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Junge Menschen — drüben

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Der Wagen mit der Schweizer Nummer fuhr durch die Dunkelheit. Kurz vorher waren sie von der Autobahn abgebogen, um in einem Gasthof Abendbrot zu essen. Die Stadt selbst besaß früher einmal weit berühmte Lokale — die letzten 20 Jahre hatten aus ihnen nur noch Erinnerungen gemacht. Hier aber, im Thüringer Wald, lockte das „Deutsche Haus“. Noch durfte es sich so nennen, noch war es sogar in Privatbesitz. Da wurden sie gestoppt — Polizeistreife. Ausländer, die von der Autobahn abweichen, müssen immer damit rechnen. Die Uniformierten können nicht wissen, daß der Mann am Steuer sich mit seinem Visum Im ganzen Bezirk frei bewegen darf. Er blieb daher auch gelassen. Seine Begleiterin aber, mit allen Rechten Bürgerin dieses Staates, bekam feuchte Hände und begann zu zittern. Die Kontrolle dauerte fast eine Viertelstunde. Name und Anschrift der beiden Insassen waren notiert, und dann konnte die Fahrt fortgesetzt werden.

Die Begleiterin zündete sich eine Zigarette an und entspannte sich langsam. Sie liebte diesen ihren Staat nicht, obwohl sie vom Vater zu seiner Respektierung angehalten war. Im Dritten Reich Parteimitglied, hatte dieser rechtzeitig Anschluß bei der SED gesucht. Nun paßte er sich an, soweit es möglich war. Vor dem Fernsehschirm endeten allerdings auch die Pflichten. Weder „Schwarzer Kanal“, weder Nachrichten noch Kommentare kamen in das Wohnzimmer. Die Antenne zeigte nach Westen. So wuchs . die Tochter heran. In der Schule bemühten sich die Lehrer mit unterschiedlichem Erfolg, linientreuen Unterricht zu geben f- bei der Mutter, den Freundinnen, am Fernsehapparat und nicht zuletzt in der kirchlichen Jugendgruppe lebten sie wirklich. Ohne Phrase, ohne Überdruß. Aber sie konnten das andere nicht einfach abschütteln wie ein Hund das Wasser nach dem Bad. Es saß und sitzt tiefer, als sie selbst es zugeben. Sie lesen selten oder nie Zeitung, aber das Gift der Propaganda ist trotzdem in ihre Seelen gedrungen. Das ahnen sie wohl, und es macht sie noch zerrissener,,als sie ohnehin schon sind. Viele Eltern begnügen sich damit, ihre Kinder zwischen Schule und Fernsehschirm eine Doppelexistenz führen zu lassen, so wie sie selbst es auch tun. Politik ist verordnet, spielt aber abseits von Betrieb und Versammlung bei den Erwachsenen eine genauso untergeordnete Rolle wie bei den Jugendlichen. Stammtische erörtern allenfalls Torheiten örtlicher Planung, aber konstruktive Ideen werden nicht entwickelt. Sie wären ohnehin sinnlos. Den jungen Leuten ergeht es genauso. Sie nehmen an allem teil, was pragmatisch von Interesse ist, ihr Vorwärtskommen betrifft, ihre beruflichen Chancen verbessert. Da aber nichts von allem unverpackt in ihre Hände gerät, ist die politische Verschnürung des Pakets zunächst möglichst geschickt und anpassungsfähig zu lösen. Dann, wenn dies geschafft ist, beginnt ihr eigentliches Interesse. Der junge Mann, den ich im Wagen von Berlin-Schönefeld auf der Autobahn nach Dresden mitnahm, studierte Architektur. Lächelnd zeigte er mir sein Parteibuch. Genauso lächelte er sich durch die politischen Vorlesungen jahrelang hindurch. Nun wird er sein Staatsexamen machen und nichts anderes im Sinn haben, als an einflußreicher Stelle den täglichen Kampf mit der Planung auf sich zu nehmen, um möglichst anständige und dem internationalen Standard gemäße Häuser zu bauen. Meine Begleiterin hat sich diese Chance verbaut. Sie wurde von der Universität relegiert, als sie sich gegen einen erneuten Ernteeinsatz wehrte. Der Dekan, wohl wissend, daß seine Studentin die knappen Ferien dringend für wissenschaftliche Arbeiten brauchte, ließ sie fallen. So verlieren die Universitäten die Letzten, auf deren innere Unabhängigkeit man setzen kann. Die nicht einmal bereit sind, den breiten Weg der Anpassung mitzugehen, weil sie gehört haben, daß dieser schon einmal ins Verderben führte. Besonders, wenn es sich zugleich um den Weg der Kirche handelt. Die relegierte Studentin war Theologin. Nun arbeitet sie in einem Krankenhaus. In der Universität aber arbeitet man eifrig daran, die Herzen für die Prager Christliehe Friedenskonferenz zu erwärmen. Eine gute Sache, gewiß, aber keiner kann hier mehr von ihr hören. Der Frieden ist ihnen zu rötlich, zumal nach dem 21. August! Am leichtesten haben es wie immer alle jene, deren Gewissen nicht vom Intellekt und Herzen ständig beunruhigt wird. Die obendrein seit Jahren kein anderes Ziel als das Transistorgerät haben. Nun traben sie in Blue Jeans, Nylonhemden und mit beträchtlichem Haarwuchs durch die Straßen, haben ihr Radio im Arm und bei den Mädchen reiche Ernte. Sie reden nicht vom Auto, sondern vom Motorrad, am liebsten jenem, das aus der Tschechei kommt, 3000 Mark kostet und Jawa heißt. Daran denke sie auch noch, wenn sie bei der nächsten Betriebsversammlung zu Ehren des VII. Parteitages neue Gelöbnisse nachsprechen. Das westliche Kriminalstück am Abend rundet ihre Wünsche dann ab. Sie sind ohne Bitterkeit, weil sie die Süße wirklicher Freiheit nicht entbehren.Eins lernt der Gast aus dem Westen erst im monatelangen Zusammenleben mit den jungen Menschen drüben. Ganz gleich, ob sie Mitläufer aus Gedankenlosigkeit, Angepaßte aus Ehrgeiz oder Enttäuschte sind — den Westen lieben sie nicht. Das Gift tut bei allen seine Wirkung, und die Besucher aus dem Westen taten ein übriges. Sie mögen noch so bescheiden auftreten, sie fordern doch heraus. Sicher lebt auch der junge Mensch dort in erster Linie von der Erfüllung materieller Hoffnungen, aber er will nicht ständig nur darüber reden. So bringt sich der Westler, der nichts ahnend wirtschaftliche Fortschritte drüben lobend erwähnt, bei den Wertvollsten der Jugend um allen Kredit. Sie lassen sich gern Nylonhemden und Pullover mitbringen, aber sie möchten von uns mehr. Was, ist schwer zu sagen: Verständnis vor allem, Geduld mit ihrer Zerrissenheit, vielleicht auch eine Menschlichkeit, die sie mehr überzeugt als die humanistischen Phrasen ihres Staates. Sie suchen den besseren Deutschen, dem sie sich verwandt fühlen, nicht den besser situierten Westdeutschen, vor dem sie immer nur als die armen Verwandten gelten.

Viele seelische Krisen wachsen bei jungen Menschen drüben zu Neurosen aus. Keiner spricht von ihnen, das Bild strahlender, lebensfroher Daseinsbewältigung wird öffentlich ständig aufgefrischt. Aber am Abend verliert es seine Farbe. Dann sitzen sie hilflos beieinander und denken nicht an den nächsten Tag, der ihnen ihre Ausweglosigkeit nur noch deutlicher macht. So flüchten sie ins Vergnügen und in die Sexualität. Je prüder die öffentliche Moral sich gibt, desto ungehemmter lebt man sich aus. Das Tor zum Westen ist verschlossen. So schaffen sie sich ihre eigenen Freiheiten. Hin und wieder schlägt das in völlige Verzweiflung um, und dann sitzen sie am Lager eines Kommilitonen und versuchen, mit den heilenden Kräften des Glaubens ihm und sich selbst neuen Lebensmut zu geben. „Fahr weiter, ich bitte dich, fahr immer weiter“, sagte das junge Mädchen an jenem Abend, als wir in dem thüringischen Gasthof gegessen hatten und wieder auf der Autobahn waren. Aber die endete nach knapp 40 Kilometern an der Grenze. Meinte sie wirklich das Land, das jenseits des Stacheldrahtes und der Minenfelder begann? Vor seiner grenzenlosen Freiheit fürchten sie sich mindestens ebensosehr, das Gift tut seine Wirkung auch bei ihnen. Aber die seelische Zerrüttung nach jahrelanger Gefangenschaft läßt ihnen keine andere Wahl Sehr viele junge Menschen drüben haben sie im Herzen längst vollzogen.

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