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Jahrgang 1921

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Jahrgang 1921 — du hoffnungsvoller, schöner und starker Jahrgang der großen Erwartungen —. was ist aus dir geworden? Zerstampft im Mörser eines erbarmungslosen Krieges, auf das Mühlrad einer ruhelosen Epoche geflochten, hat der Zeitwind deine spärlichen Reste in alle Richtungen verweht, und fast bist du völlig verschwunden !

Deine Angehörigen kamen aus wohlbehü'teten Heimen — Achtzimmerwohnungen gab’s noch, und sogar Plüschmöbel, die Väter waren Studienräte, Aerzte, Anwälte, Beamte und „arrivierte Künstler" oder Geschäftsleute von Gediegenheit — oder auch aus jenen sehr ordentlichen und sauberen Bauernhöfen der deutschen Stämme oder aus Arbeitervierteln, in denen mitunter noch Armut herrschte, aber ein starkes Klassenbewußtsein und emsiger Fleiß den Aufstieg verhießen.

Es ging durch die Elementarschule und die höhere Schule, Realschule oder Gymnasium. Auch Griechisch war noch Pflichtfach! Und es gab — wirklich! — noch Lehrer mit steifem Kragen, die das spanische Rohr beim „Turnunterricht“ schwangen. Dann wurde eine Zeitlang — meist in der Quarta — die generelle „Aufklärung" versucht — der Ordinarius schwitzte bei seinen mühsamen Vergleichen mit der Fortpflanzung der Flora und Fauna, und die Klasse grinste hämisch und. schadenfroh ob dieses quafvolleh Vorgangs. (Ės war ehen auch nicht d i e Lösung!)

Gerade nach Absolvierung jenes umstrittenen Tests, den man Reifeprüfung betitelte, vor dem Sprung an den Busen der „Alma mater“, erwischte es dann dich, du prächtiger, gut trainierter, wohlvorbereiteter Jahrgang, für all diese Dinge, auf die du letztlich gar nicht vorbereitet warst! Man hatte ja noch die ermahnungsreichen wie wohlgemeinten Abschiedsworte der Schulräte bei den Entlassungsfeiern im Ohr, in die sich freilich schon viele national-martialische Anklänge schlichen — 1939, als es in das vielbesungene und hochberühmte „Stahlbad“ ging.

Und es hatten ja die Studienräte, besonders vor Klassen mit Koedukation, immer gerne zwischen Englisch und Mathematik davon gesprochen, daß ihre „militärische Karriere“ doch wohl noch nicht zu Ende sein könnte, und Reservehauptmann wollte jeder mindestens werden. Dazu bekamen sie dann Gelegenheit, manchmal 'ausgiebiger, als dem einzelnen lieb sein konnte!

Und dem Jahrgang selber verblaßten und vergingen die schönen Reden von Fichte, die Merksätze von Kant oder Schiller, ja selbst der verhaßte Pythagoras und Luthers Thesenanschlag vor übermächtig-vordergründigem Lärm: Denn da krepierten bald Granaten vor Smolensk und Stalingrad, rissen Löcher und Lücken in den Jahrgang, der die vorderste Front bildete, da schlugen Preßluftbomben vor Tobruk in die eigenen Reihen, zahllos sanken auf hoher stürmischer See die U-Boot-Besatzungen zu qualvollem Tod, und als brennende Fackeln stürzten die abgeschossenen Bomber und . Jäger vom nächtlich flammenden Himmel, bester Söhne voll!

Manchem aber schlug ein starkes Herz mehr aus banger Gewissensnot als aus Furcht vor der eigenen Vernichtung, gedachte er des Entsetzlichen, das, ungewiß, irgendwo hinten geschah, und rief ihn Zum Widerstand auf: Da gab es zerstörte Heime, ganze Städte in Trümmern, Flüchtlingsheere, die Gasöfen von Auschwitz und die Steinbrüche von Mauthausen, und die gut eingeübten Erschießungskommandos in der altbewährten Festung Torgau, wo man Deserteure und Widerständler füsilierte, bei Tag und bei Nacht. Mancher konnte darüber nicht schlafen, auch wenn in einer seltenen Nacht der dunkle Himmel vom Motorengedröhn der Feindgeschwader stillblieb.

Und während der Krieg und der Tod mit sausenden Sensen in den Ländern mähten, hielt das Schicksal immer neue und immer feinere Siebe unter den langsam verrinnenden Jahrgang, und so wurde aus dem Strom ein gar schmales, fast versiegendes und armseliges Bächlein!

Dann aber war es eines Tages doch einmal vorbei, und man wanderte zwischen Ruinen und Trümmern aller Sorten umher und suchte die Seinen . . . die Kameraden von einst … den begonnenen, irgendwo verlorengegangenen Weg. Und manche fanden ihn niemals wieder und suchen noch immer darnach, hartnäckig und vergeblich. Nicht an alle Fäden konnte „neu angeknüpft" werden, manches erwies sich als hoffnungslos ausgefranst. Dennoch gingen einige Wackere in die zerlöcherten Hörsäle — mit einiger Verspätung — und andere ebenso Wackere nahmen das wunde Land unter den Pflug, denn weitergehen sollte und mußte das Leben.

Aber so mancher kam mit der neuen Welt, wie sie jetzt entstand, durchaus nicht mehr zurecht und fand keinen Sinn mehr in dem Ganzen. Und das waren die Schlechtesten nicht immer.

Junge Männer waren zunächst recht „gefragt" jtnd „Mangelware“, namentlich soweit sie rein äußerlich den Krieg so halbwegs gut überstan den hatten. Man handelte mit Zucker aus Kuba mit Butter aus Holland, mit Zigaretterį us den USA und Devisen und auch mit Pässen nach Kanada und Argentinien. Aber das „Wirkliche" war das nun auch nicht, das merkte fast jeder In der besten Rechnung fehlte ein entscheidender Bestandteil, wenn sie auch noch so glatt aufzugehen schien.

Na ja, das Verdienen mit leichtem Einsatz und so, die rasch geschlossenen und getrennten Freundschaften, man hatte eben dem „Stahlbad“ in jedem Fall Tribut zu entrichten: es hatte auch die Frauen und Mädchen verändert, und es war vorbei mit den frischen Liedern von der grünen Heide und dem Westerwald, durch den der Wind so kalt pfiff… (aber niemals annähernd so kalt wie vor Orel im russischen Winter!)

Es wollte eben mitunter nicht ganz gelingen, etwas persönlich Bedeutsames unter „Verlust“ zu buchen und darüber hinwegzuschreiten: das konnte die eigene Familie sein, die Mutter, der Vater, eine Heimat, irgend so ein Gut, jahrhundertelang im Familienbesitz und peinlich weit östlich von „Oder und Neiße“. Oder eine junge Frau mit einem Kind, das man niemals sah. Oder ein Beruf — ein schwer entbehrlicher Unterschenkel — ein Auge — ein stabiles Nervensystem — eine große Illusion, mit der sich leben und vielleicht sogar sterben ließ — ja gelegentlich auch der liebe Gott selber.

Aber dann begann ja die Konjunktur und der große. Aufschwung, die „Normalisierung“. Man gelangte mit Talent, Fleiß, Glück, Beziehungen und Pfiffigkeit zu Aemtern und Positionen. Man verdiente gut, und bald besser als jemals. Neue Geschäfts- und Bankhäuser erhoben sich vielstöckig über den alten Trümmern, unter denen die nie beerdigten Toten lagen. Der Geist des Wunders erstarkender Wirtschaft fegte die Luft von einem Teil der bösen Gespenster frei und rein.

Um so hartnäckiger etablierten sich die anderen, die davon nicht umzubringen waren und sich dagegen immunisierten. Man wurde zwar reich und fett und wechselte Wohnungen und Automobilmodelle, aber im Innern fraß doch der Wurm. Für die große Karriere und das viele Geld handelte man allenfalls etwas Neurose oder Managerkrankheit, Atom- und Krebsfurcht ein. Nachts gibt’s manchmal arge Träume, wenn der Wind aus dem Osten herweht . ..

Denn auch dort leben ja wohl Menschen, und ganze Völker und ganze Millionen — sehr viele sogar!

Ach, du hoffnungsvoller, schöner und starker Jahrgang 1921, der zuerst in die Bresche zu springen hatte, wo bist du geblieben? Wohin sind all die fröhlichen, tapferen, wohlgewachsenen Jungen und die reizenden, sanftäugigen Mädchen geraten, die es einstmals gab und auf die man so große Erwartungen setzte? Wo sind die Kinder, die ihr der Welt schuldig geblieben seid, die gesunden, starken, hoffnungsfreudigen Kinder, wo die „ungeborenen Enkel"?

Achtunddreißig Jahre alt ist der Jahrgang heute, wäre er heute! „Hälfte des Lebens", nannte das Hölderlin, als für ihn die dunklere Hälfte eben anbrach. Ja, „im Winde klirren die Fahnen“! Klirren sie noch oder klirren sie schon wieder — oder haben sie am Ende gar nicht zu klirren aufgehört, und nur unser geschäftiger Lärm hat das zeitweilig zu übertönen versucht?

Heute begegnen wir einander gelegentlich auf den vielfachen Märkten der Welt, wir Reste des dezimierten und auf geriebenen Jahrgangs — sind einander ganz fremd geworden und schauen uns verwundert an. Wie bist du alt geworden (und dick!), Kamerad, inmitten so vieler Prosperität und Verantwortung — und warum hast du diesen ängstlich-unsicheren Seitenblick, wenn du dich unbeobachtet glaubst? Ist dir nicht ganz wohl inmitten deiner Glaswände, mit deinem sicheren Konto und schönen Wagen, der auf dich wartet und mit großer Sicherheit vor jeder frischen Luft bewahren 'wird — auf ein Weilchen?

Und — wie bist du „jung geblieben“ und hast nichts erreicht, Kamerad, während du in deinen Wäldern warst und dein Leben über die Sportplätze schleiftest, weil es für dich doch keinen Sinn hatte, am Wettlauf um die Lebensprämien teilzunehmen! Aber ob wir zehn Jahre älter oder zehn Jahre jünger erscheinen — das Leben zählt nach eigener Registratur und wir handeln nichts auf und nichts ab. So wandern wir also umher, wir Uebriggebliebenen, zwischen wirtschaftlichem Ueberschuß und seelischem Defizit, und spüren den längst überwucherten Wegen nach, die für uns einst zu den „wirklichen Zielen" führen sollten. Und finden sie nicht. Vielleicht ist auch das eine „Illusion“, und es hat diese Wege niemals gegeben? Auf jeden Fall aber sind wir eine echte und wirkliche Rarität, wir Angehörige des Jahrganges 1921!

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