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DER GROSSE BEGRIFF DER PFLICHT

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Oft steht auf Grabsteinen: „Unvergessen!“ Jedoch, wir sollten uns keine Illusionen machen: Die Menschen entschwinden, wenn sie tot sind, sehr bald schon unserem Gedächtnis; und nicht sie selber, sondern höchstens noch die Dinge, die sie uns hinterlassen haben, erinnern uns an sie. Und wenn dann auch diese Dinge durch den Gebrauch verändert und endlich verdorben sind, dann sind die Toten ganz und gar gestorben.

Wenn Kurt Absolon heute, zehn Jahre nach seinem Tod, noch so unverloren in meinem Gedächtnis lebt, daß ich mich nicht im geringsten verwunderte, wenn er jetzt plötzlich zur Tür herein käme, dann mag das vielleicht nur daran liegen, daß die Dinge, die er hinterlassen hat, unzerstörbar sind: ich meine seine Bilder. Eines davon hing all die zehn Jahre lang in meinem Zimmer, ich sah es, zumindest unbewußt, vielmals am Tage, und niemals, bis heute nicht, habe ich mich daran sattgesehen — das meitae ich mit dem Wort „unzerstörbar“. Es gibt Bilder, die gleichsam verblassen unter dem länger dauernden oder dem häufigen Blick des Beschauers; sie schmelzen gleichsam dahin, und nach einer Weile fragt man sich, ob es sich überhaupt gelohnt habe, dieses nun leere Blatt zu betrachten. Anders die Bilder Absolons: sie halten dem Blicke stand, weil sie Wesen von eigenem Rang und eigener Geltung sind. Ja mehr noch: als solche Wesen zwingen sie uns, in der KonfrontaticAi mit ihnen, zü einer Prüfung unserer eigenen Position, zu dem Bekenntnisse zu uns selber, kurzum: zu einem Leben, das an dem ihren sich messen läßt.

Aber ich glaube, diese Erklärung für die Unsterblichkeit Absolons in meinem Gedächtnis genügt nicht. Ich glaube, Absolon lebt deshalb weiter in mir, weil er gewissermaßen sich selber hinterlassen hat: weil er auch sein eigenes Leben künstlerisch gelebt, seine eigene Existenz zu eitiem Kunstwerk gemacht hat und eben deshalb, wie das Kunstwerk, mich zu einer Prüfung meiner eigenen Position, zu dem Bekenntnis zu mir selber, kurzum: zu einem Leben zwingt, das an dem seinen sich messen läßt. Und eben deshalb gedenke ich des toten Freundes, bei aller Trauer um ihn, doch in Heiterkeit; in jener Heiterkeit, die Goethe meint, wenn er sagt: „Das ist der Vorzug edlerer Naturen, daß ihr Hinscheiden in höhere Regionen segnend wirkt, wie ihr Verweilen auf der Erde; daß sie uns von dort her gleich Sternen entgegenleuchten, als Richtpunkte, wohin wir unseren Lauf bei einer nur zu oft durch Stürme unterbrochenen Fahrt zu richten haben; daß diejenigen, zu denen wir uns als zu Wohl wollenden und Hilfreichen im Leben hinwendete !, nun die sehnsuchtsvollen Blicke nach sich ziehen als Vollendete, Selige.“ Kurt Absolons Biographie klingt recht alltäglich: Er wurde am 28. Februar 1925 zu Wien geboren, besuchte das Gymnasium, maturierte 1943, stand dann als Soldat an der Front, wo er verwundet wurde, kehrte 1945 zurück und inskribierte an der Wiener Akademie. Er studierte bei Andersen und Gütersloh und hatte Kontakt mit Boeckl. 1951 beteiligte er sich an einer Ausstellung in Kassel und Frankfurt, 1952 hatte er, zusammeta mit Claus Pack, im Wiener Konzerthaus seine erste eigene Ausstellung. In diesem Jahr heiratete er. 1954 gab es zum erstenmal einen Preis, dann weitere Preise und weitere Beteiligung an Ausstellungen. Bis dahin hatte er seinen Lebensunterhalt als Laufbursche, Schaufensterdekorateur und Bauhilfsarbeiter verdient. In das letzte vollendete Jahr, 1957, fielen wichtigste Ereignisse: die Geburt seiner Tochter Iris; eine geradezu sensationell erfolgreiche Ausstellung in der Wiener Galerie Würthle; und eine Fratikreichreise als Stipendiat des „Instituts zur Förderung der Künste“. Am 24. April 1958 wurde ihm und mir für unser Carnuntum-Buch ein Theodor-Kömer-Preis verliehen, und zwei Tage später, am 26. April 1958, starb er bei Wulka- prodersdorf als schuldloses Opfer eines Autounfalls.

Doch dieses kurze, unsensationelle Leben von 33 Jahren war reich an inneren Abenteuern. Denn Kurt Absolon war ein Mensch, der nicht eine Minute lang unbeteiligt sein konnte. Dabei gehörte sei ! Interesse keineswegs nur seiner Kunst: er liebte Louis Armstrong und die Chansons von Georg Kreisler, und daneben studierte er die ihn faszinierenden Epochen der Geschichte; er, der als Schüler selber bei „Wacker“ gespielt hatte, kannte die Aufstellung des Wunderteams auswendig, und literarisch war er mindestens so versiert wie ein Germanist; er wußte Bescheid über Säuglingspflege und über den Stierkampf, er ereiferte sich an politischen Fragen und begeisterte sich an Wildwestfilmen — worüber er einen (wahrscheinlich verschollenen) Essay geschrieben hat. Nichts war ihm so gering, daß er nicht irgend einen Gewinn und Genuß daraus gezogen hätte: von einer Taxifahrt von Meidling in die Innenstadt konnte er schwärmen, mehr als andere von einer Weltreise; die billigsten Zigaretten, die „Dreier“, schmeckten ihm besser als einem Opiumraucher sein teures Gift; und es eignete ihm die Fähigkeit, auch mit Menschen bescheidene ! geistigen Ranges sogleich in ein gutes Gespräch zu kommen.

Trotz dieser Vielzahl seiner Interessen und der erbärmlichsten äußeren Bedingungen — jahrelang war die Fensterbank einer Wohnküche sein Zeichentisch, nur die letzten Lebensjahre verbrachte er in einer eigenen kleinen Wohnung —, trotzdem also hat er in fanatischer Arbeit — da verzichtete der Kettenraucher sogar auf die Zigarette — ein auch schon quantitativ bedeutendes Oeuvre geschaffen, dessen Umfang wahrhaft gewaltig ist, wenn man bedenkt, daß Absalon in scheinbar selbstmörderischer Selbstkritik zahllose Blätter vernichtet hat, weil sie früher oder später den radikalen Ansprüchen, die er an sich selber stellte, nicht mehr entsprachen; ein letztes großes Autodafė fand noch kurz vor seinem Tode statt. Im Nachlaß zählte man über 700 Blätter, einige hundert andere hatte der Künstler verkauft oder verschenkt; 1967 zeigte die Albertina nicht weniger als 185 Stücke, eines schöner als das andere. Es sftid vorwiegend Tuschfederzeichnungen, zum Teil aquarelliert, wobei dieJFi;ąge offen bleiben muß, ob Absolon infolge äußerer Umstände nur wenig gemalt hat oder ob er seinem Wesen nach eben ein Zeichner was; ich selber neige zu dieser zweiten Ansicht, wenngleich ich ihn trotzdem nicht einen Graphiker nennen möchte, da er mit der Feder, und zwar auch ohne Hilfe der sowieso nur diskret verwendeten Wasserfarbe !, gleichsam malerische Effekte erzielte.

Ich weiß: Ein beschriebenes Bild ist so viel wert wie ein erzähltes Mittagessen; trotzdem möchte ich ein paar Worte über Absolons Kunst hier sagen: Das knappe Jahrzehnt seiner Produktivität läßt sich grob in zwei Phasen teilen, in deren ersten die Vision dominierte, während in der zweiten die Anschauung mehr zur Geltung gelangte. Man könnte auch sagen: Anfangs zeichnete er Empfindungen, später Wahrnehmungen. In der ersten Phase, bis etwa 1954, nahm er das Thema oder zumindest den Anlaß gern aus der Literatur: wir kennen Bibelzyklen, einen „Don Quixote“, einen „Jardin du mal“ in Anlehnung an Baudelaire, dann ein „Coeur volė“ nach Rimbauds Gedicht, einen Zyklus zu Hemingways „Old Man and the Sea“; auch Visionen vom Stierkampf stammen aus jener Zeit, wiewohl Absolon erst etliche Jahre später, nämlich im Frühjahr 1957 in Südfrankreich, solchen Schauspielen beigewohnt hat. In der zweiten Schaffensperiode suchte und fand der Künstler seine Themen meist außerhalb seiner Phantasie: in der menschlichen Gestalt, im Tier, in Landschaft und Bauwerk. Da sprach nicht mehr er selber, sondern die Wirklichkeit sprach durch ihn hindurch; er beschied sich damit, ein Medium der Realität zu seih, und gerade in dieser Bescheidung gelangte er ganz zu sich selber. Sein Weg ging vom Effekt zur Erkenntnis, vom Chaos zur Ordnung, von der Romantik zur Klassik. Im Grunde aber war sein geistiges Fortschreiten, wie es sich in seiner Kunst manifestiert, gar nichts anderes als ein einziger ununterbrochener Akt der Selbstbefreiung. Gewiß: die phantastischen Bilder der ersten Epoche erscheinen uns als eben so echte Dokumente wie die realistischen der späteren Zeit; aber die Dar- stelhmg der Daseinsfigur geschieht in jenen auf eine direkte, in diesen jedoch auf eine indirekte Weise, also frei von subjektiver Interpretation. Die visionären, die phantastischen Zeichnungen sprechen ganz unmittelbar die Seele, die realistischen Bilder sprechen das Auge an; in jenen entdecken wir die Figur mittels der Psychologie, in diesen mittels der Anschauung. Jene enthalten die Figur als Inhalt, diese bieten uns die Figur als Form. Ich will dafür ein Beispiel geben:

Unter den späten Blättern finden sich zahlreiche Darstellungen eines Flußlaufes, einer Allee, einer Häuserzeile, denen dieselbe Struktur des Dreiecks beziehungsweise des spitzen Winkels zu Grunde liegt. Ein breiter, meist nur vage skizzierter Vordergrund spitzt sich nach hinten zu, wobei die Zeichnung selbst immer mehr an Schärfe und Subtilität gewinnt. Nicht der Inhalt, wohl aber die Form einer solchen Zeichnung enthüllt uns die Figur — oder wenigsten einen Aspekt der Figur —, die Kurt Absolon mit seinem Leben dargestellt hat: Er war ein Mensch von breiter Apperzeptionsbereitschaft; ob Doderers Romane oder ein Fußballmatch oder die ungarische Revolution oder irgendwelche Sorgen eines Freundes: immer nahm er Anteil, immer tastete er sich in das Problem hinein, engte es denkend und diskutierend immer mehr ein, dabei immer konkreter, immer intensiver werdend, bis er die Sache ganz buchstäblich zugespitzt und damit auch schon hinter sich gebracht hatte. Dieser Ort der äußersten Konkretion war, vom Zufälligen und Beiläufigen ausgehend, zu erreichen: im Leben wie in der Kunst.

In solcher Übereinstimmung von Kunst—Figur und Leben—Figur besteht die., humane Qualität des Werkes von Kurt Absolon; ja mehr noch: Es offenbart sich darin die sittliche Ambition des Künstlers. Mit Symbolismus und mit Moralismus hat das freilich gar nichts zu tun; es geht ihm, dem Künstler, ja immer nur um das Heil, das er stellvertretend für die von ihm zum zeichnerischen Anlaß genommene Welt zu erwirken trachtet; es geht ihm immer nur um ein vorbildhaftes Dasein in der Form, um eine beispielhafte Verwandlung des ihn umstehenden Chaos in Gestalt. Eben deshalb auch hält er die konkrete Wirklichkeit für den Ort der Sittlichkeit: wo Subjekt und Objekt, wo Mensch und Welt, wo Person und Schicksal identisch werden. •'

Das bedeutet für den Künstler: für sich nicht eine Aus- nahmeposdtion zu beanspruchen — als Priester oder als Clown, als Heros oder als Psychopath —, sondern auch in seinem privaten Dasein die Wirklichkeit des Lebens zu

akzeptieren, wie sie nun einmal ist. Absolon hätte sich zu Tode geniert, wenn sein Aussehen, sein Benehmen und seine Lebensführung darauf hingedeutet hätten, daß er Künstler sei. Denn seine ganze und einzige Ambition ging dahin, ein ganzer Mensch zu sein: ein Mensch, der sich zufällig nicht im Führerstand einer Lokomotive oder im chemischen Labor oder über einem Gesetzestext, sondern vor einem Blatt Papier zu bewähren hat. Und da beanspruchte er nicht, wie manche seiner Berufskollegen, irgendwelche Rechte, sondern er, der sich selber nie schonende Arbeiter, reklamierte für sich nur die Pflicht. Wie Stifter, den er liebte, glaubte er an die humanitäre Aufgabe des Künstlers: natürlich nicht in dem primitiven Sinn, daß er dem Publikum zu gefallen habe; sondern im Sinne einer Verantwortung für das Allgemeine, im Sinne einer indirekten, einer stellvertretenden Wirksamkeit.

An einem Abend, bald nachdem ich vom Tod des Freundes erfahren hatte, geriet mir ein Goethe-Almanach in die Hände. Gedankenverloren blätterte ich das Büchlein auf, begann da zu lesen, und was ich da las, war der Brief, den Goethe an Zelter geschrieben, nachdem er die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhalten hatte: „Hier nun allein kann der große Begriff der Pflicht uns aufrecht erhalten.“1 Und ich begriff jetzt ganz das Element, in dem Kurt Absolon sich bewegt hatte, mutig und fröhlich und wahrhaft frei sich bewegt hatte; begriff es als das Element, in dem wir alle uns zu bewegen und zu bewähren haben: im Führerstand einer Lokomotive, im chemischen Labor, über einem Gesetzestext, vor einem Blatt Papier: nicht als Techniker unseres Berufes, sondern als Zeugen für die Möglichkeit des Heils, auf das er nämlich hinweist, der „große Begriff der Pflicht“. Und ich verstand diesen Satz des alten Goethe als eine letzte Botschaft des toten Kurt Absolon an mich; als eine Botschaft, die eigentlich aber an uns alle gerichtet ist, weshalb ich nicht zögere, sie hier mitzuteilen.

Die auf dieser Seite reproduzierte Zeichnung ist dem Buch „Carnuntum — Geist und Fleisch“ von Herbert Eisenreich, mit Illustrationen von Kurt Absolon, entnommen. Das Werk ist im „Verlag für Jugend und Volk“ erschienen und wurde von den Brüdern Rosenbaum in Wien gedruckt.

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