief er fort, um zum Theater zu gehen, und setzte sich dort schwer und konsequent durch. Mit 30 Jahren war er Deutschlands jüngster Theaterdirektor. Er war ein Menschenfänger, und niemand konnte eich seinem Einfluß entziehen, wenn er es darauf angelegt hatte, jemand zu gewinnen. Er war sehr maßvoll und neigte nur in einem zum Exzeß: darin, stets zu befürchten, anderen gegenüber nicht genug Entgegenkommen und Fürsorglichkeit aufgewendet zu haben. Er schlief nächtelang nicht, wenn er fürchten mußte, jemandem ein noch so kleines Unrecht zugefügt zu haben. Er war tolerant und verzeihend und besaß die Fähigkeit, in den Seelen der Menschen zu lesen. Dies hing mit seinem Beruf zusammen, und als Regisseur hat er niemals in einen anderen etwas hineinzwingen, sondern stets dessen Kräfte und Fähigkeiten freilegen wollen. Er war für alles aufgeschlossen und dennoch sehr einseitig, von jener Einseitigkeit der Menschen, die alles einer geliebten Sache geopfert haben und ihr alles verdanken. Bei ihm war es das Theater.

Wie alle Selfmademen war er schwer lenkbar, und man konnte sich blendend mit ihm streiten. Sorgsam wachte sein Auge getreulich über allen meinen Wegen, und im Krieg schlief er nicht, wußte er mich in Gefahr. Seine guten Gedanken stützten mich in den Stunden der Not und Bedrängnis, und ich hatte an ihm Zuflucht und Hilfe in jeder Lage, in die ein Mensch geraten kann. Denn er besaß in hohem Grade jene heute so selten gewordene Fähigkeit: zuzuhören, zu verstehen, zu verzeihen und den Weg zu weisen. Er liebte Blumen, Berge und Tierei die Hühner befreite er, wenn sie mühsam eingefangen worden waren, um geschlachtet zu werden, und unter seinem Protektorat wuchsen die Katzen zahllos im Hause auf, und er freute sich an ihnen. So menschlich war er, daß er das Absolute und Unwiderrufliche nicht liebte, keine Merksätze und keine Mahnworte waren bei ihm behebt. Als er starb, meinte Gott, von dem er nicht sprach, den er aber stillschweigend anerkannte, es wiederum sehr gut. Er starb am Herzschlag, innerhalb von Sekunden, und es wurde ihm wahrscheinlich nicht bewußt, daß dieses reiche und schöne, geliebte Leben zu Ende war. Er wurde nicht alt“ und nicht hilflos und ging aus der Welt, wie er gelebt hatte: als ein Herr und aufrecht und seines Auftrags gewiß.

Nun tickt ferne ÄtTftrJTfflcrfiTlT filBen der großväterlichen Taschenuhr, ein wenig hastiger hört es sich an, denn die Zeiten sind sehr viel unruhiger geworden und alles Stabile ist dahin.

Da ist aber nun noch jene dritte Uhr, und die ist kein Erbstück, ich selber kaufte sie einst. Sie ist nicht aus Gold, sondern aus Stahl, denn die goldenen Zeiten sind dahin, und wir leben im stählernen Zeitalter, dem des Eisenbetons, der Atombomben und der offiziellen Herzlosigkeit. Die Uhr ist unfähig geworden, die Zeit noch so geruhsam zu messen, und neidisch blickt sie auf ihre zwei gediegenen Kolleginnen. Denn sie ist eine Stoppuhr und nur noch geeignet, ganz kleine Werte, Sekunden und Zehntelsekunden, ganz genau zu messen, ganz kleine Stücklein aus dem großen Fließband herauszuschneiden, winzige Dosen, wie sie der Mensch von heute braucht und verträgt. Denn in seinem betäubten Ohr erträgt er das große, bedrängende Rauschen der Zeit nicht mehr.

Wie soll der Mensch von heute auch größere Ruhe und Beschaulichkeit aufbringen, im Bewußtsein, daß in jeder Sekunde der ganze Planet auseinanderfliegen kann, wenn irgendwo ein Idiot auf den Knopf drückt! Die Uhr ist ihrer Zeit gemäß und paßt zu ihr. Ich brauche sie seit 16 Jahren, um zu trainieren und mich dafür zu plagen, daß nun die Diplome und Preise an den Wänden hängen und in einem gespannten Verhältnis zum kultivierteren Teil des Zimmers stehen.

Mein Vater vererbte mir noch viel mehr Bücher als mein Großvater, und der Zuflucht und der Mahnung und des unerfüllbaren Anspruchs ist nun kein Ende mehr. Beide vererbten sie mir auch ein Großteil von instinktiven Anschauungen und Gefühlen, die mich in Gegensatz zu den herrschenden Forderungen und Meinungen bringen und mir das Leben 60 seltsam erschweren und erleichtem. Ich kann zwar sicher besser laufen, paddeln, holzhacken, englisch sprechen und maschinschreiben als mein Vater und mein Großvater, aber ihren guten und steten Weg von unten nach oben kann ich nicht gehen, und die Gesellschaft hat an mir keine Stütze und ich nicht an ihr. Das ist so verzweifelt typisch für die Angehörigen einer Generation, die „zwischen den Schlachten“ zu leben gezwungen ist, und der ständig das Schicksal vorgeworfen wird, mit dem man sie beglückt hat.

Nun, was will man verlangen von einer Zeit, die nach Sekunden gemessen wird, und in der nicht gerade die Allersehl echtesten es vorziehen, „in die Wälder zu gehen“! Was wissen wir, vielleicht muß das alles so sein. Jene unbegreifliche und alles bestimmende Macht, die alle Uhren reguliert, goldene, stählerne, und die in den Herzen der Menschen, sie wird wohl wissen, zu welchem Sinn sich dies alles fügt. Und, so gesehen, sind auch die drei Uhren auf dem Regal im Einvernehmen, keine hat der anderen etwas voraus.

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