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Meinem Gymnasium

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Ich habe immer den Lehrer als den edelsten Beruf erachtet. Daß ich aber so denken lernte, muß ich wohl der Erfahrung danken, die mich den Berufenen hat kennen lehren. Ja, ich bekenne es gern: ich habe in meinen Lehrern den Lehrer lieben gelernt. Und ein Denkmal dieser Liebe will ich ihm und der Lehre errichten aus weihevollem Anlaß.

„Angehender Primaner“ schrieb sich in den Ferien, die auf die Volksschule folgten, der stolz vom Gymnasium als seinem nahen Ziel bereits in Anspruch genommene Zehnjährige. Einige Undankbarkeit gegen die überwundene, die im Flug durchmessene Frist der Vorbereitung mochte in diesem Gefühl liegen; aber dem noch traumhaft-ewig an Stunde, Tag, Jahreszeit verweilenden Kind erbreitet sich diese ach so kurze Spanne ja als eine dichte, massige Gehältigkeit. Und nun war das ersehnte Ereignis eingetreten. Die Aufnahmsprüfung war tadellos bestanden, ich war einer von ihnen geworden, die ich als mir überlegen bestaunt und beneidet hatte. Acht Jahre bin ich dann sozusagen über mich emporgestiegen. Eine merkwürdige Leidenschaft, dieser Ehrgeiz der zu überwindenden Stufen. Man läßt sich an keiner der unvermeidlichen genügen. Die Genugtuung, sie erreicht zu haben, weicht alsbald dem Drange, sie zu verlassen, da die höhere vor einem liegt. Und oben angelangt, starrt man ins Leere ... Es war einer der traurigsten Tage meines Lebens, als ich nach beendigter Maturitätsprüfung „ausgezeichnet“ aus der Anstalt mich entlassen fand. Nicht der Abend selbst des letzten dieser aufgeregten, seltsam gesteigerten Tage: noch war der Rausch des Erfolges brausend in meinen Adern und die festliche Freude, die zu Hause unter den versammelten Verwandten mir und dieser meiner bewunderten Leistung galt, nahm mich mit Rührung, Scham und Eitelkeit in Anspruch. Aber als ich am nächsten Morgen vor meinem abgeräumten Schreibtische saß, in dem kleinen Hofzimmer, wo ich so oft unter der stillen Milchglasglocke der Wandlampe über den Büchern Mitternacht herangewacht hatte, da überfiel mich eine grauenvolle Oede. Mich umragten die nackten Mauern der teilnahmslosen Wirklichkeit. Denn alles dies, was da hinter mir versunken war, das war doch noch Kindheit gewesen, trotz den aufbegehrenden Anwandlungen einer im Saft emporsteigenden Männlichkeit, das war der selige Traum gewesen, den ausgeträumt zu haben unwiederbringlichen Verlust bedeutet...

Ich habe nie begriffen, daß einen Gehässigkeit erfüllen könnte gegen die Schulzeit. Auch ich bin wohl zu Zeiten ungeduldig gewesen, aus den Schranken zu treten, die sie um den Heranwachsenden feststellt, ich habe auch, von schlechtem Beispiel angestachelt, zuweilen diese Schranken vorwitzig und heimlich überklettert, mich in übler Luft mit schlechtem Gewissen umgetrieben, aber stets bin ich, ins Gewahrsam zurückgekehrt, dem holden Einerlei seiner Vielfalt mit rasch und neu erstarkender Neigung als ein von Grund aus Dazugehöriger mit Leib und Seele wieder anheimgefallen und habe der tief hinab und hoch hinauf ins Unbewußte und ins Erahnte sich erstreckenden Enge auch jenseits ihrer mir nun auf immer verwehrten Grenzen die Treue bewahrt. Was ich in dem grauen Hause mit den ehrwürdigen Medaillonbildnissen der großen Männer des Altertums längs den Mauern in den acht Jahren von 1884 bis 1892 erlebt habe, ist, so will es ein freundlicher Schöpfer nicht nur, sondern ein dankbar Ueber-kommenes hütender Erbe, mein Gedächtnis, schön gewesen und gut, es hat mir Zufriedenheit gewährt, Glück bereitet, Segen gespendet und Heil gebracht.

In unbegreiflicher Verblendung, wenn nicht gar aus Haß und Mißgunst gegen das von ihnen selbst Wsäumte, eine auch den stumpfsten ihrer Teilnehmer auszeichnende edlere, weil nicht unmittelbar in die Scheidemünze des alltäglichen Bedarfs umzusetzende Lehre, eine Lehre, die ihrem Wesen nach adelnde Gewöhnung bedeutet an das Ungewöhnliche, das Kostbare, haben in unseren verwirrten Zeiten, die alles Niedrige emporwühlen, zufällige und unzuständige Machthaber dem Gymnasium, einer seit Urväter Gedenken erprobten und an unzähligen Generationen bewährten Schulgestalt, aus einem an leicht entzündlichen Schlagworten überhitzten Reformeifer grob versehrend an das ebenmäßige Gefüge seines fast organisch herangediehenen Körpers gegriffen; man hat die gnadenvolle Eigenschaft der lernbegierigen Jugend, leicht zu fassen und fest zu halten, in falsch verstandener Schonung zarter Keimfähigkeit geradezu ins Gegenteil mißdeutet und frevelnd an ihrer wunderbaren frischen Kraft sie um deren beste, die neugierig spielende Betätigung betrogen, in schroffem Gegensatz zu besser belehrten und besonnenen Epochen dem Kinde abgesprochen und versagt die unbewußte Aufnahme der wahrhaftigen Bestimmung des Menschen: über sich hinaus hinauf zu gelangen ins Zwecklos-Sinnvolle, in das Reich der Freiheit. Das Gymnasium soll fürderhin angebliche Schwäche schonen, ihr überflüssigerweise Anstrengendes möglichst lange vorenthalten, den Zögling nur als einen Gegenstand der Bildung unter andern zögernd hinanführen an die Studien, die es seinem Sinne nach ausmacht; die der alten, oder wie man sie zu nennen beliebt,der toten Sprachen. Welch ein fanatischer Irrtum! Die alten Sprachen, Latein und Griechisch, sind nicht Lehrgegenstände der Enzyklopädie, die man vergißt, um sie bei Bedarf nachzuschlagen, sondern Lebensmittel, Wegzehrung, Balsam, Elixier, d. h. sie helfen dem, in den sie eingegangen sind, den sie durchdrungen haben, zu sich selbst, sie errichten, erbauen, gestalten ihn, verleihen ihm das, wonach der in diesem armseligen Leben immer wieder schwankende, versagende und verzagende Mensch als nach dem Unentbehrlichen, ihn Erhaltenden begehrend greift: Form, ohne die er-verkrüppelt, zerfällt, verkrümelt. Nicht ihr „Inhalt“ ist es, was ihm not tut. Ihr Inhalt ist eine hochgediehene Kultur, vielleicht die höchstgediehene, die dem Menschen erreichbar ist- Aber die kann er nur als eine Wissenschaft, die Altertumswissenschaft, erfahren, nicht lebendig im Lebendigen wiederholen. Und er kann sie im übrigen, mehr schlecht als recht zwar, immerhin aber auch außerhalb ihres Quellgebietes selbst, auf dem Umweg von Handbüchern und Uebersetzun-gen kennenlernen, ganz abgesehen davon, daß er, auch wenn ihm nichts davon bewußt wäre, unentrinnbar in der aus ihren Gräbern, Ruinen und Monumenten aufsteigenden, in seinem Staat, seiner Rechtsordnung, seiner Philosophie, seiner Kunst webenden Luft, der Luft abendländischer Gesittung, atmet. Das, was sie, diese toten Sprachen in ihrem unsterblichen Leben ihm selbst an Leben, sein persönliches Leben stetig förderndem Lebendigen zu spenden unerschöpflich sind, das ist der Geist, der Wort geworden ist, der Geist, der sich in seinem Denkmal, aere perennius, bestätigt als das Gesetz der wahrhaftigen Freiheit, der des gottbegnadeten Schaffens. Gewiß, das Kind, das in die Wunderhallen dieser Sprachen eingeführt wird, ahnt noch nicht, wo es sich befindet, was sich ihm, undurchdringlich zunächst, als etwas tiefgefestigt und hochaufragend es Umringendes in Gelassenheit darstellt, aber seine unbefangenen Schritte, die in diesen wölbigen Gängen gastlich widerhallen dürfen, lernen sich mit zunehmender Sicherheit ergehen in einer mit sanfter Macht herrschenden Welt großartigen Maßes, die ihm, eben weil ihr nur als Bild der Erinnerung vor ihm ausgebreiteter Reichtum nichts mehr zu tun hat mit den erniedrigenden und verstörenden Zwecken der alltäglichen Wiederkehr, zur zweiten seligen Heimat zu werden wie geneigt so geeignet ist nach jener ersten eines ebenso zwecklosen reinen Daseins im verweilenden schönen Augenblick, die es, verstoßen, zu verlassen sich anschickt. Die Sprache, als jenes Schaffens vollendete Bildung, als der auskristallisierte Geist selbst sogar die unübertroffenen körperlichen Gebilde der griechischen Künstler überragend, das ist die mit nichts zu vergleichende Erbschaft, die uns die Kultur der Antike hinterlassen hat. Glücklich, wer auch nur eines Hauches dieses hoch über aller Erdennot hangenden, frei aus sich selbst schwebenden Gartens der Hoheit und der Anmut hat teilhaftig werden dürfen, wo noch immer die seligen Götter wandeln.

Alle Gymnasien, soweit sie durch die rohe Gewalt banausischer Gegner noch nicht um ihr Ziel, das ihr Grund ist, gebracht worden sind, pflegen die erlauchte Aufgabe, durch das Mittel der alten Sprachen den werdenden Geist im Sinne dieser Sprachen zur sich selbst genügenden Gestalt zu formen. Aber abgesehen von der in unserem irregeleiteten Nachwuchs vielleicht nicht mehr so triebkräftig, wie noch vor zwei Lebensaltern ihm entgegenneigenden Empfänglichkeit liegt es an der Gilde der Lehrer und ihrer inneren Tauglichkeit, daß jene Aufgabe wenigstens das Ideal bleibe, zu dem die Schulgemeinde aufblicke in wetteiferndem Bestreben. Ich will nicht, was sich mir da und dort verstimmend aufdrängt, vergleichen mit dem, was ich noch habe erleben und genießend erwerben dürfen; ich will in einer Stunde der Weihe nur feststellen als beglückende Tatsache eigener fruchtbarer Erfahrung, was dieser unserer alten humanistischen Anstalt zur Ehre gereicht: Das Erste Deutsche Gymnasium in Brünn hat noch nach Jahrhunderten seines Bestandes, in dem Zeitraum, da ich ihm als Schüler angehörte, dem Ideal hingebungsvoll gehuldigt, das seine wohlberatenen Gründer seinem Trachten zur freiwillig übernommenen Pflicht Berufener bestimmt hatten: es war eine von einem in seiner Gesamtheit als vortrefflich zu bezeichnenden Verein eifriger, begabter, gütiger Lehrer im hehren Dienst am Geist getreu erhaltene Schule. Ich segne jede Stunde, die ich darin zugebracht habe. Möge der Segen des Dichters, der den Geist seines Gedichts gern der Stätte dankt, die ihn mit unsterblicher Speise genährt hat, als freundliches Wölkchen schweben über ihrem geliebten Bezirk!

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