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Kindneit in Schmerlen

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Geboren vor 80 Jahren, am 11. September 1873 in Groß-Pawlowitz in Südmähren, wurde Rudolf Kassner im Alter von neun Monaten von einer Kinderlähmung befallen, an deren Folgen er sein ganzes Leben zu tragen hatte. Seit 1892 lebte er in Wien, 1900 erschien im Insel-Verlag sein erstes Buch „Die Mystik, die Künstler und das Leben“. 1918 wurde Kassner gleich Rainer Maria Rilke tschechoslowakischer Staatsbürger, obwohl er im Gegensatz zu Rilke sich immer als „leidenschaftlicher Oesterreicher gefühlt hatte“. Seit Beginn der NS-Herrschaft durfte der Insel-Verlag keine Neuerscheinungen oder Neuauflagen der 18 Bücher des inzwischen berühmt gewordenen Philosophen mehr veröffentlichen. Nach dem Anschluß des Sudetenlandes erhielt Kassner Schreibverbot, wodurch er in große finanzielle Not geriet. 1945 verlor er als Volksdeutscher alles Vermögen in seiner südmährischen Heimat. Auf Grund einer Einladung von Schweizer Freunden, kann Kassner seit 1945 in der Schweiz leben.

Damit muß wohl angefangen werden: Als das Unglück geschah und ich eines Morgens regungslos, ohne Herrschaft über die Glieder, einem Toten gleich, von der Amme in der Wiege liegend aufgefunden wurde, war • ich gerade neun Monate alt. Jener Mensch, der unter den Lebenden am tiefsten in meine Bücher mit dem Gemüte eingedrungen sein dürfte und deren Beziehung zum lebendigen Leben mit größter Innigkeit erfaßt hat, meint nun, daß ich in diesem neunten Monate nach meiner Geburt zum zweiten Male geboren worden sei. Und zwar aus dem Geiste.

Ich meine, daß wir heute kein Verlangen oder nur ein sehr geringes nach Dokumenten, nach Dokumentarischem welcher Art immer haben, wodurch wir uns vom Menschen des neunzehnten Jahrhunderts nicht unwesentlich unterscheiden, der oft erst beim Dokumentierten Beruhigung zu finden schien. Wir sind uns, will das besagen, zu sehr des Zeichenhaften aller Erscheinung bewußt. Und so wollen wir, möchte ich meinen, auch keine Dokumente vom Kind über das Kind und so weiter, sondern wir wollen, daß der Alte das Kind noch einmal empfinde, daß er es durchempfinde, denn nur er vermag den Zauber des Kindseins, den Zauber der Kindeswelt so zu fühlen, daß er davon die rechte Kunde gebe.

So *vciß ich erst heute, dß meine ganze Kindheit, mein Knabentum samt allen Entbehrungen und wirklichen, keineswegs eingebildeten Schmerzen sich buchstäblich in einer Zauberwelt abgespielt hat, wann immer diese angehoben habe und zu Ende gegangen sein möge. Und innerhalb dieser Welt gab es Augenblicke, Stunden von solcher Verdichtung eben des Zauberhaften, daß das Kind selber etwas von einem erhöhten Zustand, ja von einer gewissen Un-wirklichkeit gewahr zu werden meinte. Worüber es dann zu niemandem eine Aeuße-rung tat, als gehörte das Schweigen darüber zur Verzauberung dazu und hätten Worte hier nichts zu vermitteln. Ein Gärtner war entlassen, sein Nachfolger wohl schon aufgenommen worden, hatte aber seinen Dienstantritt verschieben müssen, so daß ein etwas entlegener, an Umfang ziemlich be trächtlicher Teil unseres großen Gartens um das Gärtnerhaus herum direkt verwilderte, indem ihn mächtige Stauden Unkrauts bedeckten, so hoch, daß der Körper eines Kindes darin verschwand. Ich erinnere und spüre ihn, ich rieche heute noch den langen, warmen, trockenen Herbst darüber, ganz Gold und Ueberreife, und ich rieche den Morgen, da ich staunend vor diesem Walde stand, an die Berückung, dem Zauber einer exotischen und vorgeschichtlichen Landschaft vergleichbar, ein ganzes Leben lang im Herzen und im Sinn zu bewahren. Es ist ganz unwesentlich, ob ich nur einmal davor und darin gestanden, ob ich öfter

hingegangen bin oder gar den Versuch gemacht habe, mich dort, Spiele spielend, einzurichten. Doch nein, letzteres kam nicht in Betracht, da ich meine Spiele, zumal im Garten, nie allein gespielt habe.

Ein anderes Mal war es ein einfaches Försterhaus mitten in einem der Liechtenstein-schen Wälder, wohin wir, der Einladung eines Forstadjunkten Folge leistend, eines Sonntags am Nachmittag in zwei Wagen fuhren. Ein großmächtiger Uhu, weiß ich noch, saß in einem Käfig, der nach Aas stank. Dieser Uhu ist aber auch das einzig Reale, das mir im Gedächtnis zurückblieb. Alles andere war abermals Verzauberung, und was ich damals in mich eingehen ließ, kann ich heute vielleicht nur in der Musik des „Freischütz“ wiederfinden. Jahrzehnte sind über diesen einzigen Nachmittag hinweggegangen, mehr als ein halbes Jahrhundert ist darüber gestorben, und so sehr ich mich auch später bei Gelegenheit bemüht habe, die Lage auch nur ungefähr, den Zugang, den Ort wiederzufinden, wo die Wagen verlassen

wurden und ich mühsam, wie immer hinter allen zurückbleibend, den schmalen, unebenen, holperigen Waldweg zu Ende gehen mußte, es ist stets vergeblich gewesen; der ganze Ort schien, nachdem ich einmal dort geweilt, in die Lüfte gehoben und dort wolkengleich verschwunden zu sein.

Ich wiederhole, daß man mir nicht mit Verträumtheiten kommen möge. Eine ähnliche und wohl auch verwandte Verzauberung findet für den Menschen, je jünger, um so heftiger, vielleicht nur noch in dem Gesicht eines geliebten Wesens statt. Wem, nebenbei, der aufmerksam auf seine Träume wird, ist nicht aufgefallen, daß das geliebte Gesicht darin viel seltener figuriert als die Gesichter anderer, gleichgültiger, die sich daselbst besser bewahren? Der Grund dieses Phänomens wird darin zu suchen sein, daß alle erdenkliche Verzauberung hier, im geliebten Gesicht, schon im wachen Zustand, und zwar im Blick des Liebenden und durch ihn, vor sich gegangen ist und sich somit schon erschöpft hat, bevor es später zum Traum kommen konnte.

Ich habe die oberen vier Klassen des Gymnasiums in Nikolsburg besucht und wurde allemal zu den Ferien im Wagen von dort abgeholt und nach deren Verlauf wiederum zurückgebracht, was bei jeder Witterung einigemal im Jahr geschehen ist. Da wir die Pollauer Berge zu umgehen hatten, nahm die

Fahrt drei Stunden in Anspruch; die Entfernung in der Luftlinie hingegen ist bedeutend kürzer. Doch ich hätte trotz dieser wenigen Kilometer des Abstandes von meinem Heimatdorf ebenso gut in einem anderen Kronland oder Erdteil leben können, so wenig hat die Nähe, in Kilometern ausgedrückt, für das Gemüt und die Anschauung gegolten und bedeutet, so wenig empfinden und denken wir in der Luftlinie, wenn anders unser Empfinden und Denken Leben ist und Leben ausstrahlt. Ich war nicht wenige Kilometer Luftlinie, ich war meilenweit entfernt, mehr: ich habe ganz und gar in einer anderen Welt gelebt.

Wie die Spinne im Netz, so lebt das Ich des Menschen in einem Umkreis des Zaubervollen. Ich sage das Ich des Menschen und will es damit vom Menschen selbst, vom handelnden, unterschieden hahejn, dessen Verzauberung dann Schicksal heißt.

Mir will oft scheinen, als ob der Motor, indem er immer entschiedener die Menschen veranlaßt, in der Luftlinie nicht nur zu fahren, sondern auch zu denken, zu empfinden, zu leben, dazu von den Menschen erfunden und vervollkommnet worden sei, um diese Verzauberung zu zerstören und damit zugleich die Erinnerung, deren Kontinuität und

Fruchtbarkeit. Rilke und ich sahen in München während des großen Krieges einmal ein Flugzeug über uns hinwegfliegen. Es wäre schon gut das, meinte Rilke, wenn so ein Flugzeug uns wirklich höher hinauf, wenn es uns in den Himmel höbe. Darauf war nichts zu erwidern, Rilke übersah den Motor und daß keine Luftlinie, auch die längste, auch eine unendlich lange, nicht in den Himmel führte.

Es hat wenig Jahre gegeben im Leben des Knaben und des Jünglings, bis in die Universitätszeit hinein, in welchem ihm nicht jeder Schritt am Wege, jedes Auftreten Schmerzen verursachte. In den heißen Sommertagen mehr noch als im Winter; sie schwanden ganz, sooft der Knabe sich in einem eigens für ihn gezimmerten Holzgestell, einer Art beweglicher Gehschule, stundenlang am Eise des Teiches herumtummeln durfte, weshalb ihn an diese oft bis spät in das Dunkel der Winterabende hinausgezogenen Nachmittage seligste Erinnerung lange noch zu binden vermocht hat.

Niemand hatte etwas davon, von den Schmerzen, erfahren; ich wollte aber auch vor mir selber nicht den Beweis liefern, daß ich etwas auszuhalten imstande sei. Das stoische Ideal ist in keiner Lebenslage das meine gewesen, es ist mir stets phantasielos erschienen, brauchbar für Menschen mit gebundener Marschroute, für Menschen, gesetzt

in einen begrenzten Pflichtenkreis, Philologen und ähnliches. Was ich mit meiner Verschwiegenheit bezweckt habe, war, daß man sich mit mir nicht über das übliche Maß hinaus beschäftigte. Und dann wollte ich auch nicht unterbrochen werden am Wege und daß etwas, was einmal begonnen worden ist, abreiße. Das wollte ich vor allem nicht. Zudem ist in mir als Deutschem der Abstammung nach mehr der Sinn für die Kontinuität geweckt als der für Situation oder Anekdote gegeben. Ich finde zweierlei Menschenarten vor: die eine, wozu die Deutschen gehören, ist stärker im Sehen, im Zusammensehen, als im Erfinden. Vorausgesetzt, daß sie überhaupt zu sehen weiß. Sehen und Erfinden stehen vielfach zueinander wie Kontinuität und Diskontinität. Zur anderen Art mag man die Franzosen rechnen mit ihrer größeren Erfindungsgabe und dem lebhaftesten Sinn für Situation und Anekdote.

Es fiel einmal im Gespräch das Wort, daß in allem, was ich über meine Heimat, über das Heimatdorf, geschrieben habe, die mährische Landschaft als liebenswert zu empfinden sei. Das mag und das soll wohl auch so sein. Was ich aber als Kind und später mit allen meinen fünf Sinnen, mit jedem einzelnen davon besonders, in mich aufgenommen, aufgesogen habe, war nicht Landschaft, sondern Natur, am liebsten möchte ich sagen: Erdreich der Natur. Die von draußen angezogen kamen, die Städter, Ausflügler, Onkel Julius, haben Landschaft erwartet, wollten und mußten Gebirgslandschaften mit solchen der Ebene vergleichen; die alle mochten die ganze Gegend nicht, verstanden sie nicht; auch war damals die südmährische Landschaft von den Malern noch nicht entdeckt worden, das kam erst etwas später, um die Jahrhundertwende. Wir drinnen aber nahmen das Wort Landschaft gar nicht erst in den Mund, hatten auch nicht recht den Begriff dafür. Landschaft — das waren Bilder, im Zimmer aufgehängt, in Ausstellungen, von denen zuweilen geredet wurde, das war kurz etwas, das uns nichts anging.

Was ich heute davon erinnere, sind Bilder, Fetzen von Bildern ohne Rahmen, Bilder ohne Schatten, fließend, einander ablösend, den Menschen überströmend, Geruch von etwas mehr noch als alles andere und darum der Erinnerung einverleibt, ihr dauernd zugehörig. Die Getreidefelder, rotbraun oder gelb wie frisch gesägtes Holz, kurz vor der Ernte nach Brot riechend, der Wind des Abends streicht über die reifenden Aehren, so daß diese im Wiegen ganz leise singen. Am leisesten klingt wohl, was sie singen, im dünnen, hohen Korn.

Rauchige, schwere Herbstmorgen auf den Rübenfeldern mit ihrer schwarzen Erde, die Rüben liegen gehäuft da oder werden noch verladen, es riecht nach der feuchten Erde und süß nach Zucker. Graubraune Mäuse huschen in ihre Löcher; nach den ersten Frösten werden sie tot daliegen, längliche Leiber, so tot, so gefroren, gleich kleinen braunen Holzstückchen, wie sie noch kurz vorher flink aus einem Loch ins andere geflitzt sind.

An einem nebligen Dezembertag gehe ich nach den Schulstunden in den Garten, in der entlaubten Fliederhecke hüpft wie aus Holz geschnitzt, ganz winzig und genau, ein Zaunkönig; bald ist auch er nicht mehr da, von ihm zurückgeblieben aber ein gar kleines Nest, dicht ausgeflochten wie das Halbe einer großen Nuß, leer. Ist der Zaunkönig weggezogen oder hat ihn, weil ich braune Federchen am Wege finde, ein Falke gefressen? Ich liebe beide auf gleiche Weise als Anblick: den Zaunkönig und die kleinen rotbraunen Falken, schnurgerade ausstoßend und mit Augen, die vor Grausamkeit kahl und traurig sind, und darum findet der Kampf zwischen den beiden — war es Kampf zu nennen? —■ noch einmal statt: in der Kinderseele. Ach Bilder, Bilder, Einbildung von Stunden, von Augenblicken, die waren!

Ich gehe kurz vor der Weinlese durch unseren Weingarten mit der lockeren, wie ge-

siebten, unter dem Tritt stäubigen Erde, die hellgrau ist, und berühre mit der Hand die Trauben ganz unten, wo sie auf den Boden stoßen; die Beeren sind ein wenig mit Erde bedeckt, so daß die ganze Traube durch den Gegensatz vom Glatten der Beere zum Rauhen der Erde wie lebendiges Fleisch anzufühlen ist.

So gegen Ende März kommt das große Tauen. Ich kann es kaum erwarten und laufe am Morgen schon vor dem Frühstück in den Garten, um mit meinem Stock die dünne, weichende Eiskruste über den Kieswegen aufzuschlagen und auf solche Weise ein ganzes Netz von Kanälen an den Wegrändern anzulegen, durch welche die sich sammelnden Wasser, da der Garten an einem Abhang liegt, al fließen. Es sollte nur fließen, fließend sich überholen, überstürzen, im Fließen sich sammeln. Was ich da spürte, das habe ich wohl gefühlt, aber erst später erkannt oeer rar z\:

bezeichnen verstanden: die Natur gewiß, aber noch mehr als diese: das Element, Gesicht ohne Gesicht, das Element ohne Widerspruch, worin groß und klein als Maß, worin aller Vergleich aufgehoben erscheint. Es ist mir nicht göttlich erschienen, dafür aber ewig. Das Göttliche hatte ich mir von früh an für den Menschen aufgehoben, nein, nicht so, sondern mit dem Menschen verbunden, vom Menschen und von dessen Maßen nicht trennen wollen. Warum? War es wegen des Widerspruches, der als Schatten und Zweifel auf dem Menschengesicht liegt, als welches sich über die Elemente erhebt, über den Elementen zu halten sucht? Ich habe hingegen niemals einen Widerspruch gefunden zwischen dem Freundlichen und dem Feindlichen de“ Elemente.

Aus Rudoli Kassner, „Die zweite Fahrt“, Verlag Eugen Renisch, Ziirich-Erlenbach.

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