Christentum und Kultur auf der Suche nach verlorenem Einklang
Kultur ist ein menschliches Phäno- men, es iibergreift als solches rein räumlich die Ausbreitung des 1 Christentums. Kultur war vor dem Christentum und ist auch außerhalb des Christentums.
Für mich beginnt Kultur in der fer- nen Vergangenheit der Menschheit. Kultur umfaßt den Umgang des Men- schen mit seiner Umwelt, denUmgang mit seinen Mitmenschen, den U mgang ‘ mit sich selbst - doch jeweils und in al- ‘ len Fallen im Hinblick auf einen Wert.
Der Umgang mit der Umwelt
Der Bauer, der sein Feld bebaut, um ] seine Familie žu ernähren, kultiviert - . die Erde. Er wird sich veranlaßt sehen, i so zu verfahren, daß er auch noch im ; nächsten und übernächsten Jahr seine Familie von diesem Stück Land er- : nähren kann. Der Wert ist ein mög- ] lichst dauerhafter. Der Umgang mit : der Umwelt als kulturelles Tun ist also ; etwas anderes als Raubbau oder nick- : sichtslose Vermarktung. Aus einer ; Unsumme solcher Bemühungen ent- : steht dann die Kulturlandschaft. Sie ist nicht nur Nutzungslandschaft. Sie stellt auch das Wertsystem dar, das ] dem Vorgang der Kultivierung zu , Grunde liegt.
Kultur ist Umgang des Menschen mit dem Menschen, wieder im Hin- blick auf einen Wert. Das gilt fiir den : Umgang zwischen einzelnen und fiir i den Umgang von Gruppen miteinan- : der, ganz gleich, ob er eher ritualisiert oder spontan ist. Das richtungslose i Durcheinanderwirbeln menschlicher Monaden in Großstädten wird sich kaum als kulturelles Ereignis erfassen , lassen. Schon eher, wenn diese Masse i zielgerecht zu einer Arena strebt, um , sich dort irgendwelche Leistungen vorfiihren zu lassen. Noch starker, wenn sich die Masse vor einem Heilig- tum sammelt, um dort an Zeremonien teilzunehmen.
Der Segen urbi et orbi sammelt die gesammte katholische Menschheit - wenigstens fiir einen Augenblick - in einem aufs höchste präzisierten Wertsystem. Auch die kleine Gruppe ist kulturell aktiv, wenn sich die Dynamik ihrer Struktur im Wirkfeld eines Wer- tes bewegt, die Familie, die Schule, der Verein, die Standesvertretung, die Be- rufsorganisation, schließlich auch der Staat.
Die letzte Einheit unseres gesell- schaftlichen Lebens ist und wird im- mer das Individuum sein. Immer wird der einzelne auf seinen beiden Beinen stehen, immer wird er seine Geburt, seinen Tod, seine Lust, seinen Schmerz, seine Identität haben; er wird seinem eigenen Kontinuum nie entkommen können. Er wird also in- nerhalb des Kosmos und innerhalb des Organon der Gesellschaft seinen eigenen Kosmos bilden.
Was heißt Wert?
„Wert” - das ist tine Šache, von der man uns seit einigen Jahren weis- macht, daß sie muffig rieche, nach Konservativem, Bourgeoisem, ja, so- gar nach Faschismus. Man zeigt uns den Mißbrauch vor, den man mit dem Begriffe „Wert” getrieben hat.
Zweifellos, man hat den Begriff „Wert” vielfach mißbraucht. Nicht je- der, der den Begriff „Wert” - oder gar ewige Werte - im Munde führt, wird uns sympathisch. Aber auch diejeni- gen, die die Vokabel „Wert” ausge- spieen haben, operieren mit der Šache nach wie vor, fyeilich unter anderem Namen. Keine Diskussion kann abge- fuhrt, und kein System kann in Gang gehalten werden, ohne daß Werte ins Spiel kommen. Alles, was der Mensch beriihrt, ordnet sich ihm in gut und schlecht, besser und schlechter.
Der Mensch ist das Wesen, das wäh- len muß. Seine Entwicklung hat ihn in den Stand gesetzt, zu jeder ihm gestell- ten Situation Alternativen zu setžen. Der Fächer seiner Möglichkeiten hat sich-verglichen mit jenen des Tieres- ungeheuer verbreitert. Das ist die Chance. Aber es ist zugleich Gefahr. Die Erfahrung lehrte den Menschen, daß der Fächer seiner Möglichkeiten mit Vorteil nicht gleichmäßig in alien Richtungen zu nutzen. sei. Bestimmte Richtungen bieten sich als oppor- tuner, als praktikabler, als verläßli- cher, als werthaltiger dar, und im Laufe einer jahrtausendealten Entwicklung deshalb als Wert.
Das klingt sehr materialistisch, sehr statisch, sehr banal - und es wäre es auch, wenn sich der Mensch nicht immer weitere Horizonte der Erfahrung und damit auch einen immer weiter sich breitenden Fächer der Wählbarkeiten geschaffen hätte. Und weil sich schließlich ein unabweisbares Gefühl einstellte für den inneren Zusammenhang aller Werte, gelangte man zur Annahme göttlicher Kräfte, göttlicher Gesetze, zur Annahme des Numino- sen. Des Religiösen.
Der tagtäglich, immer wieder zu Entscheidungen aufgerufene Mensch hätte dieses Leben immerwährender Entscheidungen nicht führen, auf die Dauer nicht ertragen können, wäre es ihm gelungen, einen Grundwert anzusetzen. Auf ihn ordnet er alle seine Entscheidungen zu - oder gab doch vor, es zu tun. Er ritualisierte sein Dasein im Hinblick auf Gott. So unvollkommen das gelang: im Prinzip war die Sinnfrage beantwortet.
Wenn wir annehmen, daß Kultur ganz im Allgemeinen Verwirklichung von Werten und Angebot von Sublimation ist, so müssen wir feststellen, daß unsere Kultur sehr lange - vielleicht sogar bis in die jüngste Zeit - ein Versuch war, die Wertwelt des Christentums zu verwirklichen. Die Wertigkeiten innerhalb unserer Kultur waren vom Christentum bestimmt oder doch mitbestimmt. Und wir selbst haben uns ja sehr lange als das „christliche Abendland” definitiert
Die Wertwelt des Christentums
Das Christentum ist ein Derviat der jüdischen Religion, eines rabiaten Monotheismus. Schon in seiner Frühzeit mit griechischem Gedankengut amalgamiert, wird es zur Lehre vom Dreieinigen Gott. Aber Kult und Lehre konzentrieren sich auf den Gott-Menschen Jesus Christus. Groß wird das Christentum in einer intensiv durchkultivierten Zone, in der römisch-hellenistischen Antike. Dann folgt einer der fürchterlichsten Zusammenbrüche der Weltgeschichte: Völkerwanderung, Ende des Imperiums, katastrophale Barbarisierung. Eine Grunderfahrung, die nicht gerade geeignet war, Vertrauen in die Beständigkeit menschlicher Einrichtungen und menschlicher Errungenschaften zu begründen.
Dann wird das Christentum selbst zum Vehikel kultureller Erholung. Ich erinnere an die Funktion der Klöster, der Bistümer, der Missionen. Neben den Anrainern des Mittelmeeres, die die ersten Gemeinden gestellt hatten - Juden, Griechen, Italiker, Nordafrikaner- stellen jetzt junge barbarische Völker die Masse der Gläubigen: Iren, Franken, Sachsen, Slawen, Ungarn und deren Fürsten, Könige und Kaiser.
Womit war diesen zu imponieren? Gewiß nicht mit der Bergpredigt und mit der Mahnung, die zweite Backe hinzuhalten. Zu imponieren war ihnen mit dem Christus Pantokrator, der überdimensioniert riesenhaft aus dem Goldrand der Kuppeln und Apsiden auf das Kirchenvolk niedersah und aus dem alten Testament die ungeheuren Bilder der Genesis, die mythischen Dimensionen des zürnenden und rächenden Gottes, die Geschichte der Patriarchen, der Könige und Helden.
Das war die Botschaft, die die brodelnde Chaotik der eben erst christlich gewordenen Völker gerade noch zu durchackem vermochte. Daß dann trotzdem dahinter auch die LiebesBot- schaft verkündigt, auch die Feindesliebe in Betracht gezogen wurde, das war das Großartige an dieser Lehre, die nicht danach schielte, ob ihre Forderungen durch die gesellschaftliche Wirklichkeit gedeckt seien, sondern unbeugsam festhielt an ihnen, und lieber die Sündhaftigkeit ihrer höchsten Würdenträger in Kauf nahm, als durch Abbau ihrer kühnsten Zielpunkte ein beruhigtes Gewissen zu erschleichen.
Das Christentum etablierte sich im Abendland mitsamt Spannungen und Widersprüchen. Da hieß es auf der einen Seite: Macht euch die Erde untertan — auf der anderen: Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und er litte Schaden an seiner Seele? Auf der einen Seite: Ich bin gekommen, um das Gesetz zu erfüllen- auf der anderen Seite: Reißet den Tempel nieder. Auf der einen Seite: Meinen Frieden gebe ich euch, auf der anderen: Ich bin gekommen, das Schwert zu bringen und das Feuer…
Diese Spannungen und Widersprüche mußten erst einmal ausgehalten werden. Sie stellten zwar Lebenskraft dar. Sie brachten dem Bau auch Sprünge bei - und in diese Sprünge sickerte das Schmelzwasser eines neuen Frühlings. Der Mensch entdeckte sich und seine Vernunft und seinen Anspruch auf Freiheit. Der Mensch entdeckte aber zugleich auch die Natur. Die Welt wurde ihm Objekt seiner Kenntnisse, dann auch seiner Macht. Als Subjekt ließ er nur noch sich selbst gelten.
Das Wertsystem des Christentums wurde unterhöhlt. Von drei Seiten erfolgte die Unterminierung: Im gesellschaftskritischen, im kirchenkritischen Bereich bemängelte man, daß die reine Lehre gerade von ihren designierten Dienern mit Füßen getreten werde. Man verlangte christliche Praxis und erklärte, da sich diese bestenfalls punktuell konstatieren ließ, die ganze Lehre für unglaubwürdig. Unzählige Fälle des Abfalls vom Glauben sind auf persönliche Enttäuschungen zurückzuführen.
Eine weitere Mine gegen das Wertsystem des Christentums wurde durch die Naturwissenschaft vorgetrieben. Gottes Existenz, so hieß es, sei unbeweisbar und ein Fachproblem allein der Phüosophie. Aber zugleich wurden viele Aussagen gemacht, die sich indirekt auf Gott und das Gottesbild übertragen müßten. Die Entdeckung ungeheurer Räume und zuvor undenkbarer Zeitspannen ermutigten die Phantasie des Menschen, wenn sie sich das über einen Gott ausdenken sollte, einen Vater, Schöpfer, Büdner … ein Du, das man ansprechen sollte.
Die Selbstentdeckung der Vernunft
Ein dritter, schwerer Angriff gegen das Wertsystem des Christentums ereignete sich aus dem Innenraum des Menschen, aus der Selbstentdeckung der Vernunft. Zwar hatte das Christentum durchaus Vernunft und Freiheit zugebilligt, den Menschen ja geradezu im Hinblick auf Vernunft und Freiheit sogar als Ebenbüd Gottes bezeichnet -, doch wendet sich jetzt die Vernunft auf sich selbst zurück und erklärt sich selbst zum einzigen Maßstab.
Die Außenwelt zwingt sie in das Labor. Nicht mehr Deutung, sondern Analyse ist das Ziel. Hat die Natur ihre Geheimnisse preisgegeben, ist sie in Bausteine zu verwandeln, aus denen sich eine neue Welt zusammensetzen läßt. Gott ist aus der Welt hinausgetrieben. Er ist „tot”. An seiner Stelle setzt die Vernunft eine neue Natur, die Zivilisation - ja, auch einen neuen Menschen.
Doch gerade in diesem Punkt tritt etwas Überraschendes ein. Die Mineure, die den alten Bau des Christentums unterwühlt haben, treffen sich gleichsam im Zentrum und könnten nun ihre Minen endgültig zur Sprengung legen. Aber da ist ein Hindernis, die Frage nach dem Wert, nach der zentralen Motivation dessen, was weiter passieren soll. Wir bauen eine neue Welt? Für wen? Wir reißen eine alte nieder? Zu wessen Heil? Für den Menschen?
Was ist der Mensch?
Wer oder was ist dieser Mensch? Was sagt die Wissenschaft vom Menschen, die Anthropologie? In ihren Anfängen - bei Kant - präsentiert diese Wissenschaft ein äußerst attraktives Menschenbild: Den Menschen als Subjekt reiner und praktischer Vernunft, Herr seiner selbst, zur Mündigkeit geboren und dem hohen moralischen Anspruch des kategorischen Imperativs prinzipiell gewachsen.
Aber zur gleichen Zeit ging des Menschen Geist und Einsicht schon ganz andere Wege. 1831 sticht Darwin auf der „Beagle” in See. Die Ergebnisse seiner Reise kristallisieren im „Darwinismus”. Der Mensch stammt von tierischen Formen ab: Mit dem holden Traum seiner wesenhaften Überlegenheit über die unbewußte Natur ist es aus.
Marx rollt das Problem des Menschen von seiner ökonomisch-organisatorischen Seite auf. Der Mensch ist der Effekt seiner Produktionsweisen, von diesen bestimmt und gesteuert Zwar soll die Zukunft Besserung bringen, doch schon ist das Mißtrauen des homo sapiens gegen sich selbst erwacht: Nietzsche spricht von ihm bereits als dem „unbekannten Tier” und taucht ihn damit in eine Aura von Unheimlichkeit und Bedrohlichkeit.
Der Eigenwert des Menschen ist ins Rutschen geraten. Die Psychoanalyse nimmt nicht mehr die menschliche Gattung, sie nimmt das Einzelindividuum aufs Korn. Freud entdeckt den Mechanismus der Triebe, die Omnipo- tenz des Unterbewußten.
Die Informationen, die der Mensch über sich selbst erlangt, vermehren sich in geometrischer Reihe. Die Biochemie dringt in die feinsten Strukturen des menschlichen Körpers ein und entdeckt ihn, den Träger der Persönlichkeit, als molekular determiniert. Das Geheimnis der Person, die Einmaligkeit des Ich, die eigene Identität - kurz das letzte Bollwerk des eigenen Wertbewußseins - kapituliert vor der ernüchternden Erkenntnis, daß auch der erkennende Kern und die aller Erkenntnis zu Grunde liegende Vernunft offenbar nichts weiter sind, als eine bestimmte Reaktion bestimmter Gehirnzellen unter bestimmten Umständen.
Die Entzauberung des Menschen ist perfekt. Jeemüchtemderdie Vernunft ihre eigene Lage sah, desto rascher arbeiteten die Traumfabriken der Utopisten aus allen Lagern. Alles wurde verheißen: jeder Tabubruch, jede Freiheit, jede Beglückung in Aussicht gestellt, während es sich als immer schwieriger herausstellte, alle diese Träume, Freiheiten und Beglückungen in eine Wertordnung zu bringen.
Zwar boten sich da auch verschiedene Schnittmuster an, Nationalismus, Leistung und Gelderwerb, Progressismus und grenzenloser Fortschrittglaube, Sozialismus und Kommunismus: Zu deutlich liegt die Unfreiheit über den Ländern, in denen Sozialismus und Kommunismus herrschen.
In die Hohlform dieser Ernüchterungen, Enttäuschungen, Niederlagen dringt tropfenweise, aber unablässig und von allen Seiten ein Stoff ein, Sik- kerwasser aus den unterirdischen Reservoiren verschütteter Wertsysteme. Der Vorgang ist eindeutig. Etwas Chaotisches und Anarchisches geht mit ihm einher. Aber haben wir nicht im Christentum selbst so viel Widersprüchliches entdeckt?
Die Kinder der neuen Ethik
Die Herrschaft der ratio hat sich vielfach als Scheinherrschaft erwiesen. Gerade die stärksten Schübe in Richtung ratio wurden von irrationalen Motiven gefördert. Der militante Materialismus sozialer Utopien entlarvte sich vielfach als verhüllte Theodizee, weil man in den angeblich mit Notwendigkeit vorgezeilhneten Wertablauf so starke Elemente der Finalität projizierte, daß diese Utopien in die allernächste Nähe religiöser Visionen gerieten.
Die Kinder der neuen Ethik, die wir oft an völlig unvermuteten Orten antreffen, haben sich mit geradezu evangelischem Ernst dazu entschlossen, den Armen und Kranken, den Mühseligen und Beladenen zu folgen und das verlorene Schaf auch in den dornigsten Winkeln des Abgrundes aufzusuchen. Wer möchte übersehen, daß es heute ganz offiziell für moralisch gilt, Aggressionen abzubauen, auch eigene Nachteüe in Kauf zu nehmen oder wenigstens in Betracht zu ziehen, ganz anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, als man sich das menschliche Leitbüd als völlig unbeugsam und von wütender Tapferkeit vorstellte?
Gott ist unvorstellbar
Es ist sinnlos, den ethischen Kodex des Evangeliums ernst zu nehmen, ohne sich zugleich auch - und mit vollem Emst - dem substantiellen Weltentwurf des Christentums zu stellen.
Daß uns Gott unvorstellbar ist, irritiert uns an ihm, wobei wir uns längst daran gewöhnt haben sollten, daß uns Realitäten wie Kosmos und Atom ebenfalls unvorstellbar sind. Randwissenschaften wie die Parapsychologie tasten die Mauern ab, in die wir uns selbst eingeschlossen haben. Völlig hüflos stehen wir vor dem Grundphänomen unseres Lebens: Der einzigen Sicherheit, die auf uns wartet, vor dem Tod. Hier wird die Sinnfrage virulent Hier öffnet sich der Absturz ins Nichts.
Wir werden immer die Frage stellen: Wozu sind wir geboren? Vielleicht gelangen wir zu der Antwort: Wir sind geboren, die Fülle des Seins zu erkennen, zu lieben, ihr nach Maßgabe unserer Natur zu dienen und mit ihr zu verschmelzen: in Ehrfurcht, in Einklang.
(Auszug aus einem Referat vor dem ÖC-Bil- dungssymposion im Bildungshaus St. Gabriel bei Mödling am 15. Jänner)