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Ein Holländer sieht Österreich

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Als ich in Bregenz den österreichischen Boden geküßt hatte und langsam meinen Kopf wieder hob, um die Bergluft einzuatmen, sah ich ein häßliches Plakat einer politisdien Partei. Das war die Begrüßung. Und als ich vom Wiener Westbahnhof in die Heimat zurückfuhr, sagte meine reizende Begleiterin: „Sie werden bald wiederkommen, denn Sie werden Österreich nicht vergessen können.“ Das war der Abschied.

Reisen durch Österreich sind für einen Ausländer ziemlich ermüdend. Er wird schon bald nach seiner Ankunft von allerhand intellektuellen Leuten überfallen, die nach einigen einleitenden Fragen über die Zustände in Westeuropa plötzlich sich außerordentlich anstrengen, unaufgefordert ihr Land gegenüber den im Auslande verbreiteten Vorwürfen zu rehabilitieren. Nach dem ersten Weltkrieg hat Holland viele tausende Kinder aus Österreich liebevoll aufgenommen und es ist im zweiten Weltkrieg keine Seltenheit gewesen, daß frühere Pflegeeltern ihrem inzwischen erwadisenen Pflegesohn als Soldaten unter den Eroberern begegnen mußten. Glücklicherweise kannte Holland auch ein anderes Österreich und wie unglaublidi es auch klingt, dieses Österreich haben wir rasch wiedergefunden, wenn es auch tief versteckt war unter dem Elend und Chaos, das die meisten Länder Europas nach diesem bestialischen Kriege noch zeigen. Ein Holländer sieht das Leben in diesem Lande mit dem ihm eigenen nüchternem Phlegma an, er läßt sich selten begeistern und erlebt die Dinge zuweilen mit einer giftigen Spottlust, die ihn vielleicht besser instand setzt, die Tatsachen nackt zu sehen, als jene, die in dem Rausch eines Austria-sacra-Komplexes das Land anbeten, oder als die anderen, die von vornherein schon verdammen, was sie noch kaum beurteilen können. Noch ganz unter dem Eindruck der kolossalen Gegensätze, die mir in Österreich auffielen, und in der Angst, daß ich eines der vielen Extreme zu sehen bekommen würde, antwortete ich auf die erste Frage: „Wie finden Sie Wien?“ „daß ich in meinem Leben noch nie so viele Männer in kurzen Hosen gesehen hatte, wie in Österreich.“

Die erste Bekanntschaft mit Österreich und Wien datiert für mich noch aus dem Geschichtsunterricht „Tu felix Austria nube“ in der Schule. In späteren Jahren wurde dieses karikaturale Bild ergänzt aus den Werken Josef Roths und Handel-Mazzettis und dies alles komplettiert durch die Titel zahlloser Straußwalzer und Operetten, wodurch der Begriff „Wenen“ für den Holländer eine Art germanisches Paris bedeutet. Aber wenn man Paris gut kennt und nachher Wien kennenlernt, ist es im Anfang eine leichte Enttäuschung. Doch es dauert nicht sehr lange, und man hat auf einmal diese Stadt irgendwie lieb und dann schämt man sich plötzlich vor sich selber, daß man von ihr enttäuscht gewesen sei, denn die Spieler des Wiener Lebens sind wirklich noch dieselben.

Einmal hielt der Nachtzug stundenlang, und die Mitreisenden in meinem Abteil, die heldenhaft auf und zwischen ihren Rucksäcken und Koffern standen, begannen zu politisieren, öfter wurde die Stimmung sehr lebhaft, vor allem als ein enormer Phantast eine Auseinandersetzung über österreichische Blutmischung gab. Aber gerade in dem Augenblick, als die Diskussion hätte unangenehm kritisch werden können, fiel irgendein Witz und alle Parteien versöhnten sich in gemeinsamer Heiterkeit. Wer diese köstliche Haltung aus der Hauptstadt seines eigenen Landes kennt, fühlt sich in der Mitte dieser österreichischen Menschen, die ein raffiniertes Gefühl für Humor besitzen, wie zu Hause. Einer meiner Freunde, der Wien und österreidi schon lange kennt, sagte mir: „Österreich ist demokratischer als die Demokratien.“ Ich* fragte um die Begründung. Da machte er seinem Herzen gründlich Luft: „In Holland gibt es Dörfer, wo die Stände und Kasten schärfer getrennt sind als bei den Hindus. Aber hier in Österreich weiß man, daß alle Menschen gleich nackt auf die Welt kommen. Ob man der Sohn eines Friseurs oder Professors ist, jeder kann hier Karriere machen. Darum ist Österreich demokratischer!“ Ob er Recht hat? Tatsache bleibt, daß Ausländer oft schätzen können, was ihre Gastherren noch nicht gesehen haben. Es ist ein sportliches Manöver, in einem fremden Lande den richtigen Abstand zwischen allen Erscheinungen zu gewinnen. Gerade bevor jene Bemerkung über das demokratische Österreich ausgesprochen wurde, hatte ich midi über das Übermaß an Höflichkeit in den österreichischen Umgangsformen gewundert. Warum öffnete man vor mir bei einem Besuch die Türen und machte dazu eine Verneigung? Das war mir nicht sehr deutlich. Aber es stimmte zo dem Wort von der Demokratie. Denn mein Schuhe waren kaputt wie die des heiligen Franziskus, mein Kragen war schmutzig von der Reise. War da wiederum das Rehabili-tations-Nachtgespenst der Österreicher oder ist es die Plumpheit und der Mangel an öffentlichem Stil meiner eigenen lieben Landsleute? *

An den Kiosken staunt man über die große farbige Auswahl österreichischer Zeitschriften und Zeitungen. Wenn man einige Minuten dieses Panorama vieler Titel und Schlagworte gesehen hat, weiß man schon beiläufig, was darin steht: „Österreichs Mission“, „Österreichs Zukunft“, „Österreichs Schicksal“, „Österreich und dieses Land“ und „Österreich und jenes Land“. Ein Außenstehender, der eine mühsame Expedition quer durch eine Anzahl dieser Schriften aller Richtungen zu unternehmen wagt, ist schließlich unbewußt froh, daß er kein Mitbürger ist eines Landes, das so viele „Probleme“ hat. Manchmal bekommt man den Eindruck einer Sammlung Erwachsener, von denen jeder mit so großem Spektakel seine Meinung verkündigt, weil er sich freut, daß er jetzt endlich sagen kann, was er will. Im übrigen sind ein großer Teil der Probleme Österreichs genau dieselben, mit denen jetzt jedes europäische Land' zu kämpfen hat — Ernährung, Hungersnot, Säuberung, Wiederaufbau. •

O Wien, sage mir, wo muß ich Walzer tanzen sehen, wenn nicht bei dir! Die „Cow-cow-boogie“ und „In the mood“ werden perfekt gespielt, aber zu einem Walzer konnte ich die Musiker erst verführen, als ich ihnen Chesterfields anbot und sie in rollendem Englisch um die „Blue Danube“ bat. Dann habe ich die Wienerinnen bewundert. Sie sind die Parisiennes an der Donau. Geschmeidig ist der Rhythmus ihres Ganges und hell wie die Farben ihrer Sommerkleider ihr Temperament. Ein paar Tage später unterhielt ich mich mit einem Professor über das akademische Leben in Österreich. Er war begeistert, aber ein Satz heftete sich hartnäckig in meinem Gedächtnisse fest: „Was studierten wir eigentlich?“

Ich habe eine Tagung katholischer Studenten in Salzburg mitgemacht. Der Geist der da herrschte, war ein wohltuender, warmer Katholizismus, aber so vertieft und verstrickt in ungelöste Fragen der Jugend und ihrer Zeit, daß man erst wieder zu normalem Atem kam, als die ausländischen Gästö in ihrem abgehackten Deutsch ihre gutgemeinten Begrüßungen hielten. Einer fragte, ob man in Österreich nicht das „Gaudeamus igitur“ kenne. Nachdem dies ein lauter Heiterkeitsausbruch bejaht hatte, schleppte man die Gäste auf die Salzburger Festung. Sie erwarteten, daß ihnen dort ein tolles Schauspiel überschüssiger Jugendenergie zum Besten gegeben werden solle. Aber statt dessen sangen diese Bergsteiger ein Lied so leise und so schön und so stilvoll, daß die Gäste kaum noch wagten, etwas zu sagen. Später in Wien habe ich noch an diesen wunderbaren Abend oft zurückdenken müssen. Auch hier wurde ich gebeten, einen Abend bei Studenten zu verbringen. Ich fragte, was man da tun wolle? „Singen“, war die Antwort. Und tatsächlich, da wurde nicht geschrien und Radau gemacht, sondern man sang da einige Stunden schöne mehrstimmige Lieder. Die Engländerin, in deren Gesellschaft ich gekommen war, sagte: „For this sort of things you ought to come to Vienna“ „Uim so etwas zu sehen, muß man nach Wien kommen“. — In der Tat, man muß für die Studenten in Österreich Bewunderung haben. Ihre Aufgabe ist doppelt größer und schwieriger als die der Studenten anderer Länder. Es schien mir aber, daß sie nicht gewöhnt sind an jene Freiheit der Debatten und jene jugendliche Zügellosigkeit der Phantasie, mit der ihre Kollegen aus dem Westen solche Zusammenkünfte und Diskussionen zu einem wahren Fest der; Unbesonnenheit machen können.

Seit 1936 war in Holland für Katholiken der Beitritt zur Nationalsozialistischen Partei durch die Bischöfe streng verboten. Nicht nur die Katholiken, sondern die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Hollands sah in den fünf Bischöfen die heldenmütigen Pioniere des Widerstandes. Das kirchliche Verbot, das sich gegen die marxistischen Parteien richtete, bestand schon länger und ist bis jetzt noch in voller Kraft geblieben. Das ist nur ein Beispiel, wie sehr verschieden die Verhältnisse in den zwei Ländern sind. Dennoch braucht man nicht lange, um das Gemeinsame zu finden, ich meine die Neubelebung der religiösen Aktivität, vor allem bei der Jugend. Bei zahlreichen Begegnungen, die ich in Österreich mit führenden Katholiken hatte, wurde ich eingehend über die Kirche in Holland befragt, als ob sie Angst hätten, den eingebildeten Vorsprung anderer Länder noch einholen zu können. Die ergreifende Sakramentshuldigung in den Straßen Wiens hat mich tief gerührt, der ich aus einem Lande kam, wo die Prozessionen noch gesetzlich verboten sind. Überhaupt muß der Katholik aus dem Norden sich an viele katholische Erscheinungen, die mit warmem Temperament in Österreich gezeigt werden, gewöhnen. Ich werde nie vergessen, wie laut und überzeugt das „Großer Gott, wir loben dich“ in den Wiener Straßen gesungen wurde. Wenn man selbst erst über eine hohe Schwelle treten muß, ehe man etwas von seinen Gefühlen anderen zeigt, hat man unwillkürlich die Neigung, vieles in den österreichischen Kirchen eine Art Bigotterie zu nennen, aber später wird man mit einer gewissen Scham erfüllt, daß man selbst bisher es nicht wagte, ebenso öffentlich die menschlichen Liebesäußerungen mit der Übernatur zu verbinden. Ich empfand auch als Holländer, daß ich in Österreich so wenig moderne religiöse Kunst sah. Da Auge wird bald müde von der Pracht der Barocke und von den Kasein der Meßgewänder, die wie Geigenkasten aussehen.

Einmal wieder unter dem weiten Himmel, der sich über die grasigen Weiden des holländischen Tieflandes wölbt, fühle ich ein grenzenloses Verlangen zu der brennenden Mitte Europas. Es ist eine süße Sünde, die mir verziehen werden mag. Wenn ich an Österreich denke, sehe ich wieder die Dörfer und Städte, die da liegen als wunderliche Perlen, gestreut von Gottes milder Hand in die Riesenfurchen der Berglandschaft. Innsbruck — die Wände dieses Kessels stürzen sich auf den unschuldigen Flachländer, der harmlos aus dorn Bahnhof tritt. O Übung für die Demut, wenn man gut deutsch gelernt hat und Goethe fehlerlos übersetzen kann, aber schüchtern erröten muß, weil man die Tiroler Mädchen nicht verstehen kann, wenn sie lächelnd ihre Anmut auf den groben Pflastersteinen balancieren, wie eine Spitzentänzerin auf einem glatten Spiegel. — Salzburg — wo die große Fontäne stolz das von der Sonne durchglühte Wasser rauschen läßt, als ob irgend ein Moses auf deinen felsigen Boden geschlagen hätte! Ein anderes begnadetes Kind der Zauberwelt ließ hier den Brunnen seiner Musik entspringen, von einer solchen Schönheit, daß einem die Tränen in die Augen kommen. — Und dann Wien. Wenen! „Bitte, können Sie mir sagen, wo die Donau ist?“ Ich habe nicht den Mut gehabt, so zu fragen. Auf einmal sah ich die scharmante Liebe des Johann Strauß durch die Stadt strömen. Auf dem Kahlenberg waren mir alle weltberühmten verkitschten Begriffe von Wien so fern. Wer in der Dämmerstunde die Lichter in dem Dädiermeer sich entzünden sieht, denkt an den Kummer und die Freude, die hier nach jedem Arbeitstag unter den Dächern dieser schwer heimgesuchten Stadt empfunden werden. Glück und Unglück mit den Einwohnern teilen zu können, ist die Gnade, die dem Besucher jetzt geschenkt wird, und er wird jetzt etwas mehr von der Hauptstadt Österreichs verstehen wie der allmächtige Tourist von damals, als Wien ein anderes Wien war.

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