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Empfang bei der Kaiserin T’seu=Hi

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In Peking traf ich Ende Oktober 1904 ein. Als k. u. k. Militärattache der russischen Armee in der Mandschurei zugeteilt, sollte ich so rasch als möglich das Hauptquartier des Generals Kuropatkin in Mukden erreichen.

Alle Zufahrtswege nach der Nordmandschurei waren durch die japanischen Armeen unterbrochen. Ich hatte somit die Wüste Gobi zu durchqueren, um die transsibirische Eisenbahn zu erreichen und auf den Kriegsschauplatz zu gelangen.

Es handelte sich darum, eine Karawane zu finden, um mit ihr die paar tausend Kilometer quer durch die dürre Steppe zurückzulegen, welche China von dem fruchtbaren Tale des Irtysch trennt. In diesen Kriegszeiten War der Handelsverkehr von China nach Rußland eingeschränkt, den Uėberfallen der Kungusenstämme ausgesetzt, die, von den Japanern begünstigt, die Transporte angriffen, welche den zaristischen Armeen Zufuhr liefern konnten.

Zwei Monate der Vorbereitung und des Abwartens, die ich in Peking verbringen mußte, gaben mir Gelegenheit, die Herrlichkeiten des geheimnisvollen Reiches der Mitte kennenzulernen, die so bald im Verlauf der Revolutionen verschwinden sollten. Das China des Kung-fu-tse, des Lao-tse und der Mandschu-Dynastie erlebte dam.ais seine letzten.Tagc,-denn der Modernismus ‘dės Sun-Yat-sen sollte in-kürzester' Frist zer- StÖrtW Was "eine secltstai!tšertdjdhri£e Kultur' ’äirf- gerichtet hatte.

Ich wohnte in der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft. Im Laufe der Kämpfe gegen die Boxer, 1900, war die französische Kolonie in Peking durch österreichisch-ungarische Matrosen verteidigt worden, seither verband eine feste Kameradschaft die französische und die österreichische Vertretung. Unser Gesandter, Herr von Rosthorn, war mit Pichon, dem Vertreter der Dritten Republik in China, eng befreundet, seit meiner Ankunft genoß ich die liebenswürdige Gastfreundschaft der französischen Diplomaten. Auf der französischen Gesandtschaft wurde ich dem Prinzen Pun-Lun, einem Verwandten der Dynastie, vorgestellt. Der Prinz hatte in Frankreich studiert, er war Lizentiat der Sorbonne, hatte in seiner Jugend Europa bereist und sprach alle europäischen Sprachen. Sein Vermögen hatte ihm unbegrenzte Bewegungsmöglichkeit gestattet. Als ich ihn kennenlernte, war er achtzig Jahre alt, ein Weiser, der durch das Mittel einer wohlwollenden Philosophie versuchte, die Beweggründe der menschlichen Handlungen und des menschlichen Verhaltens zu erklären. Dieser Greis, einst ein Vertreter der europäischen großen Welt, hielt sich am Ende seines Lebens aufs genaueste an die Sitten seiner Väter, er trug nur ihre Tracht. Mir, dem jungen Soldaten, der mit gespanntester Aufmerksamkeit eine völlig neue Welt betrat, kam er hilfreich und erklärend entgegen.

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Der Prinz Leopold von Preußen, ein Schwager Kaiser Wilhelms II., war in Peking eingetroffen. Auch er hatte seinen Souverän im Hauptquartier des Generals Kuropatkin zu vertreten, auch er hatte denselben Weg wie ich durch die Wüste einzuschlagen. Wilhelm II., indem er dem Sieger von Port Arthur, dem japanischen General Nogi, einen hohen Orden verlieh, trug damals viel zur Herstellung guter deutsch-japanischer Beziehungen bei und gleichzeitig vertiefte er die seit dem Berliner Kongreß vorhandene russische Verstimmung. Die japanische Gesandtschaft in Peking erteilte infolgedessen der Karawane des Prinzen Leopold freies Geleit, und die Angriffe der Kun- gusen, die zu Japan hielten, waren somit nicht zu befürchten. Es war für mich naheliegend, die einzigartige Gelegenheit zu ergreifen und mich anzuschließen.

Prinz Leopold hatte um eine Audienz bei der Kaiserin von China nachgesucht, er sollte ihr ein Geschenk des deutschen Kaisers überreichen.

Kurze Zeit vor meinem Eintreffen in der chinesischen Hauptstadt hatte einer meiner Vettern die Enkelin des Kaisers Franz Joseph geheiratet. Mein Name war dadurch am chinesischen Hofe bekannt, und mein Gesandter wollte die Gelegenheit wahrnehmen, um den Empfang eines Vertreters der österreichisch-ungarischen Monarchie am chinesischen Hofe zu ermöglichen. So kam ich, ein einfacher Artillerieleutnant, dazu, der seltsamen Ehre teilhaftig zu werden, durch die Herrscherin über ein Volk von 400 Millionen empfangen zu werden.

Nach langen Verhandlungen mit dem Palast und der deutschen Gesandtschaft wurde eine gemeinsame Audienz für den Vertreter Wilhelms II. und für meine Person gewährt und festgesetzt. Im Verlauf der damit verbundenen Zeremonie sollte zu unsern Ehren ein Diner zu Füßen des Thrones, zu Füßen der „Himmelstochter'' stattfinden.

Der Minister des Aeußeren, Tching-Na-Tung- Titu, holte uns in der Gesandtschaft ab. Vier prachtvolle Liegesänften waren für den Prinzen Leopold, den Gesandten des Reiches, Freiherrn von Mumm, Herrn von Rosthorn und für mich bestimmt. Bis zum Eingang der Verbotenen Stadt sollten zwei Marinedetachements unserer Gesandtschaftswache uns das Geleit geben. Das Korps der kaiserlichen Eunuchen empfing uns. Der Sommerpalast, der von fünftausend Personen bewohnt war, umfaßte einen Park, in dem gewaltige Buchen, Platanen und Pinien wuchsen. Nahe bei diesem Park befindet sich heute noch der Himmelstempel, die Mitte der Welt, von Marmorterrasse zu Marmorterrasse aufsteigend um die mit azurblauen Ziegeln gedeckte Pagode herum, in welcher einmal im Jahre der Kaiser Sünden und Schuld seines Volkes auf sich zu nehmen pflegte. In den mit Blumen überwachsenen, von einer Unzahl von seltenen Vögeln belebten Seen stehen die Lusthäuser. Ueber herrliche, harmonisch ausschwingende Brücken wurden wir geführt, um zuletzt in den Herrscherpalast zu gelangen.

In einem kleinen Raum hinter der Eingangshalle saß die Kaiserin auf ihrem goldenen Thron, saß T’seu-Hi, die bedeutende Frau, die es ermöglicht hatte, während mehr als einem halben Jahrhundert über so viele und verschiedene Völker des Riesenreiches zu herrschen. Vier ihrer Gatten hatte sie verschwinden lassen. Einer großen Zahl von Nachkommen, die Ansprüche auf die Thronfolge besaßen, war es nicht anders ergangen. Bis in die entferntesten Provinzen herrschten als Vizekönige, den leisesten Absichten der Herrscherin hörig, ihre Liebhaber und ihre Favoriten. Die Kaiserin war es, welche im Jahre 1900 den sogenannten Boxeraufstand organisiert hatte, um die Bevormundung der durch die Großmächte in allen chinesischen Häfen eingerichteten Zollbehörden abzuschütteln.

Nun saß sie vor uns, uralt, geduckt, auf untergeschlagenen, gekreuzten Beinen, auf dem mit eingelegten goldenen Ornamenten geschmückten Elfenbeinthron. Aber trotz der geduckten Stellung überragte sie alles. Eine herrliche Greisin, hoheitsvoll, mit weiten, dunkelschwarzen, kalt abweisend und verächtlich uns betrachtenden Augen.

Spät erst, im Verlaufe des nicht endenden Festmahles, stellte sie uns die durch das Protokoll vorgesehenen Fragen, die zuerst aus der Man- dschu-Sprache auf Chinesisch, dann auf Französisch übersetzt wurden. Ich konnte somit in Muße ihre herrlichen Gewänder, den Kopfschmuck und ihre Juwelen betrachten. Während der ersten halben Stunde war ich gefesselt durch den durchdringenden Blick, der alle Gewalten Asiens zu enthalten schien.

Nach der einleitenden Rede des Großmandarins Na-Tu antwortete Herr von Rosthorn in der reinsten Mandschu-Sprache, und er erklärte, wir seien beauftragt, die ehrerbietigen Grüße der beiden westlichen Kaiser der großmütigen Herrscherin des Fernen Ostens zu überbringen.

Wir saßen zu beiden Seiten eines kleinen Tisches zu vier Gedecken, wörtlich zu Füßen der Kaiserin, die uns zuschaute, Wir wir die verschiedenen Gerichte der chinesischen Küche verzehrten. Nach einiger Zeit stellte sie dem Großmandarin eine Menge von Fragen, die er uns dann zu übermitteln hatte. Dieser Staatsmann in seinem mit goldenen Drachen bestickten Mantel, der noch den langen Zopf trug, ließ nur wenige dieser Fragen übersetzen. Der Gesandte von Rosthorn, der indessen alle Fragen der Kaiserin verstand, erzählte mir später, sie habe gefragt, warum der Kaiser Franz Joseph im Jahre 1898 sich der Kaiserin entledigt hätte. Na-Tu aber übersetzte, ihre Majestät wünsche zu wissen. ob Kaiser Franz Joseph in seinen Gärten viele Pfauen unterhalte, und ob er ein Liebhaber von Pasteten sei, die mit Kolibri-Zungen gefüllt seien.

Inzwischen betrachtete ich die hohe blauschwarze Frisur der Kaiserin, die, mit lauter riesengroßen Diamanten besteckt, durch den wundervollen Gegensatz zu den gelbseidenen Wandbehängen wirkte. Zu beiden Seiten der Kaiserin standen zwei anderthalb Meter hohe Vasen aus purem Gold, auf dem der kaiserliche Man- dschudrache eingraviert war, dieses allegorische Hauptmotiv, das auf allen Kunstgegenständen des Palastes zu finden war.

Während des Essens war mir in einer finsteren Ecke des Saales ein junger, kränklich aussehender Chinese aufgefallen, der einzige, der außer der Kaiserin und uns, den vier Gästen, dem feierlichen Vorgang sitzend beiwohnte. Ich fragte Rosthorn, wer diese Persönlichkeit von Rang sei. — Es war der Kaiser! Kaiser aller Chinesen, den T’seu-Hi seit seiner Kindheit in alle Laster hatte einführen, ihn hatte entnerven lassen durch Männer, Frauen und Rauschmittel. Wie so viele seiner Vorgänger, war er zu einer willenlosen Puppe geworden, ohne jede selbständige Regung angesichts der Willensäußerungen der an der obersten Gewalt mit allen Fasern festhaltenden siebenundsiebzigjährigen Gewaltherrscherin.

Mitten unter den unvergleichlichen Kunstgegenständen, die ich betrachten konnte, befanden sich Dinge von äußerster Geschmacklosigkeit, links und rechts von dem unvergeßlichen Haupt der Kaiserin beispielsweise zwei Toilettespiegel aus Blech, wie man sie in jedem Dreigroschenbazar kaufen kann. Und während das Porzellanservice und die chinesischen Eßgeräte auf unserem Tisch Kunstgegenstände waren, stand auch häßliches europäisches Steingut herum, Löffel und Gabeln waren aus Zinn. Das

Essen, im Verlaufe dessen alle denkbaren Gerichte der chinesischen Küche vorbeizogen, hatte zwei Stunden gedauert. Unerwartet aber fiel von der Decke ein rotseidener Vorhang zwischen uns und die „Himmelstochter“. Nun war sie unseren Blicken entschwunden.

Jetzt erst setzten sich der große Na-Tu und einige andere Mandarine; auf von Eunuchen her- beigetragenen Sesseln ließen sie sich nieder und begannen von alten Gebräuchen und Formen umrahmte Beratungen über die zu verteilenden Geschenke und Orden.

In der Folge erhielten Prinz Leopold und ich Staatsgewänder mit den Abzeichen eines Mandarins zweiter Klasse mit roten Knöpfen, was uns innerhalb des ganzen chinesischen Reichsgebietes das Recht verlieh, uns in Sänften von vier Kulis auf Kosten der Regierung tragen zu lassen. Dies war damals ein Privileg, das bei den Reisenden, der schlechten Straßen wegen, aufs lebhafteste angestrebt wurde. Sodann wurde uns auch alles Tafelgeschirr, das wir benutzt hatten, überlassen.

Inzwischen hatte sich die Kaiserin in den Himmelstempel verfügt, um sich dort durch bestimmte Riten vom Kontakt mit den Weißen zu reinigen. Wir aber wurden von Na-Tu in die verschiedenen, von den Mitgliedern des Hofs bewohnten Pavillons geführt, wir waren die letzten Fremden, die die in diesen Pavillons enthaltenen Schätze erblickt haben.

Ich hatte mittlerweile die Aufforderung erhalten, mich der Karawane des Prinzen Leopold anzuschließen, um mit ihm die Wüste zu durchqueren. Ohne den Prinzen wäre diese Reise eine sehr unsichere gewesen. Ich war ihm darum dankbar, und hatte, um mich erkenntlich zu erweisen, den Einfall, ihm das hohe Vergnügen eines Abends im Schloß Pun-Luns zu verschaffen, innerhalb dieser hohen geistigen Atmosphäre, die mir dank der Freundschaft dieses wunderbaren alten Weisen vertraut geworden war.

Aber Leopold von Hohenzollern war eine recht seltsame Figur. Dieser General Wilhelms II.

hatte in seinem Gepäck eine Sammlung von dreihundert Paaren männlicher und weiblicher Schuhe mitgebracht, die er in jedem seiner Quartiere jeweils ausbreiten ließ und stundenlang betrachtete. Abgesehen von diesem morbiden Fetischismus besaß er gute historische Kenntnisse. Soldat war er nur gezwungenerweise geworden. Er hatte seine Studien in Heidelberg abgeschlossen, und er hätte sie gerne fortgesetzt. Gerade dies war der Grund, der mich auf den Gedanken brachte, ihn mit dem Prinzen Pun- Lun zusammenzubringen. Leider wurde dann der Abend in dem einzigartigen Rahmen des Schlosses von Hei-Hung ein rechter Mißerfolg.

Prinz Leopold hielt es augenscheinlich für nötig, seinem Gastgeber die Bedeutung der hohenzollerschen Dynastie begreiflich zu machen. Vergeblich sprach Pun-Lun über chinesische Wissenschaft, vergeblich versuchte ich, das Gespräch auf die Kunstsammlungen zu lenken: Leopold hörte nicht auf, vom geschichtlichen Auftrag der Hohenzollern zu sprechen, von ihren unvergleichlichen Leistungen seit dem Großen Kurfürsten, die sie zum Anspruch auf Herrschaft über die ganze zivilisierte Welt berechtigten.

Nachdem er während des langen Abends derartige Belehrungen hatte über sich ergehen lassen, fand der bedeutende Gastgeber endlich Gelegenheit, einen Satz auszusprechen. Er sagte: „Eure königliche Hoheit wissen vielleicht, daß Angehörige des alten China immer schon Anhänger des Ahnenkultes waren. Was mich betrifft, so bin ich leider kaum berechtigt, über diesen Gegenstand zu sprechen, da die Dokumente meines Familienarchivs nicht über dreitausendachthundert Jahre hinausgehen, aber sprechen Sie mit meinen Vettern von der Ming-Dynastie, die Ihnen über sechstausend Jahre berichten können.”

Der preußische Prinz verstummte plötzlich. Er schien verwirrt, und doch glaube ich nicht, daß er damals die Lektion, die ihm der alte Chinese erteilt hatte, wirklich erfaßt hat.

Ich war damals noch nicht auf der Welt." — Das Lächeln der Meisterin erlosch, ihre Augen bekamen ein sonderbares Licht. „Die Schönheitskönigin von 1930 — war ich.“ — Catherine fuhr zusammen. Ihre Augen wurden groß; stumm starrte sie in das etwas aufgeschwemmte müde Gesicht der verblühenden Frau, und nun erkannte sie die Linien der Enttäuschung um ihren Mund — und die Runen einer feinen Weisheit.

„Sehen Sie, ma cherie, so entschwindet das Vergängliche! Die Jugend und Schönheit, die Sommernachtsträume der Kleider, die wir fabrizierten, wie die Modelaune diktierte. Ich sage Ihnen — ich arbeitete bislang für das Nichts, für das, was wie ein Traum verrauscht. Aber jetzt, kleine Catherine, hören Sie gut zu, jetzt arbeite ich zum erstenmal Kleider, die lebendig bleiben.“ Nein, das Mädchen verstand nicht, es war noch zu jung. Da sagte die Meisterin, und legte ihr die Hand um die Schultern: „Catherine, wenn ich einmal so vergessen bin, wie die Schönheitskönigin von 1930, dann gelten all die glanzvollen Abendkleider nichts mehr — aber ich denke, nach einem einzigen Kleid, das ich für eines der Waisenmädchen schaffe, wird mich einmal der fragen, der gesagt hat: ,1st nicht der Leib mehr als die Kleidung?“ Nein, ich erwarte keinen Preis, es genügt mir, dorthin zu kommen, wo die wahre Königin des Universums lebt und herrscht. Sie allein hat das wahre Maß der unzerstörbaren weiblichen Vollkommenheit und wird alle Schönheitsköniginnen der Erde überdauern.“

Catherine saß benommen da; die Meisterin nahm ihr das alte Photo ab und zerriß es lächelnd vor ihren Augen. Es war, als zerstöre sie eine Vergangenheit, die nicht wert war, genannt zu werden. Die Geste war stärker als Worte. Dann barg sie das Bild des marianischen Waisenhauses behutsam und legte es zuoberst in ihren Koffer.

Und die kleine Midinette spürte, wie ein Hauch echten Lebens sie streifte — es war, als erwache sie aus einem verwirrenden Traum. „Gott schütze Sie, Catherine", sagte ihre Meisterin leise.

EINES IHRER SELTSAMSTEN ABENTEUER

hatte die moderne Kunst in Wien.

Viele von uns werden in ihrem Leben wohl jenen eigenartigen Schauer gespürt haben, der uns unerwartet und unvorbereitet überfällt, wenn wir eine neue, noch nicht gesehene Landschaft betreten, ein Tal mit einem Flußlauf darin, oder eine Kleinstadt und plötzlich wissen: dieses Tal und diesen Fluß oder diese kleine Stadt kennen wir; kennen wir so, als wären wir schon hier gewesen. Zugleich mit dem Bewußtsein, sie schon einmal gesehen, sie also gleichsam im eigenen Unterbewußtsein schon immer mit herumgetragen zu haben, bricht die — weil nicht beantwortbare — quälende Frage auf, woher uns diese Landschaft oder woher uns die Stadt mit ihrem Kirchturm, ihrem Marktplatz und ihren Gassen denn vertraut sei; warum wir plötzlich, ehe wir noch um eine bestimmte Ecke gebogen sind, den Blick vorausahnen, der sich an jener Stelle mit Sicherheit einstellen muß.

Ein Erlebnis dieser Art widerfuhr der modernen Kunst, als sie nach Wien kam.

Um die Eigenart dieses Abenteuers verstehen zu können, müssen wir uns kurz das Wesen österreichischer Kunst ins Gedächtnis rufen.

EINES DER BESTIMMENDEN -ÄUSSEREN KENNZEICHEN österreichischer Kunst ist, ohne deutliche Konsequenz zu verlaufen. Weder kennt die österreichische Kunst eine kontinuierliche Entwicklung auf gleichbleibendem europäischem Niveau, noch ist sie jemals stilschaffend gewesen. Weder Romanik noch Gotik, weder Renaissance noch Barock Sind österreichischen Ursprungs. Kein in die Stilgeschichte unseres Jahrhunderts eingegangener Ismus darf als österreichischer Beitrag zur modernen Kunst angesehen werden. Fauvismus und Kubismus stammen aus Frankreich und wurden fast ausschließlich von Franzosen oder in Frankreich lebenden Spaniern getragen, der Futurismus ist in Italien beheimatet, der Expressionismus hat in Deutschland seine entscheidende Ausprägung erfahren. Der Dadaismus entstand in Zürich, der Surrealismus in Paris.

Zum Wesen österreichischer Kunst gehört das „Noch nicht“ und das „Nicht mehr“, das „Zu früh“ und das „Sehr spät". Oesterreich hat der Weltgeschichte der Kunst keine ausgeformten Stilrichtungen geschenkt, aber es ist das Land der genialen Vorläufer und wunderbaren Spätblüten, deren Glanz oft in einer harmonischen Synthese aller lebendigen Kräfte eines Stiles gelegen ist.

EHE NOCH DIE GOTIK ihren Siegeszug durch Europa angetreten hat, werden — 750 Jahre ist’s nun her — in den Zisterzienserstiften Heiligenkreuz, Zwettl, Lilienfeld jene Kreuzgänge gebaut, die in makellosem Ueber- gang verfeinerte Elemente der Romanik mit vorweggenommenen der Gotik vereinen. Vor 600 Jahren wurde in Oesterreich eines der ersten Porträts der abendländischen Tafelmalerei geschaffen: das Bildnis Rudolf des Stifters. Die vier großen Temperagemälde auf der Rückseite des Verduner Altars, die ihm beim Umbau im Jahre 1331 angefügt wurden, gehören zu den ältesten Tafelbildern nördlich der Alpen. Die Meister der Donauschule malten die ersten „zweckfreien" Landschaftsbilder. Michael Pacher und Lorenz Luchsperger schufen in Kefermarkt und Herzogenburg die ältesten Schnitzaltäre der Welt. Der süddeutsche Frühklassizismus hat in Georg Raphael Donner einen Vorläufer. Franz Anton Maulpertsch ist einer der ersten Vertreter der Sturm- und Drangmalerei, Ferdinand Georg airismus, der Freilichtmalerei, vorweg. Die Bestrebungen und Errungenschaften des Impressionismus finden wir schon in der Malerei Adalbert Stifters; sein „Motiv aus Neuwaldegg“ etwa ist bereits bewußte Wiedergabe einer Stimmung, einer Impression. In der schnörkeligen Unruhe in vielen Gemälden Romakos zeichnet sich wetterleuchtend der Expressionismus ab.

Aber die Malerei der Waldmüller, Stifter, Romako blieb einmaliges Ereignis; ihre eigentliche Bedeutung wurde nicht erkannt, sie fanden keine Schüler, die das in ihrer Malerei neu zutage Getretene konsequent weiterentwickelt hätten. Wahrscheinlich ist, daß sie die formale Bedeutung des von ihnen Gefundenen selbst nicht in seiner Tragweite erkannten. Ihre Größe bestimmt ihre Tragik: Jahrzehnte zu früh geboren worden zu sein. Der mangelnde Widerhall, das Fehlen Gleichgesinnter, vielleicht aber auch ihre österreichische Wesensart, ließ es nicht zu, daß sie Revolutionäre wurden und einen neuen Stil begründeten. Sie blieben einsame Vorläufer.

ÖSTERREICH IST aber nicht nur das Land der Vorläufer. Gotik (zum Beispiel mit Anton Pilgram) und Barock (zum Beispiel mit Fischer von Erlach) fanden hier zu ihrer letzten Vollendung, manche Tendenz der Malerei unseres Jahrhunderts erlebte in Oesterreich, und hier wiederum in Wien, dem Zentrum jener spezifisch österreichischen Maltradition, die in gleicher Weise weltoffen, urban und human genannt werden darf, überraschend eine späte Blüte — überraschend freilich nur für den, dem unsere nationale Eigenart fremd ist.

Fassen wir diese, wie gesagt nur äußeren, Kennzeichen österreichischer Malerei ins Auge,

so erkennen wir, wenn wir im gleichen Augenblick jene unübersehbare, üppig wuchernde Vielfalt malerischer Erscheinungen, welche diese wie jede Gegenwart mit sich bringt, aus dem Blick bannen, das Bild der modernen Kunst in Wien.

DIE NEUE KUNST beginnt in Wien mit der Gründung der Secession im Jahre 1897. Sie erfolgte vom Kaffeehaustisch aus — vom Tisch des Cafe Kugel auf der Wieden, wo sich Klimt mit seinen Malerfreunden traf. Daß dann Paris und nicht Wien zum Ausgangspunkt der modernen Kunst wurde, hat mehrere Ursachen. Zum ersten fehlte in Wien eine entwicklungsfähige Tradition, auf die sich die Ansätze zu einem neuen Stil — und damit zu einem neuen Lebensentwurf — hätten stützen können. Dann waren die gewonnenen Resultate zu sehr in sich abgeschlossen und noch zu stark mit traditionellen Vorstellungen verbunden, als das auf ihnen hätte weiter aufgebaut werden können.

Dies soll näher erläutert werden. Dem Oesterreicher geht es zunächst um Welterkenntnis, dann erst um eine Ordnung der Formen. Er wird Kunst selten isoliert, fast immer in ihrem metaphysischen Zusammenhang sehen. Die inhaltliche, gedankliche Komponente hat in seiner Malerei stets die dominierende Rolle gespielt. Der österreichische Künstler geht vom geistigen

Problem aus: mit der Lösung des Problems gewinnt er die Form. Die formale Gestaltung ist das Sekundäre. Sie stellt sich von selbst ein, wenn man die geistige Problematik erkannt hat. Die formale, die künstlerische Lösung der Fragestellung ist eine Folge der Erkenntnis, nicht umgekehrt. So scheint es verständlich, daß Stil etwas ist, was jeder für sich und von Mal zu Mal erringen muß; und daß seine konsequente Weiterentwicklung gehemmt wird durch die Notwendigkeit, ihn stets aufs Neue zu erringen.

Stellen wir uns, um diesen Tatbestand deutlich zu machen, zwei so verschieden geartete Maler wie Paul Klee oder Piet Mondrian vor, deren Schaffensweise den Gegensatz bildet zu der oben andeutungsweise erklärten. Bei Klee und Mondrian ist es gerade die Methode, welche die Ergebnisse herbeizwingt. Die ein für allemal gewonnenen und ständig verfeinerten Mittel und das einmal geschaffene und ständig erweiterte Forminventar sind es, die ganz von selbst und aus sich heraus zur Weltanschauung führen.

NUN WERDEN WIR VERSTEHEN, warum der Impressionismus nicht mit Stifter begann und die abstrakte Kunst nicht mit Klimt. Es ging ihnen nicht um das, was wir an modernen Elementen in ihrem Werk erkennen. Diese stellten sich nebenbei, als Neben-, wenn auch nicht Abfallprodukt ihrer Schaffensweise ein, weil sie der Formensprache ihrer Zeit auf eigene Art voraus waren. Sie waren ihr voraus in ihrer Ahnung einer neuen Weitsicht und neuer geistiger Zusammenhänge, die darzustellen sie neue Mittel, neue Formen verwenden mußten.

Stifter ging es im Grunde um nichts anderes als um das „sanfte Gesetz“. Im Bewegten das Ruhende zu finden, im Kleinen das Ewige zu entdecken: das war es! „Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß“ schrieb er. Stifter suchte das Bleibende — und schuf die ersten Bilder impressionistischer Augenblicksmalerei, die eine bestimmte Atmosphäre, eine flüchtige Stimmung festhielten.

Klimt und der sezessionistischen Bewegung ging es um eine Neugestaltung aller kultureller Lebensäußerungen. Der Jugendstil ist, wenn auch noch nicht in dem Maße wie später der Dadaismus, ein Lebensstil. Er beschränkte sich nicht auf die Malerei. Er ergriff in gleicher Weise Mode und Möbel, Architektur und Plastik, Kunsthandwerk, Bucheinband und Plakat. Das Ornamentale und Dekorative sollten in gleicher Weise Schmuck wie Symbol sein.

DAS ZIEL der Secessionisten war eine neue Form des Lebens. Doch sie blieben der pausbäckigen Allegorie verhaftet. Das Interesse, das sie an der Mythologie, am Exotisch-Fernen nahmen, war noch historisch-romantisch und durchaus intellektuell. Es war noch nicht aufs Wesentliche — auf das mythische Denken und Empfinden als solches, unabhängig von seinen bisherigen Ausprägungen — gerichtet. Sie hätten, zehn Jahre vor Kandinsky, zur abstrakten Malerei finden können. Der Schritt hinüber zum Mythos der Abstraktion lag, nach der Länge der schon zurückgelegten Wegstrecke, nahe. Doch wurde er nicht getan. Klimt und seine Freunde konnten nicht darauf verzichten, jeder Form ihre direkte Bedeutung zu verleihen; so brachten sie nur eine inhaltsschwere Abart der Abstraktion hervor.

Kokoschka, um noch ein Beispiel anzuführen, fand seine Erfüllung im Wiener Expressionismus: mit glühender Vehemenz malte er seine Porträts, realisierte seine Vision des Menschenantlitzes seiner Zeit. Sein Altersstil aber machte offenbar, daß es ihm im Wesen immer nur um eines gegangen ist: in die Zeit zu wirken, seine Stimme zu erheben für einen neuen Humanismus; also um das Ausgedrückte, um den Inhalt, und nicht um die Form des Ausdrucks.

Richard Gerstl und Egon Schiele, vielleicht die einzigen Künstler, die — neben Kokoschka

— berufen waren, einen neuen Stil mitzutragen und konsequent neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen, starben zu früh: Gerstl 25jahrig, Schiele 28jährig.

1919, ALS WALTER GROPIUS in Weimar das Bauhaus schuf, sprach Hugo von Hofmannsthal zu den Mitgliedern des Wiener Werkbundes. Dem Bild des Wiener Werkbundes, dessen Bestrebungen er in feiner Einfühlung charakterisierte, stellte er das des deutschen Werkbundes gegenüber. Jener habe, so sagte er, größere Bodennähe, die engere Beziehung zu den „heimatlichen Quellen", dieser aber „die Schärfe der Formulierung“ voraus, „das, was in der begrifflichen Umreißung der Ausdruckskultur, in dem Sichklarwerden, in dem Begriffe durchgeistigter Arbeit festgelegt ist."

Die deutschen Bestrebungen — vor allem, wie sie sich im Bauhaus manifestierten — waren konstruktiver, konsequenter und führten in ihrer Entwicklung klar zur rein abstrakten Form. In Oesterreich kam es erst sehr viel später — nämlich in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts — zur selben Entwicklung.

ZUM WESEN DER ÖSTERREICHISCHEN KUNST scheint zu gehören, daß vorzügliche Ansätze nicht weiterentwickelt, daß gewonnene Erkenntnisse nicht systematisch durchgesetzt und ausgebaut werden. Kennzeichen des Oester- reichers ist das Genie ohne System, oder, schärfer formuliert: Genie, gemildert durch Nonchalance. Die geniale Leistung wird immer als Einmaliges, als Gnade begriffen — nie wird sie zur Methode, zum System erhoben. Das Genie scheint Systemlosigkeit zu verlangen und keine folgerichtige Auswertung zuzulassen. Ja, gerade das Systemlose ist zum Wesensmerkmal des Genies geworden, so wie es Wesensmerkmal der Kunst ist, keinen Zweck. zu haben.

Eher wird bei uns ein System selbst zum Genie (etwa der Beamtenapparat in der Monarchie), als daß das Genie systematisch arbeiten würde. Wo sich Ansätze zu einem System zeigen, sind es eigentlich nur die Ausnahmen künftiger Regeln, die verwirklicht werden.

Dieses Genialsein, aber keinen Gebrauch davon zu machen, steht wohl in enger Beziehung zu einer anderen Eigenschaft des Oesterreičhers: seinem Hang zum Fragment, zum Unvollendeten, zum groß Geplanten und nie Verwirklichten.

DIE ÖSTERREICHISCHE MALEREI hat sich in ihren Grundzügen in unserem Jahrhundert weitgehend autonom entwickelt. Soweit sie Anstöße und Anregungen aus dem Ausland aufnahm, verwandelt sie alles dem eigenen Wesen an. Jeder Ismus, von einem österreichischen Künstler praktiziert, nimmt Züge der österreichischen Malerei an. Die Formerkenntnisse der Malerei des Westens wurden wieder dem eigenen Streben nach Welterkenntnis dienstbar gemacht. — Kaum irgendwo finden wir bei unseren Künstlern entschiedene, aggressiv formulierte Programme. Ihr Werk wird weder von Manifesten noch von Demonstrationen begleitet, jedes Aufsehen ist ihrem Wesen zuwider.

Alle diese Umstände erklären, daß die moderne Kunst, als sie nach 1945 endgültig bei uns Einzug hielt, großen Widerhall fand (zwar nicht beim breiten Publikum, wohl aber bei allen ambitionierten Künstlern) und rasch heimisch wurde. Wenn man bedenkt, daß die moderne Kunst nun schon mehr als 50 Jahre alt ist - der Fauvismus begann 1905, der Kubismus 1907, die Abstraktion 1910 wirksam zu werden—, ist das wohl spät. (Diese Entwicklung spiegelt sich auch im Leben eines der bedeutendsten lebenden Österreichischen Maler, Herbert Boeckls. Er fand

— immer schon ein vorzüglicher und erfolgreicher Künstler — noch im Alter den Mut, konsequent die Möglichkeiten der Abstraktion in sein Werk aufzunehmen). — Heute gibt es bei uns eine Reihe konsequent vorwärtsstrebender und konstruktiv arbeitender junger Künstler. Mikl und Lassnig etwa auf der einen, Lehmden, Hutter, Moldovan und Absolon auf der anderen Seite, gehören zu ihnen. Man könnte sagen, daß ihr Werk — im Hinblick auf das von der neuen Kunst schon Geleistete — eine Spätblüte ist. Da sie aber Oesterreicher sind, bleibt die Möglichkeit offen, daß sie — in späterer Sicht — zu genialen Vorläufern neuer Entwicklungen werden.

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