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Vier Icurxe Tage

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Bei meiner Flucht vor den Deutschen im Jahre 1940 die mich über Schweden, Rußland und Japan im Flugzeug nach Amerika führte, kam ich Mitte Juli mit meinem Sohn in Moskau an, um von hier mit der Transsibirischen Bahn nach Wladiwostok weiterzureisen. Unser Zug ging eTSt vier Tage nach unserer Ankunft, und diesem Umstand verdankte ich es, die russische Hauptstadt etwas kennenzulernen.

Man erzählte uns, Moskau habe vor dem letzten Weltkrieg zwei Millionen Einwohner gehabt. Jetzt sind es vier Millionen. Trotzdem war der Wohnungszuwachs in der Zwischenzeit nicht wesentlich gestiegen. In den Fabriken wechselten drei Schichten nach achtstündiger Arbeit ab. Ich gewann den Eindruck, daß mindestens zwei Millionen der Moskauer Bevölkerung Tag und Nacht unterwegs waren. Nie zuvor harte ich einen sich so endlos bewegenden Menschenstrom gesehen. Es ist möglich, daß fast ebenso viele Menschen abends auf dem Broadway oder im Geschäftszentrum New Yorks, wenn der Verkehr am größten ist, unterwegs sind. In Moskau jedoch waren die Menschenmassen zu jeder Tages- und Nachtzeit in Bewegung. Während meines viertägigen Aufenthalts dort hatte ich das seltsame Gefühl, als verlöre sich mein Zeitsinn immer mehr. Nichts deutete darauf hin, weshalb die Leute eigentlich da herumlaufen, denn kein Laden war offen.

Unsere Freunde holten uns zu einer Rundfahrt um den Kreml ab. Vom jenseitigen Ufer des Flusses aus gesehen machte er einen großartigen Eindruck, als jetzt die Abendsonne über den merkwürdigen alten Wachttürmen der Festungsmauer über den- vergoldeten, zwiebeiförmigen Kuppeln der alten Kirchen innerhalb der Mauer lag. Und doch muß ich sagen, daB ich das Ganze eher seltsam und fremdartig fand als wirklich schön. Sehr wahrscheinlich wäre ich auch vom zaristischen Moskau nicht besonders entzückt gewesen. Die Wassilij-Kathe-drale auf dem Roten Platz, die von Grund auf bis zu den Zwiebel)ürmen hinauf mit glasierten Ziegeln in seltsamen, prächtigen Farben gedeckt ist, wirkte orientalisch — doch fehlte jene gewisse Feinheit des Geschmacks der orientalischen Bauten Vorderasiens — wenigstens soweit ich es nach den Bildern beurteilen kann.

„Intourist“ setzte uns vor einem Hotel ab, das, soviel ich mich erinnere, „Savoy“ hieß. Früher mochte es elegant gewesen sein. Es hatte verschiedene Speisesäle, deren Wände von Gold und Silber strotzten. Die Decken waren mit Fresken bemalt — auf Wolken dahinsohwebende Jungfrauen, Rosengirlanden und Amoretten, überall hingen Spiegel, einige davon waren auch noch ganz. Von un-sern Zimmern bis zu jenen Speisesälen war es eine endlose Reise über Korridore und Hintertreppen. Denn an gewissen Stellen war der Weg durch irgendeinen Schutthaufen von den Wänden oder einem Loch im Fußboden plötzlich gesperrt. Es sah ganz aus, als hätte der Wirt dieses Hotels von Zeit zu Zeit das Gefühl gehabt, er müsse eine Reparatur vornehmen lassen. An manchen Stellen waren die Wände aufgerissen, so daß die Röhren freilagen — und damit war der Gedanke an eine Reparatur auch schon vollkommen erledigt, und kein Mensch dachte daran, den heruntergeschlagenen Gips zu entfernen.

Aber immer wieder gewann ich den Eindruck, daß das neue Rußland nicht-auf den Ruinen Und den Ideen unserer

Zeit, sondern auf der Welt unserer Großeltern aufgebaut ist. Da sind diese riesenhaften Kontraste: einerseits die prunkvollen neuen Bauten des Sowjetstaates, die mit Marmor verkleideten Untergrundbahnhöfe, die riesige unvollendete Bibliothek sowie andere großartig projektierte Bauten, die noch nicht vollendet waren und aussahen, als ob sie es auch nie werden würden — und andererseits dann dieser unbeschreibliche Schmutz, der Verfall und die Trostlosigkeit in all den Wohnungen, in denen die Bevölkerung lebt. Zur Zeit meiner Jugend war es überall in Europa so Sitte gewesen: in den schönen Vorderräumen empfing die

Familie ihre Gäste und sammelte, um diesen zu imponieren, dort alles an, was mittels Geld und auf Grund zweifelhaften Geschmacks zu beschaffen war. Derweilen schlief, zeugte und gebar man die Kinder in armseligen Hinterzimmern, die so trostlos und eng waren, daß die Luft in den Schlafzimmern auch nicht besser wurde, wenn man die Fenster aufriß. Damals lautete die Prophezeiung, die Entwicklung des kapitalistischen Bürgertums werde damit enden, daß einige wenige den ganzen Reichtum in ihre Hand bekämen. Die andern würden zu besitzlosen Proletariern herabsinken, die keine Möglichkeit hätten, sich vor Ausbeutung zu schützen. Demzufolge würde nach und nach der ganze Mittelstand zerfallen und mit dem Proletariat' eine Masse bilden. Und weiß Gott, es gab auch bei uns noch viele Menschen meiner Generation, die heute noch daran glaubten, weil ihre Eltern und Lehrer es ihnen so dargestellt hatten. Deshalb war es zwecklos, sie auf das hinzuweisen, was sich jetzt vor unseren eigenen Augen abspielte — nämlich, daß der Mittelstand im Wachsen begriffen war. Mit Blitzesschnelle zog er eine Klasse von Direktoren und Sub-direktoren, Büropersonal, technisch gebildeten Fachleuten, Werkmeistern, speziell ausgebildeten Facharbeitern heran. Das war die Entwicklung. Sie revolutionierte den altmodischen individuellen Kapitalismus. Und dieser neue Mittelstand, der aus Gutem und Schlechtem zusammengesetzt ist, ehrlichen und skrupellosen Menschen, spielte beim Ausbruch der Revolution die führende Rolle — in den kapitalistischen Ländern wenigstens.

In den Krisen, die eine Depression oder einen Krieg begleiten, sind die blutigsten

Schlachten immer ausgetragen worden zwischen der Schicht des Mittelstandes, die durch ihre wirtschaftlichen Interessen noch an eine, wenn auch eingeschränkte Staatsmaschinerie gebunden ist, und jener, die infolge verminderter Produktion ausgeschaltet wurde.

Während der vier Tage, die wir in Moskau waren, wanderten Hans und ich fortwährend in den Straßen umher. Manchmal spürte ich direkt die Hypnose, die von dieser Menschenmasse -ausging. Irgendwie scheint man sich selbst zu verlieren, während man sich im Strom völlig fremder Menschen vorwärtsbewegt, mit denen man nicht sprechen kann und deren Gesichter völlig ausdruckslos sind. Nicht daß die Menschen in Moskau etwa unglücklich aussähen (und doch habe ich nicht einen einzigen Russen lächeln gesehen, außer den Angestellten auf der

Transsibirischen Bahn). .Stumpf“ ist wohl das richtige Wort, um den Ausdruck der russischen Gesichter zu beschreiben. Ich muß gestehen, daß für mein Gefühl ein Russe wie der andere aussieht. In den Städten waren die Männer fast alle bartlos, aber unrasiert, mit einem bläulichen, gelblichen oder roten Schimmer auf den Backen. Der eine hatte kurze Hosen an, andere lange. Manche waren in Shorts, einige Jrugen helle Hemden, die am Hals offen standen, andere Kosakenblusen, deren Kragen und Gürtel manchmal mit Kreuzstickerei verziert waren. Einige waren nackt bis zur Taille und hatten sonnengebräunte Körper. Aber alle wirkten plump und grobknochig; sie hatten eine niedere Stirn, hohe Backenknochen und große dreieckige Nasen, die aus den Gesichtern hervorsprangen.

Auch die Frauen hatten fast alle diese großen, geraden, vorspringenden Nasen und kurze, breite, knochige ' Gesichter. Manche waren blond, manche braun, andere wieder rot, und doch kamen sie mir alle gleich vor. Sie trugen dünne Baumwollkleider, die auf den ersten Blick eigentlich gar nicht so häßlich waren. Aber das Material dieser Kleider war so jämmerlich dünn und fadenscheinig, daB zum Beispiel meine Mädchen tödlich beleidigt gewesen wären, wenn ich es gewagt hätte, ihnen solch einen Stoff anzubieten. Sie hätten mich darauf aufmerksam gemacht, daß solch schäbige Material nicht den Macherlohn wert sei, und die Zeit zu schade, um das Kleid selbst zu nähen. Dabei hatten die armen russischen Frauen viel Arbeit darauf verwendet, diese elenden Stoffe zu verarbeiten. Und das Rührende daran war, daß sie sich nach irgendeiner alten westeuropäischen Modezeitschrift gerichtet haben mußten. Sie hatten auch aus diesen dünnen, bedruckten Baumwollstoffen eine Art von Abendkleid genäht, ganz ohne Rücken (um eineinhalb Meter Stoff zu sparen) und mit kleinen Puffärmelchen aus Stoffstreifen, die von den nackten Schultern bis über die Ellbogen herabfielen. Die Röcke waren natürlich kurz. Strümpfe habe ich nur an ein paar Bettlerinnen gesehen. Weiß der Himmel, weshalb sie sie nicht gegen Nahrungsmittel eingetauscht halten. Alle anderen gingen barfuß oder trugen kurze Baumwollsocken in Stoffschuhen. Galoschen oder Bettpantoffeln. In ganz Rußland habe ich nicht eine einzige Frau gesehen, die Lederschuhe trug.

Die Kinder sahen gut aus, waren braun gebrannt und nicht übermäßig mager. Es gab Massen von Kindern, und Moskau wimmelte von jungen Frauen, die dem Staat bald noch weitere schenken würden. Und die Russen schienen glücklich zu sein, Kinder zu haben. Diese zahllosen Babies waren gut gepflegt und sauberer gehalten 'als alles übrige in diesem Lande. Sehr oft trug der Vater das Kind, während die Mutter mit einem Bündel oder einem in Zeitungspapier gewickelten Paket hinterherschlurfte. In ganz Moskau sah ich nur fünf oder sechs Kinderwagen.

Es war Mitte Juli und entsetzlich heiß in der Stadt. Fast jeden Abend überzog sich der Himmel, und während es irgendwo in der Ferne donnerte, fiel ein warmer Regen auf die Millionenstadt nieder. Infolgedessen wurde es nur noch-schwüler. Wie in einem türkischen Bad dampfte die Hitze aus dem Straßenpflaster, aus Häusermauern und engen, stinkenden Kammern. Die Luft war von zahllosen schlechten Gerüchen erfüllt.

Auf etwas war ich jedoch nicht gefaßt gewesen — auf diesen Geruch von Moskau. Der fade Geruch von Baumwollsachen, die unzählige Male, aber ohne Seife gewaschen waren, der Geruch ungereinigter Haare, der Dunst aus Schlafzimmern, die mit schmutzigem Bettzeug vollgepfropft waren, der aus jedem offenen Fenster in die warme Sommernacht hinausströmte. Und der Geruch von fauligen, verrottenden Dingen, der über der ganzen Stadt liegt, von Holzwerk, das von Schwamm zersetzt ist, von Mauern, von denen der Mörtel abbröckelt, der Geruch der schwarzschleimigen Masse in den Rissen zwischen Pflastersteinen und in den Löchern im Asphalt.

Dagegen fiel mir in Moskau etwas auf, das mich wieder einigermaßen versöhnte — die ausgesprochene Liebe der Russen für Blumen.

Fast in sämtlichen Fenstern Moskaus stehen Topfpflanzen — manchmal so hohe, daß man den Eindruck hat, sie sollten die Zimmer vor neugierigen Blicken schützen. Da sieht man Philodendren und Gummibäume — auch sie erinnerten mich an die achtziger Jahre, da diese Pflanzen in Norwegen Mode waren — und noch viele andere Pflanzen, und alle schienen zu gedeihen.

Blumen waren auch ungefähr das einzige, was in den Straßen Moskaus verkauft wurde. Bartnelken und Sommerchrysanthemen, wetterharte Blumen, die von den Bauern auf einem kleinen Stückchen Land gezogen werden und -wenige Pflege beanspruchen. Meist waren es Frauen aus den umliegenden Dörfern, die sie verkauften. Die Sträuße waren nicht sehr frisch, und manche sahen aus, als seien sie schon lange herumgeschleppt worden. Aber es fand sich immer jemand, der sie kaufte.

Ich gehöre nicht zu denen, die meinen, alle Leute, die Blumen lieben, seien gute Menschen. Auch von den Menschen, die Tiere lieben, kann man das nicht behaupten. Viele lieben Blumen und Tiere, weil sie eben alles lieben, was lebt und wächst, andere dagegen, weil sie sich mit ihren Mitmenschen nicht vertragen und nur an sich selbst denken — da bedeutet ein Hund oder ein Garten eine wertvolle Ergänzung ihres Ichs.

Es ist sehr gut möglich, daß Hitler, wie Rauschning behauptet, seine Kanarienvögel liebt und weint, wenn einer von ihnen stirbt. Auch ich liebe die Blumen sehr, und jedesmal, wenn ich diese Freude der Russen an ihren Blumen sah, hatte ich das angenehme Gefühl, daß sich vielleicht doch gemeinsame Interessen finden ließen, wenn ich nur ihre Sprache verstanden hätte.

Hans war mjt großen Erwartungen nach Rußland gekommen. Wie fast alle jungen Norweger hatte das kommunistische Experiment ihn viel beschäftigt, uffd soweit es ihm als Katholiken möglich war, trat er auch mit Begeisterung dafür ein. Seine Entrüstung wirkte geradezu komisch, als er sich jetzt davon überzeugte, wie die Wirklichkeit aussah. Ich persönlich hatte schon früher Gelegenheit gehabt, schmutzige und verfallene Elendsviertel zu sehen, zum Beispiel in Paris oder South Shields — aber hier in Moskau war jeder Stadtteil ein Elendsviertel. Später haben Hans und ich auch die Armenviertel New Yorks und Brooklyns gesehen, aber bis dahin war er noch nie außerhalb Skandinaviens gewesen. So hatte er sich nicht träumen lassen, daß es soviel Schmutz und Elend auf der Welt geben könne. Sein Entsetzen war unbeschreiblich, als man ihn darauf aufmerksam machte, daß er nirgends in Rußland ungekochtes Wasser trinken dürfe — eine Millionenstadt, die nicht einmal mit Trinkwasser versorgt war. Auch für mich war dies in Moskau eine der schlimmsten Enttäuschungen.

Und dann schlug die Stunde des Abschieds. Nur vier Tage waren wir in Moskau gewesen; aber es kam uns wie eine Ewigkeit vor. Am Bahnhof saßen wir auf unseren Koffern und warteten — drei Stunden. Hin und wieder kam ein menschliches Wrack zu uns heran-geschlurpt und bettelte, Junge Frauen arbeiteten als Gepäckträger. Wir waren bereits daran gewöhnt, russische Frauen alle Arten' schwerer Arbeiten verrichten zu sehen, die bei uns in Norwegen absolut als Männerarbeit gelten.

Züge dampften im Bahnhof ein und aus. Endlich fuhr auch unser Zug ein, und so begann die neuntägige Reise von Moskau nach Wladiwostok mit einer fünfstündigen Verspätung.

Aus dem Buch „Wieder in die Zukunft“, mit Bewilligung des Europa-Verlages, Zürich.

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