6538439-1946_28_01.jpg
Digital In Arbeit

Am offenen Tor

Werbung
Werbung
Werbung

Die Eingangstür zur Klasse ist mit Blumen geschmückt. Von der Tafel, die sonst mit geschichtlichen Tabellen, Logarithmen und Gleichungen, mit starken Aoristen, Gerundium und Gerundivum vollbeschrieben ist, leuchten in großen Buchstaben, dreifach unterstrichen und durch einige kraftstrotzende Rufzeichen verstärkt, die zwei Worte „Carpe diem!“ Nütze den Tag, genieße die Stunde!

Sie haben also doch Vater Horaz richtig verstanden und sich aus seinen ewigen Lebenswahrheiten das Beherzigendste vom Beherzigenden herausgesucht!

Die Schüler stehen in einem feierlichen „Habt acht“, mit einer noch feierlicheren Miene, die etwas Außergewöhnliches erwarten läßt. Der beste Redner der Klasse tritt vor den Katheder und hält, von linkischen Armbewegungen begleitet, eine Ansprache: „Wir danken für ...“

Und nun ziehen filmartig, durch AbMen-dungen unterbrochen, die acht Jahre vorüber, die man zusammen verbrachte, gemeinsam Kenntnisse und Wissen erarbeitend, immer das eine Ziel vor Augen, Dankbarkeit ist draußen im Leben dünn gesät und meist mit Vergeßlichkeit gepaart. Heute aber und in dieser Stunde des Abschiednehmens sind diese Worte, man spürt es deutlich, ernst gemeint und reichen über die Grenze des Äußerlichen hinaus. Ein Blick in die Augen der Abiturienten läßt den Lehrer unwillkürlich Bilanz machen und eine Gew'ssenserforschuns; vornehmen. Haben wir der Jugend wirklich alles gegeben, was sie von uns erwartete, was sie mit Recht erwarten darf? Haben wir' sie zur Meisterung des Lebens erzogen was ja schließlich das Wichtigste ist? Reif macht ja doch nur das Leben, und da kann auch ein Vierziger noch durchfallen Alles, was wir vermochten, war wohl nur ein Wecken und Aufrütteln, ein Hervorholen dessen, was die Natur in sie hineinlegte. Wir bemühten uns, ihnen Ehrfurcht beizubringen vor jeder ehrlichen Arbeit, vor wirklichem Können, vor den Leistungen der Wissenschaff und Kunst. Kenntnisse allein sind ja nicht Bildung, Bildung macht reif und frei; sie gibt sich bescheiden und ist, was oft vergessen wird, auch eine Sache des Herzens. Maeterlink hat nicht so unrecht„ wenn er wahre Bildung als das bezeichnet, was übrig bleibt, nachdem wir a'les vergessen haben, was wir lernten. Auf die seelische Verarbeitung kommt es an, will er damit sagen, .auf den Bodensatz, der dem Charakter Säfte zuführt und den Willen klärt. Vielleicht gelang es uns, die Schüler Werke genießen lehren; ihneiftbeizubringen, daß die Welt besitzt, wer sie sich erarbeitet, und daß wir stets das Richtige treffen, wenn wir das Selbstverständliche tun. Daß wir unsere Aufgaben dort suchen müssen, wo unsere Gaben liegen, und daß wirklich große Menschen fortgesetzt von anderen lernen, das für sich Geeignete auswählend. „Bilde dich selbst und wirke auf andere durch das, was du bist“, fordert Wilhelm von Humboldt.

Nun beginnt also die Hochschule des Lebens, die zeigt, daß jede große Aufgabe aus lauter kleinen Aufgaben besteht. Nun treten sie hinaus in ein Neuland, das sie sich in hartem Kampf erobern müssen. Sie weiß um diesen Kampf, die Jugend von heute, die so ganz anders ist als vor dem großen Völkerringen. Wenn wir ihr in der Schule von Vergangenem erzählten, von der Zeit vor 1938, blieb sie oft zurückhaltend. Fast scheint es, als habe sie sich freigemacht vom Verbundensein mit dem Alten. Ja, die Tu- gend von heute blickt wenig zurück. Aber alles Neue und Kommende, das sich ankündigt, fesselt sie unbändig. Ihr Drang, znr Geltung zu kommen, sich durchzusetzen, ist groß, sehr groß; sie sieht ja ungeheure Möglichkeiten vor sich und ist voller Pläne. Doch ein Blick in die Umwelt klärt sie darüber auf, daß sich fast nichts von alledem verwirklichen läßt Ungewiß und sorgan-erfüllt liegt die Zukunft vor ihr, sprunghaft von einem Extrem ins andere fallend ist die Gegenwart- eine entzauberte Welt. Weiterstudieren? Man hörte viel von den ungeheuren Schwierigkeiten, irgendwo unterzukommen. Man liest in den Zeitungen darüber, fühlt den Kummer der Eltern bestätigt und macht sich Gedanken darüber. Kein Wunder, daß die Jugend notgezwungen sachlich wurde und ihre Chancen nüchtern berechnet. Wer dürfte ihr das auch übelnehmen? Sie bleibt aber doch heroisch im Ausharren; diese moralische Widerstandskraft ist bewundernswert.

Problematische Naturen gibt es — gottlob — unter der Jugend von heute nur sehr selten. In eine harte Zeit hineingewachsen, merkt sie nur zu bald, daß jn der Welt etwas nicht stimmt. Sie macht sich daher keine Illusionen über die Gegenwart und Zukunft, träumt nicht von einem wolkenlosen Glück, in dem sie höchstens einen bequemen Trost für Schwächlinge sieht. Erklärlich also das Ablehnen der Romantiker in der Literaturstunde, das geringe Verständnis für Lyrik. Gefühle zeigt man nicht

— so die Losung. „Lektüre dieser Art gibt uns nichts, was uns weiterhilft!“ das hört man immer wieder. „Wir lächeln über die Leiden eines Werther, weil wir das Leben bejahen, weil wir kampfbereit, zäh und ausdauernd sein, weil wir festen Boden unter den Füßen haben wollen! Handeln, handeln, das ist es, wozu wir da sind! Wir nehmen ohne müde Verzichtleistung die Dinge, wie sie sind, und passen uns einfach den gegebenen Verhältnissen an. Für philosophische Systeme haben wir freilich nicht viel übrig, da wir sie für ziemlich unfruchtbar halten. Wir bevorzugen daher Bücher, die uns etwas für den Daseinskampf mitgeben; Bücher, die wir so, wie wir nun einmal sind, nacherleben können. Zeitprobleme also, Errungenschaften der Gegenwart; Bücher, die uns klipp und klar sagen, was uns in der Zukunft erwartet, damit wir uns einrichten können. Auf künstlerische Form und ästhetische Vorzüge legen wir dabei kein besonderes Gewicht. Sind sie vorhanden, achten wir sie, wie jede positive Arbeit. Imponieren können uns aber nur Spitzenleistungen.“

Weiß der Außenstehende, wie schwer unter diesen Voraussetzungen das Unterrichten ist? Wo doch die Mittelschule von vielen Eltern nur als Wartesaal für ihre Kinder angesehen wird, um die Berufswahl hinausschieben zu können. Dabei sehnt sich die Jugend, wie die ganze Menschheit, nach etwas Dauerndem, Bleibendem. Sie spürt, wie alles von heute auf morgen ist, wodurch die Gefahr nahegerückt wird, daß sie in den Tag hineinlebt. Wie schwer für den Lehrer, ein Weltbild aufzubauen, an das die Jugend glaubt, wie schwer die Erziehung zur inneren Disziplin und zu einem geordneten Denken! Denn das Getäuschtwerden verzeiht die Jugend, die sich nicht überflüssig vorkommen will, nie. Die Wahrheit hören, auch wenn sie unangenehm ist! Nur dann ist ein Überwinden möglich.

Ein Überwinden! Nun, die Jugend hat — das können wir Lehrer nach dem ersten Schuljahr im neuen Österreich ruhigen Gewissens behaupten — den ernsten Willen, zu lernen und die zweifellos großen Lücken in ihrem Wissen auszufüllen. Wunder konnten nicht erreicht werden; aber das bisher Erzielte berechtigt zu guten Hoffnungen. Die Jugend Hat erkannt, daß es im Leben aufs Können ankommt, und zieht daraus von den vielfach zersorgten Eltern tatkräftig unterstützt, die Schlußfolgerungen. Erfreulich festzustellen, daß die Liebe zur Heimat heute sich wieder fest verankert. Nicht minder die Erkenntnis des Verbundenseins aller Völker im Geiste der Verständigung und eines friedlichen Zusammenlebens. Es zielte ja auch der Unterricht im abgelaufenen Schuljahr auf das Bewußtwerden von der geistigen Einheit aller Menschen, auf das Gefühl der Gleichberechtigung aller Völker dieser Erde vor dem Schöpfer. Es zielte der Unterricht auch auf das Wiedererwecken des persönlichen Gewissens, auf das Wiedererwecken der Verinnerlichung der Jugend, auf Bildung als „das Wissen des. wohlwollenden Herzens“, auf eine Veredlung des Kraftbegriffes n n d auf eine richtig verstandene Selbstbehauptung, die sich höheren Menschheitsaufgaben nicht verschließt, sich in die Gesamtordnung einzufügen versteht. Ist doch auch die Einstellung zur Geschichte als solche wieder sachlich geworden. Der Krieg wurde nicht mehr als der „Vater aller Dinge“ gepriesen, sondern als der von Millionen verfluchte Zerstörer dargestellt, der alle schlechten Triebe entfesselt, die Früchte jahrzehntelanger Arbeit vernichtet, wirtschaftlichen Zusammenbruch und Chaos herbeiführt. Die Schüler hörten immer wieder von friedlichem Heldentum, von den Leistungen der Erfinder und Forscher der Ärzte und den zahllosen Pionieren der Zivilisation und Kultur. Sie hörten von den Helden des Friedens als Wohltäter der ganzen Menschheit, die auch Soldaten und Feldherren sind, auch des Sieges Vorbedingungen erfüllen durch Tapferkeit, Mut und festes Beherztsein, die auch Selbstverleugnung, Seelenstärke und, wenn es sein muß, • Todesverachtung besitzen, die freiwillig die sie umlauernden Gefahren auf sich nehmen, geleitet von der erhabenen Idee, dem Fortschritt der ganzen Menschheit zu dienen und so die Verbundenheit der Nationen zu stärken. Sie reden nicht die gleiche Sprache, diese Helden des Friedens, und verstehen einander doch, denn ein unzerreißbares Band umschlingt sie, ein Gemeinsames eint sie. Sie gehen die Straße selbstauferlegter Pflicht. Sie üben vor allem Geduld. Jene Geduld, die das Schweigen lehrt, die Selbstüberwindung und zähes Ehtrchhalten verlangt und ein nach vorwärts gerichtetes inneres Auge. Von einem starken Wollen geleitet, arbeiten sie auf lange Sicht. Ihr Werdegang zeigt das gleiche Bild: ein Erfolg ist für sie nie sofort greifbar. Sie wissen es und harren aus. Rückschläge kommen und werfen sie zurück. Sie beißen die Zähne zusammen und beginnen von vorne. Unnachgiebig mit nicht erlahmender Spannkraft des Geistes und des Herzens, mit beispielloser Hingabe, und Verzicht auf alles, was wir unter Annehmlichkeiten des Lebens verstehen, auf Mußezeit, geruhsames Verweilen. Erholung und Enrsnannung. Unter Verzicht auch auf Geselligkeit und Freundschaft, ja auf Liebe und Familienglück. Sich selbst verantwortlich, kennen sie nur die Freude am aufbauenden Schiffen. Als Verkörperung von Energie und unbezwingbarer Entschlossenheit sehen wir sie vor uns: standhaft und überlegen, keine Halbheiten duldend. Es sind Menschen, die aus besonderem Holz geschnitzt sind. Handelnde, die Einfälle noch nicht für Gedanken halten. Die Neues suchen und Neues finden. Kämpfer, die den Angriff lieben, den Boden lockern und ihrer Zeit vorauseilen. Die vor Hindernissen nicht kapitulieren, an Widerständen reifen und mit zunehmenden Schwierigkeiten ihr Selbstvertrauen nur gesteigert fühlen. Männer sind es aus eigener Kraft, die von Klugheit gelenkt wird. Männer, fern von falschem Ehrgeiz und vom Jahrmarkt der Eitelkeiten. Nur von einem fanatischen Trieb' beseelt, dem Trieb zu schöpferischer Arbeit. Männer der Tat. Alles ist Bejahung an ihnen. Solche Wesensart haßt jedes Strebertum, sieht nicht auf den eigenen Vorteil. Gelten darf nur das, worauf es ankommt. Darum verläuft ihr selbstgewählter Weg auch geradlinig. Was sie anpacken, tun sie gründlich.

Die Jugend erfuhr aus dem Munde ihrer Lehrer: Nehmt euch an diesen Unentwegten ein Beispiel! Als Feinde von Äußerlichkeiten sprechen sie von sich mit einer Bescheidenheit, die nicht gutgespielte Pose, sondern unverfälscht, weil wurzelecht ist. Als Männer von Haltung zeigen sie Abwehr dann, wenn jemand sich anschickt, von ihnen ein Aufsehen zu machen. So formen Leben und Schicksal das Bild in sich gefestigter Menschen, die, von unbegrenzter Zuversicht getragen, zu dem wurden, was sie aus sich heraus werden mußten: Aufrechte, Ganze. Sie sollen euch vor allem warnen, nie die Segnungen der Kultur und Zivilisation gedankenlos als Selbstverständlichkeiten oder etwa gar als ein Geschenk des Glücks zu betrachten. Vergeßt nie, daß dieser Wertzuwachs in schwerster Arbeit, trotz aller Hemmnisse und Widerstände, trotz Mißgunst und Neid errungen und erzwungen wurde. Erinnert euch stets, daß jeder Fortschritt erkämpft werden muß! Pflicht, heilige Pflicht, auch der kommenden Geschlechter aber ist es, den Helfern der Menschheit als leuchtenden Vorbildern zu danken, immer wieder zu danken.

Ein Lehrer, schrieb Colonel Parker einmal,der nur Kenntnisse vermittelt, ist ein Handwerker; der Lehrer, der den Charakter bildet, aber ein Kunst-1 e r. Um diese Forderung kommt die Gewissenserforschung in der Stunde des Abschiednehmens nicht herum. Wie selten bot sich — und es wäre doch so wichtig gewesen! — Gelegenheit zu einer sachlichen, freien Aussprache über allgemeine Fragen des Lebens, über die inneren Konflikte der Jugend, über Menschenkenntnis! Gelegenheit auch zu aufklärenden Beratungen über die scheinbaren Widersprüche im Leben. Die Jugend will ja wissen, worum der Einsatz geht; sie sucht nach den großen Zusammenhängen und ist so unendlich dankbar, wenn sich der Lehrer mit ihrem Ideenkreis beschäftigt, an ihren inneren Nöten Anteil nimmt, sie leitet und führt. Wenn die Jugend einmal eine Uberzeugung hat. kämpft sie auch dafür bis zum Fanatismus. Sie besitzt auch ein starkes Gefühl für dn ritterlichen Kampf nach( dem Fair plav. Thre sportliche Betätigung bestärkt auch das sittlich bedeutsame Kameradschaftsgefühl, das bei der heutigen luvend, im Gegensatz zu der schwärmerischen Freundschaft von früher, sehr stark ausgeprägt ist. ..Wir gehören zusammen, weil wir jung sind'“ Auch im primitiven Koro-sgeist der Klasse spiegelt sich dieser Zug. Unsere Zeit kennt keine Anatole, wohl aber die Sehnsucht nach produktiver Arbeit, den Idealismus der Tat.

Heißt erziehen nicht Befreier sein? Ach, wer das könnte! Ein I ehrer. der das vermag, gibt mehr als alle Lehrbücher zusammen. Fast wird man schwermütig in dieser letzten Stunde und wünscht sich, noch einmal Schüler sein zu dürfen. Hat Peter Roseggei nicht recht, der einmal meinte, in der Jugend studiere man Erwachsene, um klug zu werden; im snäteren T ebn studiere man Kinder, um glücklich zu sein?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung