Alte und neue Heimat
Ich kann den Augenblick, da mein Lebensbewußtsein erwachte, und den Ort, da mein Erinnerungsvermögen gleichsam die Lider zum ersten Male hob, auf Tag und Stunde und auf den Quadratmeter genau bestimmen. Es geschah beim Umzug meiner Eltern in Ostrowo, einer kleinen Garnisonsstadt an der deutschrussischen Grenze, von der Alt-Kalischerstraße ans entgegengesetzte Ende der Stadt in die Zdunyerstraße 37, wo die dort schon mindestens zweihundert Meter breite Eisenbahneinfahrt in den Bahnhof Ostrowo die alte Landstraße zerschnitten und zu einem Umweg über eine hohe, lange Uberführung genötigt hatte. Der große Möbelwagen, der sehr langsam fahren mußte, weil das Kopfsteinpflaster der alten Kalischer Landstraße es so befahl, blieb bald hinter uns zurück. Die Mutter und ich gingen quer durch die Stadt, über den Ring, dem allmählich sich wieder lichtenden Ausgang zu, und hinter einem Kornfeld von mindestens zwei Morgen Größe stand unser neues Zuhaus.
Ich kann den Augenblick, da mein Lebensbewußtsein erwachte, und den Ort, da mein Erinnerungsvermögen gleichsam die Lider zum ersten Male hob, auf Tag und Stunde und auf den Quadratmeter genau bestimmen. Es geschah beim Umzug meiner Eltern in Ostrowo, einer kleinen Garnisonsstadt an der deutschrussischen Grenze, von der Alt-Kalischerstraße ans entgegengesetzte Ende der Stadt in die Zdunyerstraße 37, wo die dort schon mindestens zweihundert Meter breite Eisenbahneinfahrt in den Bahnhof Ostrowo die alte Landstraße zerschnitten und zu einem Umweg über eine hohe, lange Uberführung genötigt hatte. Der große Möbelwagen, der sehr langsam fahren mußte, weil das Kopfsteinpflaster der alten Kalischer Landstraße es so befahl, blieb bald hinter uns zurück. Die Mutter und ich gingen quer durch die Stadt, über den Ring, dem allmählich sich wieder lichtenden Ausgang zu, und hinter einem Kornfeld von mindestens zwei Morgen Größe stand unser neues Zuhaus.
So ist ein Umzug meine erste Lebenserinnerung. Später sollte ich seibat deren vierzehn über Land und Meer bewerkstelligen. Und die Flucht, die diesem ersten Umzug meines Lebens wenige Jahre später, 1914, folgte, blieb auch nicht die einzige meines Lebens.
Nie und nimmer hätte ich mir vorstellen können, daß die alte Häuslichkeit von der Kalischerstraße sich an der Zdunyerstraße weiträumiger und komfortabler wieder um mich schließen würde, wenn erst die Packer aus dem Hause waren. Und was ich im Unbewußt-sein der allerfrühesten Kindheit nie gehabt, aber auch nie entbehrt hatte, trat nun in meinen Umkreis: meine Welt, meine neue Welt, nicht nur die an Mutters Schürzenzipfel.
Der Besitzer des stattlichen Hauses mit einem Vorbau, etwas anspruchsvoll auch Portikus zu nennen, der im ersten Stock unseren Balkon trug, war ein alter polnischer Viehhändler, Kasimir Sobczak, mit vier Söhnen: Leon, dem Gymnasiasten, der die Schulbank mit meinem ältesten Bruder teilte, Antonin, kurz Antek genannt, flott und hübsch wie ein Operetten-baron, Adam und Josef, der mir dem Alter nach am nächsten stand und noch Juschu genannt wurde. Dazu gab es noch zwei für meine kindlichen Augen wunderschöne, erwachsene Schwestern: dunkelhaarig, mit einem Flaum auf der Oberlippe und unergründlich tiefen samtenen Augen.
Dicht hinter dem Haus lag vor unserem riesigen Garten, in dem sommers immer ein paar „Burschen“ des Vaters in prall über das Hinterteil gespannten Drillichhosen arbeiteten, ein Hof mit Remisen und Stallungen und Gott weiß, was noch, natürlich auch Scheunen für das Futter, denn der alte Viehhändler pflegte seinen Handel mit weiten Fahrten im Wagen über Land zu treiben. Kein Tier, das er erhandelt hatte, sah je unser Haus. Traumhaft große Herden zogen, von seinem Geld und Verstand gelenkt, ihre Wege zu den Märkten, zum Schlachthaus oder zur Eisenbahn. Die deutsch-russische Grenze spielte, namentlich für den Pferdehandel, keine große Rolle. Der alte Sobczak hatte einen Knebelbart in einem gelben, leberkränklichen Gesicht und trug immer das gleiche dunkelbraune Habit, das mir uniformgewöhntem Kind allmählich wie die Viehhändleruniform vorkam.
Mehrmals auf seine alten Tage mußte er die Wagen gewechselt haben, oder er handelte auch mit denen, denn im Hof und in den Remisen standen säuberlich gereiht die verschiedensten Wagen:' Jagdwagen, Landauer, Kupees und Kremser und unsere liebsten: die bejahrten Diligencen, in deren uralten, verstaubten Sammetpol-stern wir unsere Zusammenkünfte hielten, die nur von Phantastischem handelten, — bis eine der schönen Schwestern die Kameraden mit der Stimme einer gurrenden Waldtaube: „Juschu, do obiat!“ oder: „Adasch, do kawe!“ befahl und sie auf unseren Reisen für eine Weile an den Eßtisch umsteigen mußten. Der Himmel dunkelte ja auch schon, es ging gegen Abend, und wenn die schlaflose Hitzigkeit des erregten Gemüts einen bis tief ins Dunkel wachhielt, hörten die Ohren als Letztes durch die sich im warmen Nachtwind leicht ins Zimmer hinein bauschenden Mullgardinen die über Gärten und Felder der Nachbarschaft hallenden Trompetensignale zwischen den Kasernen, denen ein Text unterlag, den man noch nicht verstand, aber der sich auf Soldaten und Mädchen bezog. Zapfenstreich ...
Das waren und blieben meine polnischen Freunde, durch sie lernte ich ihre Sprache, durch sie lernte ich ihr Nationalgefühl kennen, und als im Jahre 1918 Leon, kaum aus dem Gymnasium entlassen, noch vor dem Eintritt ins Priesterseminar bei den Kämpfen mit den Bolschewisten vor Warschau den Heldentod starb, trauerte ich mit ihnen wie um einen eigenen Bruder, denn ich habe mir, soweit ich zurückdenken kann, fremdes Leid zu eigen gemacht und nahm es dem jungen polnischen Staat auch nicht bewußt übel, daß er meinen Vater verhaften und in einem Internierungslager gefangensetzen ließ, als nicht mehr der „Warschauer Expreß“ die Sensation des
Tages auf der unweit des Hauses vorbeiführenden Bahnlinie war, sondern jeder Truppentransport mit den siegesgewissen Einheiten der interventionistischen Haller-Armee aus Amerika und Frankreich. Juschu hatte mir in der alten Diligence hinlänglich viele patriotische Lieder beigebracht, die Hinden-burg schmähten oder Kosciuszko beschworen, wenn auch bei unseren „Fahrten“ zwischen den Sammetpol-stern das Animalische, in der Viehhändlerwelt selbstverständlich, in den Gesprächen niemals zu kurz gekommen war.
War das Heimat? Ja und nein. Ja, weil es die Welt war, in welcher der Sohn eines Mannes aus dem alten „Kalenberger Lande“ in der Provinz Hannover und einer Mutter aus Friesland zum ersten Male die Augen für diese Welt aufgeschlagen hatte und n.it ihren Menschen gemein geworden war. Nein, weil der Vater immer noch so eindringlich von den waldigen Höhen seines heimatlichen Limbergs erzählte, die er als Knabe nach einem Kahlschlag des großväterlichen Besitztums selber mit hatte wiederanpflanzen helfen, und weil die Mutter mich zu einem friesischen Patrioten erzog, der „Uppstallsboom“ so wenig wie seinen friesischen Vornamen vergessen sollte.
Also, genau besehen: eine Heimat habe ich dort, zwischen so heterogenen Einflüssen, nicht gehabt. Und doch: als ich nach Jahrzehnten in die Welt der Kindheit zurückkehrte ... diese Welt hatte Ihre Vertrautheit behalten, über alle Wechsel und Wandel hinweg. Zu des Vaters Schößlingen im Limberg, aus denen mittlerweile hohe Buchen geworden waren, die ein Firmament wie eine von grauen Säulen getragene grüne Kirchendecke bildeten, fand ich kein rechtes Verhältnis. Aber in Friesland... da ging mir unter dem niedrigen Himmel das Herz über, und ich suchte fortwährend meine Mutter als kleines Mädchen mit zwei strammen Zöpfen vor dem Konfirmationsaltar der sonnenseligen kleinen Kirche von Wigboldsbuur...
Die Festung Glogau, in die mein Vater versetzt worden war, als er sich noch im polnischen Internierungslager befand und die er erst 1919 als Flüchtling erreichte, war eine Bleibe, aber keine Heimstatt oder Heimat. Das einzig Erregende waren die vielen Menschen dort und, vor allem, die alten, aus fride-rizianischer Zeit stammenden Bastionen, Kasematten, Zeughäuser, Munitionsdepots und sonstigen Fortiflkationen, zu denen ich ungehindert Zugang hatte, weil unsere Dienstwohnung innerhalb jener riesigen eisernen Umzäunung (mit einem Tor wie für Erzengel) lag, welche die städtisch-zivile, friedliche Welt von dem Kranz der Befestigungswerke abschloß. Nein, w>is«.o das alles war spannend: die ertasteten Wege durch halbdunkle Gänge in den Forts und Kasematten bis zum Rund der flankierenden Außenbatterien in den Wallgräben, das atemlose Innehalten vor dem entscheidenden Schritt in jenen Gang, der, wie die Rede ging, hinter einer mächtig-schweren, gepanzerten Tür unter dem Oder-Fluß hindurch kilometerweit in die weit vor der Stadt gelegenen Außenwerke des Festungssystems führen sollte, die heimlichen Komplotte mit acht-und disziplinlos gewordenen Pionieren, die einen in irgendeine festungstechnische Delikatesse einweihen konnten, — aber Heimat war das alles nicht, und das alles flog ja auch kurze Zeit später, als mein Vater schon gekommen war und seinen Zusammenstoß mit dem „Arbeiter- und Soldatenrat“ gehabt hatte, der ihm — wörtlich — den kranken Rest seines Lebens gab, nach den Bestimmungen des Versailler Abrüstungsvertrags in die Luft. In Vater Sobczaks Diligence, zusammen mit Juschu und Adasch, war die Welt viel heimeliger, viel größer, und der eigene Platz darin ganz vertraut gewesen.
Hannover, Herford, Stuttgart, die Städte, in denen ich später gelebt habe, waren Städte, deren es viele gibt und in denen Hunderttausende ohne mich wohnen mögen. Erst der Norden, das abseitigste Stück Dänemark (die Färöer, Island und Grönland ausgenommen), gaben wieder einen Klang auf der Saite meines Lebens, und in Estland fand ich alles wieder: Norden und Osten, eine meiner „Heimat' im herkömmlichen Sinne täuschend ähnliche Welt, in der mir dann im Laufe eines Jahrzehnts alles nur täuschend Ähnliche mit dem stillen, unmerklichen Prozeß eigenen Lebens, wie es einem gegen die Mitte der Lebensjahre hin zuwächst, zur Wahrheit und Gleichheit und zur vollen Identität zwischen Mensch und Welt werden sollte. Wie ein junges Wildwasser seinen Weg sucht und findet, weil es Widerstände überwindet, die schwächer sind als die Kraft des eigenen Gefälles, so wurde das alles mein: der Norden und der Osten in der Vielfalt der verschiedenen Völkerschaften, der Glaubensarten, der Geschichte, die so groß, noch viel größer war als in Juschus Diligence und die auch die Uniformwelt meines Vaters noch beherbergen konnte. Und die Heimat der Mutter, Friesland, — nach Friesland — unzählige Wege aus der baltischen Welt führten zur See und zu Lande nach Friesland.
Das war einmal „neue Heimat“. Ich habe sie, wie später Finnland, dessen Sache ich aus freiem Entschluß zur eigenen gemacht hatte, verloren wie unzählige andere. Es leben ja Millionen heute dort, wohin sie „eigentlich“ gar nicht gehören. Und das muß man nicht nur hinnehmen, sondern man muß es annehmen, es ist Geschick — „Verhängnis“, wie ein zum Wahlestländer gewordener deutscher Dichter der Barockzeit gesagt hat. Der größte der Kontinente ist die Arbeit, die einem innerlich aufgetragen ist, sie ist das Vaterland, und die ersehnteste Heimat bleibt immer ein anderes Herz, in dem wir Heimat finden. Die Pässe, deren ich nicht weniger als sechs verschiedene besessen habe, bedeuten gar nichts mehr. Insofern ist jede neue, jede „Wahlheimat“, Täuschung oder Trug. So wie wir in älteren Jahren nur noch sehr zaghaft und zögernd neue Freundschaften eingehen, sie seien noch so herzlich gemeint, so wächst uns eine neue Umwelt sehr schwer und mit viel instinktivem innerem Widerstreben als neue Heimat, als „Wählheimat“, zu. Meistens sind es die Mitmenschen, die behaupten oder gar feiern, man habe sie bei ihnen gefunden. Das eigene Herz bleibt still. Es widerspricht aus Dankbarkeit nicht, aber es ist und bleibt im Innersten überfordert.
Doch es gibt ja auch eine tröstliche Mär, die Töten wanderten Nacht für Nacht aus der unverschuldeten Fremde, in der sie haben sterben müssen, über Länder und Ströme ungesehen und ungehört, wie der „Gratzug“ der „armen Seelen“ von den Gletschern, zwischen denen ich jetzt in der Schweiz lebe, zu dem winzigen Flecken Erde, dem sie einmal zugeboren worden sind, und fänden dort erst die ewige Ruhe, aus der ihr zweites Bewußtsein zur ewigen Anschauung Gottes erwacht.
Ich — ich werde lange unterwegs sein, immer gen Osten. %nd ich bin in diesem Leben auch lange genug zur See gefahren, um zu wissen, was auf dem untrüglichen Kompaß, der uns eingeboren ist, anliegen muß: Nordost, ein, zwei Striche Ost. Ich werde unterwegs niemanden aus der alten Zeit und Welt wiederfinden, denn zwei Kriege und noch schlimmere Heimsuchungen sind mittlerweile über alle Lande des Herzens hinweggegangen. Wer sie auch gewesen sein mögen, und es waren viele, viele — niemand mehr wird da sein. Ich werde allein sein und, wie in der Nacht, frieren, weil mir kein Auge mehr die Welt erhellt und kein Herz sie mehr für mich erwärmt. Es wird nichts anderes übrig bleiben: Ich werde nach dem Hall der nächtlichen Zapfenstreichtrompeten durch die warmen Sommernächte der Kindheit auf den Schall der letzten Posaune warten, auf die erste Reveille in der neuen Welt.