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Mit Musik geht alles besser

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A Is sich die Parteimaschine im Jahre 1933 spontan erhob, um die Macht zu ergreifen, da erschollen auch schon eine Unzahl nationaler Lieder und Gesänge; und wenn man daran denkt, daß die deutschen Lebensmittelkarten von einer vorsorgenden Staatsführung schon im Jahre 1937 fix und fertig ausgedruckt waren, dann kann man sich ausrechnen, daß der flinke Doktor die Lieder der nationalen Erhebung schon im Jahre 1928 bestellt haben mag. Mit Musik geht alles besser, nicht nur die Schiffschaukel, der Rheindampfer und die Liebe, sondern auch die Genickschußanlage und der Weltkrieg. Das ist ein Faktum, das er begriffen hatte. Sicher wußte er längst, daß die praktischen Amerikaner Radio in die Kuhställe eingebaut hatten, weil die Kühe mit Musik mehr Milch geben als ohne. Warum also sollte er die Musik nicht auch nutzbringend in das Leben der erwachten Nation einbauen? Er hat sie eingebaut! Vor allem im Hinblick auf den zweiten Weltkrieg. Nicht daß man behaupten könnte, die „andern“ hätten während des Krieges keinen politischen Gebrauch von der stimulierenden Wirkung der Musik gemacht. Jeder erinnert sich noch an das schöne Lied „Wir hängen unsere Wäsche an der Siegfriedlinie auf“, wohl genau so deutlich vrie an das dröhnende „Marschieren wir, marschieren wir nach Frankreich hinein“ oder an das Ding mit den Röhrenglocken: „Reich mir deine Hand, deine weiße Hand“ und an den heroischen Krach vor den Sondermeldungen.

Wer weiß nicht, daß die Engländer während des vorläufig letzten Weltkrieges sogar musikalische Eroberungen dieser Art gemacht haben! Der schöne Song von „Lilli Marleen“ unter der Laterne vor der Kaserne, der so manchem Volksgenossen das Leben beim Barras mit einem erotisch getönten Freudenschimmer verklärt hat, wurde vom englischen Afrikakorps annektiert und ist heute noch das offizielle „Marschlied" dieser Truppe. Dieser merkwürdige Sachverhalt verrät uns aber, daß die Musik bei den „andern“ nicht ganz so vollkommen mitorganisiert war wie bei uns. Sie hatten eben keinen Doktor, der an alles und jedes gedacht hat.

Der Aufbruch der Nation war mit so viel zackigen Märschen eingeleitet worden, daß die Lautsprecher heiß liefen von einem unaufhörlichen markigen Fortissimo, das von keinem Negerstamm jemals lautstarker, anhaltender, durchdringender und brüllender hervorgebracht worden war, einem Fortissimo, das jedes intellektuelle Gewäsch und Geplapper, jeden schwächlichen, intellektuellen Protest wie eine unwiderstehliche Sturmflut weggeschwemmt und ins tiefste Unterbewußtsein der Nation weggespült hatte. Dann, in den Jahren von 1934 bis 1939, wurde das erwachte Leben der Nation mit Madeiraklängen verschönt, mit falschen Volksweisen aus Spanien, mit Operettenglimmer aus Ungarn, mit Pizzicato-Sercnaden aus Italien und mit Tangos aus Argentinien aufgeputzt, und die stolzen Feierabendschiffe des Dr. Ley zogen dazu ihren majestätischen Kurs, beladen mit einer fröhlichen Fracht von entspannten deutschen Arbeitsmenschen, deren ganzes Glück es ausmachte, als Söhne und Töchter des sozialistischsten Volksstaates der Erde fleißig zu werken und wohlverdient zu feiern.

Bei Kriegsausbruch folgte, wie in jedem anständigen Tonstück, die Reprise; und wieder und wieder ohne Unterlaß schmetterten die Fanfaren und rollten die Trommeln. Und unser herrliches deutsches Volksheer marschierte dazu, daß der polnische Dreck von den Stiefeln spritzte, und Adolf Hitler schwang das blitzende deutsche Schwert, das er nicht umsonst geschmiedet haben wollte. Und wir fuhren gegen Engelland und wir marschierten nach Frankreich hinein und wir wagten den Panthersprung nach Norwegen und der Allmächtige war in einem fort mit uns, daß sich die Sondermeldungen nur so überschlugen. Zwischen die Fanfaren drängten sich .„Erika, Erika“ und immer mehr „Zicke, zacke, ahoi, Rosmarie" und die ganze „Mal-her-damit"-Erotik für den Urlauber und für den Abschied das „Warum denn weinen, Charlotte?“ und „Kopf hoch, Lizzie“ und das deutsche Volkskonzert, das so schön war, das selbst die ungarischen Offiziere darüber weinten und das wehmütige „Mütterlein“ und „Wolga, Wolga“ und das zucker-zuckersüße Rosmarein-Edelweiß-Röselein-Rautendelein-Geklingel für Herz und Gemüt der kämpfenden Front und der arbeitenden Heimat.

Um ein wenig auf die Rolle der großen Musik zu kommen, so hatte der Doktor auch für sie seine Spezialaufgaben.

Zum Beispiel: Stalingrad. Der jammervolle Tod und das Elend der Hunderttausende, die er mit dem großen U-Zauber hirnlos gemacht und ins Verderben getrieben hatte, ohne daß sie es merkten, sollte mit dem selten angewandten E-Zauber für die in stolzer Trauer Hinterbliebenen ins großartig Überdimensionale, ins heroisch Tragische aufgefälscht werden. Beethoven, Liszt, Wagner und Bruckner tönten ihre feierlichsten, ihre weihevollsten Klänge, und mit ihnen zog das graue Totenheer zu Hindenburg nach Walhall. Wie schön, wie ergreifend und wie wirkungsvoll! Das begriff selbst der Mann mit der Lederjacke und den SA-Stiefeln, das ergriff ihn sogar! Wie ihn Beethoven ergriff, einmal im Jahr, zu Führers Geburtstag mit Goebbels auf dem Balkon der Philharmonie. Der Größte dem Größten! Er ihm! Das war etwas!

Die lebenden Komponisten ernster Musik mußten sich freilich mit einer weniger glänzenden Rolle begnügen. Wichtiger als eine neue Symphonie, Kammermusik oder Oper war für Goebbels der Schlagerrefrain für seinen projektierten Berlin- Schlager. „Immer an der Wand entlang" war nicht mehr ganz das Richtige. Er suchte etwas, das Berlin der Welt so sympathisch machen sollte, wie es Wien durch die „Schöne blaue Donau“ geworden war. Das gehörte schon ein wenig in den Kreis der großen, lohnenden politischen Aufgaben. So, wie auch die gezielte Einwirkung auf das LInterbewußtsein der Massen in den besetzten Gebieten, die durch Goebbels' Kitschorgel benebelt und eingelullt werden sollten. Nach Holland, nach Belgien und nach Frankreich rollten Waggonladungen von heimischen Schlagernoten, die auf Kosten des Propagandaministeriums an Music Halls und Kaffeehauskapellen gratis verteilt wurden, so daß man auf den Boulevards in Paris die gleichen Schlager hören konnte wie auf dem Kurfürstendamm zu Berlin. Das war ein Erfolg! Das ging in die Breite! Und das war die Hauptsache.

„Was macht unser Volk ärmer“, so las man damals, „wenn eines Tages alle Symphonieorchester, Streichquartette und Kirchenorgeln verstummen würden oder wenn es in allen Gaststätten, auf allen Tanzböden, in allen Bars, auf allen Rheindampfern, in allen Biergärten und Seebädern, im Variete und Zirkus plötzlich stumm würde und wenn alle Trommeln und Querpfeifen und alle Militärkapellen schwiegen! Unterhaltungsmusik ist wertvollster Kulturbestandteil. Sie begleitet das Leben unseres Volkes auf Schritt und Tritt. Nie wurde das deutlicher als heute, in einer Zeit höchster Kräfteanspannung eines Volkes.“

Oder so:

„Früher einmal haben sich die Fürsten oder die Herren Kultusminister nur um die Musikkultur der oberen Zehntausend gekümmert. Heute bemüht sich unsere Staatsführung um die totale kulturelle Erfassung des ganzen Volkes. Das ist aber mit zeitgenössischer Symphonie-, Kammer- oder Kirchenmusik nicht zu schaffen! Dazu brauchen wir die Unterhaltungsstätte als Trägerin der völlig gleich wichtigen U-Musikkultur.“

Bravo, bravo, applaudier ten gar viele, und der Doktor lud sich ab und zu einen.Schwung besonders gejehijiger' und brauch-, barer Leute in sein schönes Haus nach Lanke ein, und dort durften Ätezusammen mit den „Lieblingen von Flink und Film“ in seinem Ponywägelchen fahren. Hatte es sich der Doktor doch zur Herzenssache gemacht, den Männern, deren Musik „das Leben der Nation auf Schritt und Tritt begleitete“, nicht nur zu Reichtum, sondern auch zu Ehre und Ansehen zu verhelfen und zu den Lorbeeren, die einst nur den Großen, Unsterblichen Vorbehalten waren. Er half ihnen mit Filmsuiten in die Symphoniekonzerte und hieß sie für Rodes Zauberladen, die Reichsoper, Kollektivballette schreiben. Auf dem schnurgeraden Weg zur totalen Vermassung vermischte er die Sphären, wo er nur konnte. „Beschwingte Musik!“ „Tänzerische Musik!“ Entspannte Musik von Lincke bis Beethoven in einem Programm! Herms Niel war goldrichtig auf dem Festspielhügel und Paul Lincke war gerade der Rechte für die Goethe-Medaille. Jupp überreichte sie ihm zum 75. Geburtstag persönlich im Auftrage des Führers. Recht so! Ehrt eure deutschen Meister!

Im Jahre 1940 gelangten durch den zuverlässig arbeitenden SD die ersten Nachrichten ins Propagandaministerium, wonach die Flieger, die „gen Engelland'' flogen, um dort „Steckrüben zu pflanzen“, schon auf dem Hinflug nicht den Deutschlandsender hörten, um sich fit zu machen, sondern den Londoner Rundfunk. Man hätte unsere Doktor nicht schwerer treffen können als durch eine derartige Nachricht, es sei denn, es hätte jemand gewagt, ihm ins Gesicht zu sagen, daß er ein halbes Jahr lang nicht im Kino gewesen sei oder eine Woche lang keine Zeitung gelesen habe. Dann kam der Bericht der Gestapo an die Reichskulturkammer über die Sache mit den Jugendlichen in Hamburg. Eine nicht unbedeutende Anzahl von Knaben und Mägdelein, die sich anscheinend durch HJ und BdM nebst den dazugehörigen Kompositionen der HJ-Spezialisten nicht voll befriedigt fühlten, zog von einer deutschen Unterhaltungsstätte zur andern, machte Radau gegen Goebbels' U-Musikkultur und verlangte stürmisch ausländische Jazzmusik! Feindmusik! Negermusik! Die Bande trug als Vereinsabzeichen Chamberlain-Regenschirme, was später als entlastendes Moment ins Treffen geführt wurde. Die Mädchen gestanden den Schergen der Gestapo, daß sie durch die feindstaatliche Tanzmusik weit stärker berührt würden als durch die deutschen Marschlieder und das ewige Heidewitza.

Wenn eine Bombe ins Propagandaministerium eingeschlagen hätte, so hätte der Kleine noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, aber diese und ähnliche Nachrichten brachten in völlig aus dem Häuschen. Erstens einmal die Flieger, die Gentleman- Truppe des totalen Staates, brauchten also für ihre so kostbaren Nerven Feindmusik! Zweitens die „Junge Front“, das liebevoll hochgepäppelte Produkt der reinen NS-Erziehung, einer Erziehung, an der der Idealist Schirach, der Philosoph Rosenberg, Friedrich der Große, Richard Wagner, Nietzsche und er selbst, der unfehlbare Techniker der Massenpsychologie und der Massenpsychose, gleichermaßen beteiligt waren, diese junge Front bedurfte, feindstaatlicher Negermusik, um sich in Fahrt zu bringen! Wohl hatte er selbst schon manchesmal mit Wollust dieses Gift eingesogen, wohl hörte auch die Parteiaristokratie mit innigem Vergnügen ab und zu den für die Parteikslaven so verpönten Jazz, wohl hatte der Führer selbst eine amerikanische Step-Akrobatin mit der dazugehörigen Musik zu Sondervorführungen für illustre Gäste in die Reichskanzlei gebeten, aber das letztere wenigstens war im Frieden gewesen, und überhaupt waren so pikante Genüsse der Führerschicht, den Herren, Vorbehalten, die sie sich schließlich ebensogut leisten konnten wie Burgunder, schottischen Whisky oder Antinazifilme aus Hollywood. Was tun? Besser machen! Das undiszipliniert-fessellose negroide Element kreuzen mit dem preußischen Marschtritt! Ein neues Schlagwort erfinden! Dieses Schlagwort unter der Hand verbreiten! Nicht „heiße“, nein „schräge" Musik! Ja, das war die Lösung. Und Goebbels rief seine Kompositeure, seine Arrangeure und seine Bearbeiter, und alle, alle kamen. Was gebraucht wurde, das stand zur Verfügung. Geld spielte keine Rolle, die Front spielte keine Rolle, UK-Stellungen hagelte es nur so, und wenn irgendwo ein tüchtiger Hot-Spieler im tiefsten Rußland beim Schießen war, so mußte er eben aufhören damit und die paar tausend Kilometer nach Berlin fahren.

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1~\ie Cleversten arbeiteten wie die Verrückten und lieferten am laufenden Band, was bestellt wurde: deutsche Tanz- und Unterhaltungsmusik. Schräg, aber nicht zu schräg, bevölkerungspolitisch wirksamer als die Vorkriegsmache, trotzdem mit männlich starken Schlüssen und hochbrisant instrumentiert: voller symphonischer Klang, gut genährter Saxophonbauch, muskulöses Blech und satte Streicher! Optimistische Rhythmen, herrisch-weltmännische Allüren, alles so, wie sich der Amtswalter den Broadway vorstellte. Die neue Produktion lief auf vollen Touren, und Goebbels sorgte gleichzeitig durch eine Umorganisierung des deutschen Rundfunks gründlich dafür, daß die Hörermassen Tag und Nacht unter der Wirkung des von ihm so raffiniert ausgekochten Opiats standen. Er schuf zehn Rundfunkabteilungen, deren Konstruktion wie ein System von engmaschigen Gittern und dichten Filtern das Eindringen jeder Musik verhinderte, welche die Narkose unterbrechen konnte, dadurch, daß sie die Hörer vor Probleme stellte oder auch nur ihre geistige Mitarbeit verlangte.

Der Erfolg war durchschlagend. Görings Flieger waren zufrieden, die Geburtenzahl stieg an, der Optimismus auch, und in Kombination mit der heraufbeschworenen Hoffnung auf die Wunderwaffen („Sollen sie winseln, wir kennen kein Mitleid!“) überstand das deutsche Volk den Bombenkrieg. Niederlage auf Niederlage, den totalen Verlust von Haus und Hof und Hab und Gut und die Millionenverluste an Toten, ohne weich zu werden, ohne in die Knie zu gehen und ohne auch nur nachzudenken. Ehre, wem Ehre gebührt! Es gibt tüchtige Leute, und es wundert einen schließlich nicht, daß ihre wundervollsten Schöpfungen auch heute noch nicht aus der Mode gekommen sind. Geht in die Funkhäuser und lest die Hörerbriefe! Die guten alten Bänder aus den Jahren 1942 bis 1945 hatten auch nach dem Krieg noch den größten Erfolg. Die Menschen schrien danach wie die Morphinisten nach ihrer gewohnten Spritze. Haben sie die Bomben damit überstanden, warum sollten sie den Hunger, die Kälte, das nackte Elend und die Hoffnungslosigkeit ertragen, ohne sich mit ihrer altbewährten Droge zu betäuben? Tatsache ist und bleibt, daß diese Musik für immer untrennbar mit der Entwicklung der politisch so bedeutungsvollen Fähigkeit verbunden ist, munter zu bleiben, ohne zu denken. Alle möchten doch so gerne munter bleiben und, so sagen viele, was nützt uns das Denken! Sind vielleicht die paar Leute, die die ganze Zeit über gedacht haben, jetzt besser dran als wir, die wir ergeben und hirnlos für die großen Verbrecher gehandelt haben, ohne auch nur ein einziges Mal nachzudenken? Hungerten sie weniger als wir? Froren sie weniger? Nun, man muß schon sehr lange nachdenken, um darauf eine vernünftige Antwort zu finden. — Das Geschäft wird auf jeden Fall gemacht, und was auch geschehen mag: Mit Musik geht alles besser!

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