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Anfänger und Vollender des Glaubens

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Als ich Anfang der sechziger Jahre an meinem ersten Jesusbuch arbeitete, hielt Paul Tillich bei uns in Hamburg gerade Gastvorlesungen. Wir sahen uns bisweilen und sprachen dabei auch über meine derzeitige Arbeit. Tillich wunderte sich über mein Interesse an der Frage nach dem historischen Jesus. Er meinte großzügig: „Wenn er es nicht war, dann war es eben ein anderer." Gegen so viel historische Gleichgültigkeit begehrte der Historiker in mir auf. Fast trotzig gab ich meinem Buch den Titel „Es begann mit Jesus von Nazareth". Aber ich sollte Tillichs Bonmot im Sinn behalten.

Seitdem sind weit über 30 Jahre vergangen. Blicke ich auf meinen Weg in dieser Zeit zurück, so dünkt mich: Alles in allem war es ein Fortschreiten vom Buchstaben zum Geist, von der Historie zur Religion. Die Frage nach dem historischen Jesus, so gewichtig sie am Anfang stand, ist mir unterwegs zwar nicht abhanden gekommen, wohl aber an die zweite Stelle gerückt.

Damit wurde der Maßstab der historischen Echtheit durch das Kriterium der religiösen Wahrheit relativiert: Ein Bibeltext kann historisch unecht und dennoch religiös wahr sein, wie umgekehrt ein Text historisch echt sein kann und dennoch keine religiöse Wahrheit mehr für uns enthalten.

Bei seinem Rückbezug auf Jesus selbst interessieren den Glauben nicht einzelne Richtigkeiten, sondern die Richtung im ganzen: daß der Kernpunkt der Botschaft Jesu von Gott zugleich die Pointe seiner eigenen Existenz bildet.

Wie unverbunden auch die einzelnen Stücke der neutestamentlichen Jesusüberlieferung nebeneinander stehen, alle haben ihren gemeinsamen Grund und Sinn in dem, was Jesus, oft sogar ohne jeden Zusatz „Glauben" nennt. Von den vielen Titeln, die ihm im Neuen Testament beigelegt werden, scheint mir der Name „Anfänger und Vollender des Glaubens" ihn am zutreffendsten zu charakterisieren.

An Jesus aus Nazareth wird für mich offenbar, was Glaube an Gott heißt. „Aus Glauben - zum Glauben" könnte ich daher als Überschrift über seine Person und Botschaft stellen.

Die Grundverfassung der Existenz Jesu bildet seine Gottesbeziehung. Sie ist die Quelle, aus der er lebt, lehrt und leidet. Entsprechend besteht seine Offenbarung Gottes darin, daß er sein persönliches Gottesverhältnis öffentlich auslebt. Die Zwiesprache mit Gott ist der Ort der Offenbarung Gottes in Jesu Leben.

Genau genommen, teilt er keine Lehre, sondern sich selbst mit. Indem er Menschen - ohne Zwischeninstanz, ohne Titel, Amt und großen Namen -allein durch sein Wort zum Glauben ruft, versetzt er sie in die Gegenwart Gottes, wie er sie selbst erfahren hat. Und wo immer ein Mensch sich von ihm zum Glauben ermutigen läßt, dort ist seine Verkündigung ans Ziel gelangt; denn der Glaube an Gott ist ihr einziger Inhalt.

Es hat seine Zeit gedauert, bis ich zu dieser Konzentration der Person und Botschaft Jesu gelangt bin, aus dem Vielen zu dem Einen, das allein nottut. Damit habe ich auch den unseligen Kirchenstreit um die Gottessohnschaft Jesu hinter mir gelassen: Ich glaube nicht an die Botschaft Jesu von Gott, weil er der Sohn Gottes oder der Christus ist, sondern weil ich seiner Botschaft von Gott glaube, bekenne ich ihn als den Christus oder den Sohn Gottes. Nicht der Titel entscheidet über die Botschaft, sondern die Botschaft über den Titel. Den richtigen Titel kennen und über Jesus Bescheid zu wissen meinen, ist ein Trugschluß, vor dem schon Jesus gewarnt hat.

Mit seiner Gottesverkündigung reißt Jesus den Horizont der Religionsgeschichte auf. Während sonst in aller Religion, sichtbar oder unsichtbar, Priester am Tempeltor steht und nach der Erfüllung der Einlaßbedingungen fragt -Gott darf sich nur nahen, wer des Tempels würdig ist —, lädt Jesus jede und jeden ohne Vorbedingung zu Gott ein: „Kommt her, alle Mühseligen und Bela-denen" - „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht ausstoßen."

Im Vergleich zu Jesus repräsentiert Johannes der Täufer den Allgemein fall der Religionsgeschichte. Er läßt die Menschen zu sich hinaus in die Jord ansteppe kommen. Sein Zeichen ist die Worfschaufel des Gerichts, die Gott in seiner Hand schwingt, um endgültig die Spreu vom Weizen zu scheiden.

Jesu Zeichen ist -noch vor dem Kreuz -die Sandale. Er geht zu den Menschen hin, geht ihnen nach, bis in ihre Häuser hinein. In seinen Wanderungen kreuz und quer durch die Städte und Dörfer Palästinas spiegelt sich seine Gottesverkündigung topographisch wider. Er ist die Spur der nachgetragenen Liebe Gottes.

Indem Jesu Einladung an alle ergeht, richtet sie sich besonders an die, die sonst nicht eingeladen werden, die sich an der unteren Kante der Gesellschaft bewegen und deshalb ausgeschlossen scheinen von Gottes Heil und Reich. Aus diesem Grund zeigt Jesu Verkündigen und Verhalten deutlich einen „Zug nach unten".

Auf die Frage, wo Gott in der Welt anzutreffen sei, antwortet Jesus: Überall dort, wo Menschen in Armut, Leid und Enge sitzen, wo Menschen sich für das Recht der Entrechteten einsetzen, wo Menschen an Menschen Barmherzigkeit üben, wo Menschen sich gegen Menschen menschlich verhalten, und wo Menschen um all dessen willen von anderen Menschen verlacht, verspottet, verfolgt werden - überall dort bricht Gottes Herrschaft an. Gott also geschieht zwischen den Menschen, aber es ist Gott, der zwischen den Menschen geschieht.

Der Mensch muß nur bejahen, daß er von Gott bejaht ist. Nur wie ein Echo auf Gottes Ja ist die Umkehr des Menschen. Wer sich von Gott bejaht weiß - so, wie er ist und wie er selbst vielleicht gar nicht sein möchte -, bleibt nicht, wie er ist, sondern fängt an sich zu ändern und so zu werden, wie er - ach, so gerne! - wäre. Die ihm gewährte Gnade des Sein-Dürfens befreit ihn zu sich selbst.

Die Bechtfertigung des Menschen vor Gott vollzieht sich in der Erkenntnis des Glaubens, daß die gewöhnliche Frage: „Was sollen wir tun?" beantwortet werden muß mit der ungewöhnlichen: „Von wo empfangen wir etwas?"

Jesu Gottes Verkündigung zieht ein neues Selbst- und Weltverständnis nach sich. Der Glaube macht frei. Jesus selbst ist liberal. Um ihn weht eine unvergleichlich freiere Luft als in der Synagoge seiner Zeit und später oftmals in der Kirche. Es ist, als gelangte man aus der Enge in einen weiten Baum - es ist die Weite der Schöpfung Gottes.

Der freie Zugang zu Gott erschließt ein mündiges Verhältnis zur Welt. Wer furchtlos „Abba, lieber Vater" sagen kann, der kann auch frei und angstlos mit der Welt umgehen. Für ihn ist die Welt „weltlich" geworden.

Die Orientierung im weltlichen Handeln gibt die Liebe. Ob Gottesoder Nächstenliebe - die Liebe ist unteilbar. Es ist eine und dieselbe Liebe -sie hat nur jeweils ein verschiedenes Gegenüber. Darum das Doppelgebot:

„Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen - und deinen Nächsten wie dich selbst." Das Verhältnis des Menschen zu Gott muß sich in der Beziehung zum Mitmenschen widerspiegeln. Darum soll er seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Wer seinen Nächsten wie sich selbst liebt, der ist selbstvergessen - und wer sich selbst vergißt, ist wahrhaft frei.

Alles, was die vier Evangelien über Jesu Person und Botschaft aussagen, läßt sich in zwei Versen aus zwei verschiedenen Gleichnissen Jesu konzentrieren: Im Gleichnis vom verlorenen Sohn heißt es: „Als der Sohn noch fern war, sah ihn sein Vater, und er jammerte ihn, er lief und fiel ihm um den Hals und küßte ihn." Dieser Satz kehrt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter fast wörtlich wieder: „Ein Samariter kam des Wegs, und als er ihn sah, jammerte er ihn ..., und er ging hin und hob ihn auf."

Beide Male ist von einem Weg die Rede, von einem Sehen und Sich-Erbarmen und Sich-auf-den-Weg-Machen.

Die Zuwendung des Vaters zum heimkehrenden Sohn setzt sich spiegelbildlich fort in der Hinwendung des Samariters zu dem halbtot am Wege Liegenden. Wie der Vater sich über den heimkehrenden Sohn herabbeugt und ihn an sich zieht, so geht auch der Samariter zu dem unter die Räuber Gefallenen hin, beugt sich über ihn und nimmt ihn mit sich. Ich nenne dies das „Zweiwegeschema" des Christentums.

Jesu Tod war die logische Konsequenz seines Lebens. Sein Glaube war es, der ihm seine „Freiheit zum Wort" gab, und seine Freiheit zum Wort war die Ursache seines Todes.

Was immer den Jüngerinnen und Jüngern nach dem Tod Jesu widerfahren ist - es verdichtete sich für sie zu der Gewißheit: Jesus lebt. Damit erfuhren sie nichts Neues über Gott, nichts, was Jesus ihnen nicht schon zu seinen Lebzeiten gesagt hätte, aber es galt für sie jetzt ein für allemal: Gott ist in der Tat so, wie Jesus ihn geglaubt und verkündigt hat. Darum ist die Geschichte Jesu aus Nazareth - trotz der Kreuzigung -nicht zu Ende, sondern geht weiter.

Auf meinem Weg von der Historie zur Religion, vom Buchstaben zum Geist bin ich in den letzten Jahren noch ein Stück weitergegangen und damit wohl zum vorläufigen Endpunkt gelangt. Auf die Spur gesetzt durch die zeitgenössische religiöse Situation mit ihrem neuen Verlangen nach Spiritualität, habe ich für mich neu entdeckt, wie sehr in den neu-testamentlichen Evangelien Jesu gesamte Existenz - sein Glauben, Verkündigen und Handeln - von Gottes Geistesgegenwart bestimmt ist, so daß man sagen kann: Jesus aus Nazareth steht als der Urcharismatiker am Beginn der Geschichte des Christentums.

Das scheint mir den Weg von der traditionellen altkirchlichen Zweina-turenlehre zu einer zeitgenössischen Geistchristologie zu weisen, die ein geschichtlich faßlicheres Verständnis der Person Jesu verspricht, ohne ihr göttliches Geheimnis aufzulösen.

Für ein entsprechendes charismatisches Jesusbild bietet die neutesta-mentliche Überlieferung reichlich Stoff. In ihr erscheint Jesus in vielerlei Gestalt: als Rabbi, Wanderprediger, Wundertäter, Exorzist. Aber dies ist kein Einerlei aus Vielerlei; vielmehr fügen sich alle einzelnen Züge zu einem einheitlichen Bild: Jesus ist von Gottes Geist getrieben - dies ist der Impuls seines Lebens und Wirkens.

Die Kraft des Heiligen Geistes, die Jesus einwohnt, ist zugleich die Kraft des von ihm angekündigten Reiches Gottes. Das Charisma der Person und die Dynamik des Reiches sind eins. Diese Einheit spiegelt sich in Jesu Lebensgang wider. Mit seinem öffentlichen Auftreten hat er eine Geistbewegung entfacht, deren Feuer bis auf den heutigen Tag brennt. In der Nachfolge Jesu als dem „Anfänger und Vollender des Glaubens" setzt sich die von ihm entfachte Glaubens- und Sammlungsbewegung fort und wird so zum „Aufgebot des Glaubens" in der Welt.

Angesichts dieser Wirkungsgeschichte wird die Frage nach dem „historischen Jesus" fast nebensächlich, zumindest zweitrangig. Wenn er es nicht war, dann war es eben ein anderer - ein anderer Mensch oder auch eine andere Gemeinde. Ich scheue mich nicht, auf die Evangelien zu übertragen, was G. B. Shaw von den Dramen Shakespeares gesagt hat: „Wenn die Stücke nicht von Shakespeare stammen, dann von einem, der ihm verdammt ähnlich war." Mit dem Verlust des Boten wurde die Botschaft für mich nicht gegenstandslos. Zu überzeugend bleibt der Eindruck, den der in der Bibel verkündigte Jesus, seine Gestalt und Botschaft, immer neu in den Herzen der Menschen erzeugt.

Der Glaube an Gott auf Jesu Wort hin gibt mir Antwort und damit Mut zum Leben in bezug auf drei Fragen, die, zusammengenommen, für mich „das Leben" ausmachen:

■ ;Erstens: Er gibt mir Antwort auf die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt und ermutigt mich, an Gott zu glauben und ihm zu vertrauen - angesichts seiner scheinbaren Abwesenheit in der Welt.

■ ;Zweitens: Er gibt mir Antwort auf die Frage nach dem Sinn meines Lebens in der Welt und ermutigt mich, Sinn zu suchen und zu bekennen - angesichts von Leid, Schuld, Verfall und Tod in der Welt.

■ ;Drittens: Er gibt mir Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Menschen in der Welt und ermutigt mich, die Welt menschlicher gestalten zu helfen angesichts so vieler Unmenschlichkeiten in der Welt.

Aus diesem dreifachen Grund glaube ich Jesus aus Nazareth seinen Gott. Ob sein Grab voll oder leer war, weiß ich nicht - auf jeden Fall ist bis auf den heutigen Tag kein Gras darüber gewachsen.

Der Autor, 1915 in Kiel geboren, ist theologischer Schriftsteller und war Chefredakteur des „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts".

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