6990226-1986_42_14.jpg
Digital In Arbeit

Gemeinsam gegen das Neu-Heidentum

19451960198020002020

Die jüdischen Wurzeln christlichen Glaubensgutes werden heute deutlicher gesehen, meint der jüdische Religionsphilosoph Pinchas Lapide und knüpft daran Hoffnungen.

19451960198020002020

Die jüdischen Wurzeln christlichen Glaubensgutes werden heute deutlicher gesehen, meint der jüdische Religionsphilosoph Pinchas Lapide und knüpft daran Hoffnungen.

Werbung
Werbung
Werbung

„Warum hat Gott den Atheismus geschaffen?“, so fragt einer seiner Schüler den Rabbi Moshe Leib von Sassow, eine der Leuchten des Chassidismus. Die Antwort des alten Rabbi war: „Auf daß du den Dürftigen nicht verhungern läßt, indem du ihn mit der kommenden Welt vertröstest, oder ihm einredest, er soll auf Gott vertrauen, der ihm beistehen werde, anstatt daß du selber ihm jetzt zu essen gibst. Helfen sollst du, als gäbe es keinen Gott auf dieser ganzen Welt, sondern nur einen, der diesem Manne helfen kann, du selber und kein anderer. Darum hat Gott den Atheismus geschaffen.“ So sagte der alte Rabbi.

Viele gläubige Juden und Christen wollen den Säkularismus in all seinen Spielarten in Bausch und Bogen verdammen.

Wogegen ich heute öffentlich meinen Dank anmelden will, den ich den Herren Ludwig Feuerbach, Sigmund Freud und Karl Marx schulde. Denn sie haben uns mit ihrer Religionskritik gelehrt, weiser zu glauben, indem sie uns zeigten, daß die meisten unserer Gottesbüder viel zu klein und viel zu engstirnig waren, um Gottes Allmacht und seiner Unerforsch-lichkeit gerecht zu werden.

„Gott ist tot!“, so sagte einst Friedrich Nietzsche, ehe er in geistige Umnachtung verfiel. Wenn er damit den alten Großvater-Gott mit dem langen weißen Bart gemeint hat, dann hatte Nietzsche völlig recht.

Ebenso tot ist der ehrwürdige Buchhalter-Gott, der alltäglich die guten und die bösen Taten jedes einzelnen auf seinem Computer verrechnet haben soll. Tot ist ebenso der Lückenbüßer-Gott, der für alles herhalten mußte, was der Mensch nicht selber begreifen oder bewältigen wollte. Der ist gestorben und liegt in derselben Familiengruft mit dem Schlachten-Gott, der immer mit den stärkeren Bataillonen marschiert ist, der in ehrwürdigen Kathedralen die Waffen segnen und Siegesfeiern zelebrieren ließ.

Wenn dem so ist, dann verdanken wir den Religionskritikern eine segensreiche Gesundschrumpfung eines allzu seichten Kinderglaubens, ich würde fast sagen, dieser Atheismus der Büderstür-mer spielt eine heilsgeschichtliche Rolle im Werdegang der Pädagogik Gottes, die uns alle zu einer mündigeren, reiferen Gottesvorstellung erziehen will.

Diese Pädagogik Gottes, soweit sie historisch wahrnehmbar ist, scheint die Kirchen auf den Weg einer Rückhebräisierung ihres Glaubensgutes zu führen. Die hebräische Welle, so nennt sie Jürgen Moltmann in Tübingen, dank der man die bleibende und zukunftsweisende Bedeutung der hebräischen Bibel heute neu entdeckt. Man begreift, so schreibt Moltmann, daß man das Neue Testament nicht ohne das Alte lesen kann, sondern beide zusammen und miteinander erst die Fülle des Lebens und Glaubens erschließen.

Man entdeckt weiter, daß Jesus von Nazareth gar nicht die Trennmauer zwischen Christen und Juden ist, sondern viel eher die Brücke...

Während in unseren Tagen der Nebel des uralten Anti-Judaismus sich sehr langsam auflöst, ist eine tiefgehende neue Einschätzung der jüdischen Wurzeln aller Kirchen im Gange. Man erkennt, daß im Zuge seiner Hellenisie-rung das Christentum nicht nur entjudet, sondern oft auch antiju-daisiert worden ist. Einige kühne Interpreten der Kirchen fordern im Zuge der kirchlichen Erneuerung eine Rejudaisierung, die weder eine simplizistische Vermischung noch eine dogmatische Anpassung erstrebt, sondern eine Rückkehr zu den Quellen, die die alten verschütteten Ursprünge wieder zur Geltung bringen soll...

Der Glaubensschwund in unseren Tagen, so scheint es, hat den Kirchen ein Judenschicksal auferlegt. Zur Zeit, da Israel endlich den Weg nach Hause findet, eine Heimholung prophetischer Fügung nach einer Heimsuchung apokalyptischer Ausmaße, schickt sich die Kirche an, in die Diaspora zu fliehen. Eine weltweite Zerstreuung inmitten einer stetig wachsenden Mehrheit von farblosen, lauwarmen Alltagsmaterialisten, die Gott ins Gesicht gähnen, weil er für sie belanglos geworden ist...

Dem Zeitgeist gemäß ist auch das gläubige Israel zu einem heiligen Rest inmitten des jüdischen Volkes geschrumpft, während die wahre Kirche, nicht alle Kirchensteuer-Zahler noch alle Papiergetauften, sondern die wahre Kirche zu einer „ecclesiola“ reduziert worden ist. Beide, der heilige Rest in Israel, die „ecclesiola in eccle-sia“, sind heute pilgernde Minoritätsgemeinden, die einander das Wort Gottes zurufen, wie einsame Glaubensinseln, an deren Küsten ein Ozean von Apathie, von Gleichgültigkeit und Atheismus brandet und sie zu überfluten droht...

Wenn heutzutage auf Katholikentagen, auf Synoden und Kirchentagungen weniger die Rede ist von Trinität, von Jenseits oder vom Bischofsamt, aber desto mehr von Brot für die Dritte Welt, von der Abrüstung und von mehr Gerechtigkeit für Gastarbeiter, das ist ein weiteres Zeichen der kirchlichen Rückkehr zur jü-disch-jesuanischen Glaubensüberzeugung, daß diese unsere Erde weder heil noch heillos ist, wohl aber heilbar, unter Gott und mit Menschen-Willen, daß es unsere eigene Geschichte ist, in der Gott handelt, und daß der endgültige Sieg der Sache Gottes, den die ganze Bibel ansteuert, die Vollendung dieser Welt und keiner anderen sein wird.

Die alte Frage des Rabbi Jesus nach dem Tun des Menschen in seinem Einstehen für das Heil wird heute wieder laut. In der Christenheit hebt ein Neubeginn an, und wenn nicht alles täuscht, wird Jesu Heilsbotschaft vom Reiche Gottes geerdet, um endlich in ihrer unmittelbaren dringlichen Konkretheit gehört zu werden.

Die heutigen Befreiungstheologien, die politischen, die anthropologischen und die feministischen Theologien, die ihr Schwergewicht immer deutlicher auf den Praxisbezug des Glaubens als Bedingung zum Heil setzen, erinnern lebhaft an die Tatenlehre des Jakobus, des Bruders Jesu, der gut rabbinisch postuliert, daß ein Glaube ohne Werke tot ist...

Seit Immanuel Kant gilt der Grundsatz, daß eine Ethik nur solange taugt, wie sie sich ethisch verhält. Vielleicht sollte das auch für die Religionen gelten. Ein Glaube taugt nur, wo er und wie weit er sich glaubwürdig erweist, indem er seine Gläubigen menschlicher, liebenswerter und gottgefälliger zu machen vermag.

Denn ein Glaube, der nicht angesichts Deines Nächsten geschieht, der keine Werke der Liebe aufzuweisen hat, - für sich alleine ist er nutzlos und tot, wie Jakobus es dreimal betont. Denn ein Glaube, der nicht von Gott kommt, ist ja genauso müßig wie eine Religion, die nicht zum Menschen hingeht: zum Christen, zum Hindu, zum Moslem, aber auch zu allen anderen, die unter Gott verbrüdert sind.

Wenn also das christlich-jüdische Gespräch nicht zu einer Vertiefung der Humanität führt, die keinen ausschließt, aber für alle offen bleibt, so wird es keinen Bestand haben. Denn nicht um eine Eintracht der beiden Religionen allein darf es uns gehen, sondern um das Wohl und den Frieden der Menschheit. Zur größeren Ehre des einen Gottes...

Nicht tolerieren sollten wir einander, noch missionieren und schon gar nicht konvertieren, wohl aber gemeinsam die Schwergläubigen zum Gott Israels bekehren, der auch der Vater Jesu Christi ist.

Das letzte Wort zwischen Juden und Christen muß die Aussöhnung, das Geltenlassen und das Einstehen füreinander sein, von Mensch zu Mensch, als Brüder unter dem einen Vatergott. Keinen anderen Streit darf es zwischen uns geben, als den Wettstreit um eine bessere Gerechtigkeit, eine größere Liebe und einen wirksameren Dienst an der Welt. Kurzum, um das Tun der Wahrheit geht es in einer säkularisierten Welt, die uns beide mit demselben Jesus-Wort konfrontiert und in Frage stellt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihrem Gerede.“ Das gilt für Juden und für Christen, aber für alle anderen auch.

Gerade zu einer Zeit, in der Weltgeschichte wieder mit blutigen Lettern geschrieben wird, müssen wir es von den Dächern schreien: Der Friede ist unteübar, der wahre Friede wächst wie alles Organische von unten nach oben. Er wird nicht in Moskau, noch in Washington dekretiert, sondern beginnt an jedem Frühstückstisch. Er kann nicht promulgiert werden, wenn er nicht von unten gewachsen ist. Er fängt aber im Herzen an, daher kann es keinen Frieden unter den Völkern geben, wenn die Weltreligionen nicht damit beginnen...

Der Sprung ins Weltall ist uns ja gelungen, sollte uns die Befriedung dieser Erde mißglücken?

Was nützt uns dann die Eroberung der Stratosphäre, wenn unsere Biosphäre von Zwist und Zerstörung verwüstet wird? Vielleicht sollten Juden und Katholiken deshalb auch gute „Protestanten“ werden, im Sinne der Propheten Israels, die niemals müde wurden, lautstarken Protest zu erheben. Protest gegen die soziale Apathie, gegen die Lügen aller Machthaber, gegen den Pseudo-Messianismus der

Selbsterlösimg, gegen die Vergöt-zung der atheistischen Ideologien und gegen alle anderen goldenen Kälber unseres Jahrhunderts des wuchernden Neu-Heidentums.

Auszug aus einem Vortrag für „pro wien“ im September 1986.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung