Endgültig scheint die Zeit vorbei zu sein, die den Schöpfungsbericht von Mensch und Welt, wie ihn der gläubige Mensch aus der Bibel kennt, abtun zu können glaubte. Der scheinbar unüberbrückbare Gegensatz zwischen geoffenbarten Wahrheiten und experimentell verifizierten Ergebnissen dreier Forschungsjahrhunderte der Naturwissenschaften verringert sich zusehends. Gerade die Erkenntnisse der modernen theoretischen Physik und Kernphysik sowie die Erkenntnisse der theoretischen Biologie zeigen, daß innerhalb der Naturwissenschaften ein Lehrgebäude errichtet wird, dessen Strebepfeiler und Spannbögen sich in auffallender Weise zu den uralten Bögen christlicher Lehrmeinung auf dem Grunde geoffenbarter Wahrheiten hinneigen.
Die diesjährigen Salzburger Hochschulwochen zeigten schon in ihrem Vorlesungsprogramm dieses Ziel an. War die erste Woche dem Geheimnis der Welt- und Menschenschöpfung gewidmet, so befaßte sich das Programm der nächsten mit dem brennenden Anliegen aller Philosophie und Theologie, mit der Lehre vom Menschenbild.
Es ist für die Tendenz der Salzburger Vorlesungen bezeichnend, daß in beiden Wochen inmitten der strengen Dogmatik und Exegese die theoretischen Naturwissenschaften, wie Physik und Biologie, eine zentrale Stellung. einnähmen, um so gleichsam als irdische Kronzeugen der überirdischen Wahrheiten zu fungieren.
Die jüngsten Ergebnisse der theoretischen Physik für die philosophische Schöpfungslehre entwickelte Professor Dr. P. Zeno Bucher O. S. B, aus St. Ottilien. An zwei Grundgesetzen illustrierte der Vortragende den immer sinnfälliger werdenden Zusammenhang zwischen Schöpfer und Welt: am Trägheitsgesetz, nach welchem kein Körper aus sich selbst seinen Bewegungszustand ändern kann, und am Entropiegesetz, das besagt, daß die Summe der nicht mehr wirkfähigen Energie in einem abgeschlossenen System einem Maximum zustrebt. Wir, die wir heute wissen, daß auch noch das letzte Teilchen der Materie dynamischer Natur ist, können nicht mehr der uralten materia- listisch-eleatischen Auffassung des ewig ruhenden Seins zustimmen. Da aber jede Bewegung ein Phänomen des Übergangs ist, ist es einleuchtend, daß wir es mit einem kontingenten Sein zu tun haben, das nicht durch sich selbst sein kann, sondern einer Wirkursache von außen, mithin eines Schöpfers bedarf. Es gelang Professor Bucher, überzeugend darzutun, daß beide Gesetze auf das ganze Weltall anwendbar sind; sowohl die Bewegung als absolute, mag man sie nun aus der Newtonschen Mechanik oder aus der Einsteinschen Relativitätstheorie herleiten, als auch das En tropiegesetz, das uns die Welt als endlich erweist, haben ihre Gültigkeit sowohl hier auf der Erde wie im Fixsternhimmel, der bis zu fünfhundert Millionen Lichtjahren von uns entfernt ist. Gerade die Kernphysik, die uns die Vorgänge im Innern der Atome enthüllt hat, läßt uns heute weitgehend auf die tatsächliche Entstehung des endlichen Weltalls schließen, ja sogar das Alter der Welt schätzen. Was aber einmal ein Ende haben wird, das muß auch einen Anfang gehabt haben. Die Naturwissenschaft beweist somit heute zwingend, daß die Welt durch einen Schöpfungsakt eines allmächtigen Schöpfers ins Dasein gerufen worden sein muß.
Damit ergibt sich für die Welt wiederum der eine Seinsgrund, den die Dogmatik seit nahezu zwei Jahrtausenden im kirchlichen Lehrgebäude verteidigt. Professor Dr. P. Hugo L a n g O. S. B aus München stellte in eindringlicher Klarheit fest, daß wir aber trotz aller Philosophie und theoretischer Bemühung um das Schöpfungsgeheimnis die wahre Realität erst im Akte des Glaubens erfassen können, ja daß selbst alle gelehrte Spekulation der Dogmatik sich den tiefsten Geheimnissen mit rationalen Mitteln nur asymptotisch nähern könne.
Die Welt- und Menschenerschaffung im Licht der Bibel war wieder das Thema des Grazer Exegeten und Orientalisten Professor Dr . Franz Sauer. Wir wissen heute, daß der Schöpfungsbericht der Bibel nicht der älteste ist, daß ihm schon der Mythus der babylonischen Weltschöpfung vorausgegangen ist. Professor Sauer betonte besonders, daß uns die Bibel im Kleide ihrer Zeit und geschrieben für die Menschen ihrer Zeit die ewigen Wahrheiten von der Erschaffung der Welt und der ungeteilten Menschheit aus dem Nichts offenbart. Was sie uns berichtet, darf, soweit es sich um die Vorstellung des Kosmos und die zeitliche Reihenfolge der Schöpfungsvorgänge handelt, nicht wörtlich genommen werden. Gott hat die Welt bestimmt nicht in sechs Tagen erschaffen und die Bibelkommission zu Rom empfiehlt heute, allein für die Entwicklung des Menschengeschlechtes von seinem ersten Auftreten im Diluvium einen Zeitraum von achthunderttausend Jahren anzusetzen.
Was uns so die Offenbarungen de Alten Testaments, die Lehren der Dogmatik verkünden, da postuliert heute die exakte Naturwissenschaft, nämlich die Schöpfung von Welt und Mensch in’gläubiger Sicht.
Wohl keine Zeit hat den Menschen so aus den Augen verloren wie die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist daher nur zu verständlich, daß im Zuge der all-gemeinen Selbstbesinnung auch das Menschenbild wieder in den zentralen Bereich aller ernsthaften Forschung tritt. Wieder ist es vor allem die Naturwissenschaft, und darüber hinaus die Naturphilosophie, die sich um die Neukonstitution des Menschen bemüht und so dfen heilig gehüteten Erkenntnissen der Theologie in die Hände arbeitet. Daß das mechanistisch-determinitische, nach strenger Kausalität aufgebautc Entwicklungsschema, das die Naturwissenschaften auch zur Erklärung des Lebendigen bereithielten, heute endgültig gefallen ist, ist wohl bereits eine allgemeine Erkenntnis geworden. Auch Dozent Dr. Rainer S c h u- bert-Soldern, der in der zweiten Woche das „Menschenbild der Biologie“ zu zeichnen hatte, ging vorerst von der phänomenologischen Bestimmung des Wesens des Lebendigen aus und bestimmte vor allem das Wesen des Belebten als einen von außen hinzutretenden, der Materie transzendenten Faktor. Auf Grund der modernsten Erkenntnisse des Neo-Vitalismus und der Umweltsforschung ergibt sich dabei die für alle Naturphilosophie grundlegende Erkenntnis, daß das Tier — eingebettet in eine Umwelt — ist, wie es sein muß, während der Mensch sein kann, wie er will. Ist im menschlichen Organismus der die Ganzheit gestaltende Ordo doch nicht den physikalischen Zufällen unterworfen, sondern eine transzendente Selbstdienlichkeitsordnung. Zur Ganzheit treten beim Menschen noch die Individualität und die Persönlichkeit. Es gehört zu den schwerwiegendsten Erkenntnissen der modernen Biologie, daß es keinen allgemeinen Lebensordo gibt, sondern daß vielmehr jedes Individuum sein eigenes Leben lebt.
Im Lichte der modernen theoretischen Biologie gewinnt nun auch der gesamte Komplex der Abstammungslehren, wie er sich im Lamarckismus, Darwinismus und der Mutationenlehre von De Vries darstellt, ein völlig neues Gesicht. Der ganze Evolutionismus hat aber in all seinen Theorien mit besonderen logischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Gerade die neuesten Erkenntnisse aus der Mutationenlehre und der Umweltsforschung beweisen uns, daß es in der Entwicklung des Lebendigen keine strenge Kontinuität der fließenden Übergänge (Darwin und der Neo-Lamarckismus) gibt, sondern daß die Natur tatsächlich „Sprünge macht“, die eine Entwicklung vom „Einzeller bis zum Hofrat“ unwahrscheinlich machen, wenn wir auch die Urzelle als letzte Lebensgrundlage ansehen müssen. Wäre dieses Kontinuum tatsächlich vorhanden, dann müßten in der Urzellc schon alle Potenzen für alle nur möglichen Entwicklungsarten in den Jahrmillionen schon vorgebildet sein. Dies zu glauben, dürfte weitaus schwerer sein, als dem Schöpfungsbericht zu glauben, was das stolze 19. Jahrhundert so hochmütig ablehnte. Daß es einen Entwicklungsgedanken gibt, der fruchtbar werden, kann, das hat schon die Antike von Anaximander bis Augustinus gewußt. Diese Entwicklung kann sich aber nur innerhalb einer bestimmten Variationsbreite der Arten und auch da nur gelenkt vollziehen. Daß dann spontan etwas völlig Neues entsteht, beweist nur wiederum das Wirken eines allmächtigen Schöpfers. An dieser göttlichen Schöpferkraft hat auch der Mensch Anteil, da er kein Organismus i s t, sondern einen Organismus hat, über den er kraft seiner Geistseele verfügen kann, kraft seiner Persönlichkeit, die wohl nicht über das So- Sein, wohl aber über das Dasein frei bestimmen kann.
Auf diesen natui-wissenschaftlichen Grundlagen baute auch Professor Doktor Ulrich Schöndorfer seine Vorlesung über das „philosophische Menschenbild“ auf, indem er auf realistischer Grundlage der Naturphilosophie eines Aloys Wenzel zuerst das biologische Bild des Menschen zeichnete, um sich dann der obersten Schichte de menschlichen Wesens, dem Reich der Geist-Seele und seiner Gesetzlichkeit zuzuwenden. In seiner Metaphysik des Menschen zeigte Schöndorfer diesen als Imago Dei, als Mikrokosmos und als das in seiner Freiheit vor die Entscheidung gestellte Wesen, vor die Entscheidung zwischen der Verhärtung in sich oder für Gott und alles, was mit Gott verbunden ist.
Um diese freie Entscheidung zwischen Gott und Mensch geht es letztlich auch der modernen Exis t en zph ilo- sophie, deren Menschenbild Dozent DDr. Leo Gabriel seinen Hörern schilderte. Wer heute lebendig philosophieren will, muß durch den Existentialismus hindurchgegangen sein. Seine Dialektik stellt einen Kontrapunkt zur Idealismus- Materialismus-Dialektik des 19. Jahrhunderts dar und bewegt sich im „Entweder- Oder" zwischen Mensch und Gott. Sie zeigt uns wiederum das brennende Problem des Seins und beweist uns die Ausweglosigkeit alles dialektischen Denkens, das im Grunds immer eindimensional ist und von einer Seite auf die andere springt, ohne die Lösung zu finden. Ob Kierkegaard Gott sagt und den Menschen auflöst oder ob Nietzsche das natürliche Ich bejaht und deshalb Gott tötet, im Grunde bleiben Gott und Mensch immer auf der gleichen Ebene. Auf jener Ebene, die die französischen Existentialisten (Sartre, Camus, Bataille) um der Freiheit willen Gott negieren heißt. Gott aber liegt nicht auf der gleichen dialektischen Ebene. Wir müssen, um mit Gabriel zu reden, die Horizontale durchbrechen und die Vertikale erkennen lernen, wir müssen „gotisch" denken und Gott als die höhere umgreifende Ganzheit erkennen lernen, von der allein wir unsere Freiheit haben. Wir mässen integral denken und wissen, daß die Schöpfung niemals eine Causatio, sondern immer eine Creatio ist, daß Gott niemals kausal auf die Menschen und Dinge wirkt, ebensowenig wie wir kausal auf die Dinge wirken können. Durch die von Gott verliehene Freiheit hat sich nicht nur Gott in unsere Hände gegeben, er hat uns auch zur Mitwirkung an seinem Schöpfungswerk berufen, daß wir Vollender der Welt werden, jener kreatürlichen Welt, die nach dem Worte des Apostel Paulus, „nach der Erlösung seufzt“.
Der christliche Existentialismus wird nun beweisen müssen, daß der Mensch mit Gott existieren kann, denn die beiden Existentialismen, die wir heute kennen, stellen den Menschen vor die Alternative de ewigen Einsamseins zwischen den Abgründen des Nichts, wie es Heidegger,
Sartre und die atheistischen Existentialisten Frankreichs tun, indem sie die Verbindung mit Gott abschneiden, oder des völligen Auflösens der Persönlichkeit in Gott, wie es Kierkegaard getan hat und wozu auch Jaspers neigt.
Alle Existenzphilosophen haben erkannt, daß wir heute zur Entscheidung aufgerufen sind, daß es wirklich um unsere Freiheit geht. Gott hat uns wieder einmal in die Heimatlosigkeit des ewigen Suchens verwiesen. Er hat uns aufgescheucht aus der Sattheit des Fortschrittglaubens. Wir aber dürfen nun nicht in der tragisch-prOtnethei- schen Gebärde verharren, in der wir die Welt und den Menschen zur totalen Sirii losigkeit machen wie Sartre und Heidegger, sondern wir müssen trotz aller Ruhelosigkeit, die uns befallen hat, an den Daseinssinn glauben, weil alle Sein von Gott kommt. Unsere Aufgabe ist es, nicht nur Christen für uns zu ein, sondern ebenso Christen für die Heimatlosen, die gleich uns in ewiger Unruhe Gott suchen.
Der berühmte Völkerkundler Professor Dr. P. Wilhelm S c h m i d S. V. D, der zu seiner Ehrenpromotion aus Fribourg nach Salzburg gekommen war, dozierte über das „M enschenbild der Urkultu r". Er erzählte von jenen ältesten Menschenresten der Pygmäen, die eine geistige Tradition von mehr als dreißigtausend Jahren hüten. Diese streng monotheistischen Naturvölker, die in heilig gehaltener Einehe Jeben und die Gebote ihres guten Gottes befolgen, scheinen uns „Fortgeschrittene“ wahrlich in den Schatten zu stellen. Denn bei ihnen allein scheint uns jener Zustand verwirk-licht, den. Ovid ahnungsvoll besang: „Sponte sua sine lege fidem rectumque colebant.“
Das neue Menschenbild der Philosophie und theoretischen Anthropologie wird sich wiederum an jenen Urbildern orientieren müssen, die uns die Urgeschichte der Menschheit und die geoffenbarte Wahrheit des Neuen Bundes vor Augen hält. Die menschliche Existenz wird wiederum eine christliche Existenz werden müssen, wenn sie bestehen will vor dem Gericht des existentiellen Augenblicks, vor das uns Gott, der Herr, gerade jetzt zu fordern scheint.