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Wer ist ein Christ?

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Gibt es ein Kriterium der Zugehörigkeit zur Kirche? Gemeint ist nicht die unsichtbare Gemeinschaft der „Heiligen“, das heißt aller durch Gottes Gnade Erlösten, die in irgendeinem Grad ja sagen zur Liebe. Wer weiß, vielleicht sind es alle Menschen überhaupt, denn in wessen Herz hat sich nicht wenigstens einmal ein selbstloser Gedanke eingeschlichen, der sich im Tode ausweiten lassen kann, wie ein kleinstes Senfkorn sich auswächst zu einem schattenspendenden Baum? Das für möglich zu halten, ist Gegenstand der christlichen Hoffnung. Gemeint ist im Augenblick auch nicht die Gemeinschaft aller Menschen, die in irgendeinem Grad — über alle Grenzen von Konfessionen, Glaube, Weltanschauung hinweg — sich einig wissen in der gemeinsamen Sorge um das Wohl der anderen, im Kampf gegen das furchtbare Unrecht in der Welt; daß wir als Christen hier dabei sein und womöglich wirksam an erster Stelle stehen müßten, das sollten wir allmählich verstanden haben, so sehr wird es uns von allen Seiten in die Ohren geschrien. Wir können es nicnt mehr überhören.

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Gibt es ein Kriterium der Zugehörigkeit zur Kirche? Gemeint ist nicht die unsichtbare Gemeinschaft der „Heiligen“, das heißt aller durch Gottes Gnade Erlösten, die in irgendeinem Grad ja sagen zur Liebe. Wer weiß, vielleicht sind es alle Menschen überhaupt, denn in wessen Herz hat sich nicht wenigstens einmal ein selbstloser Gedanke eingeschlichen, der sich im Tode ausweiten lassen kann, wie ein kleinstes Senfkorn sich auswächst zu einem schattenspendenden Baum? Das für möglich zu halten, ist Gegenstand der christlichen Hoffnung. Gemeint ist im Augenblick auch nicht die Gemeinschaft aller Menschen, die in irgendeinem Grad — über alle Grenzen von Konfessionen, Glaube, Weltanschauung hinweg — sich einig wissen in der gemeinsamen Sorge um das Wohl der anderen, im Kampf gegen das furchtbare Unrecht in der Welt; daß wir als Christen hier dabei sein und womöglich wirksam an erster Stelle stehen müßten, das sollten wir allmählich verstanden haben, so sehr wird es uns von allen Seiten in die Ohren geschrien. Wir können es nicnt mehr überhören.

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Aber es gibt nun doch wirklich die andere Furage: Weshalb wir aul die Bezeichnung „Ohrist“ noch einen Wert legen, und wo objektiv Sinn und Berechtigung, sich so zu nennen, anfängt oder aufhört. Es ist ja höchst seltsam, wie in der Presse und in der ganzen theologischen Betriebsamkeit unserer Zeit diese Frage hinter den 'angeblich aktuelleren „praktischen“ des kirchlichen Managertums zurückstehen muß, als sei sie entweder das Selbstverständliche, von allen Gewußte, oder auch das Verschiebbare, das man irgendwann, bei passender Gelegenheit, in einer Gefechtspause, hervorziehen und bedenken kann. Zunächst ist klar, daß „Christ“ ein Name ist, der an einer gan bestimmten Stelle der Weltgeschichte zum erstenmal erfunden wurde, um eine ganz bestimmte Gruppe von Leuten zu kennzeichnen, die ihre Existenz von einer ganz bestimmten Aussage her verstanden. Die Aussage war ein „synthetisches Urteil“: nämlich ein gewisser Jesus von Naaareth, „der gestorben ist, der aber nach der Behauptung des Pa--lus noch lebt“, dieser sei der Christus, und das 'hieß nach ihrem Verständnis nicht nur der verheißene Messias der Juden, sondern darüber hinaus „der Sohn des lebendigen Gottes“, der zugleich 'als „Gottesknecht“ für die Sünden aller Menschen gestorben und als erster von den Toten auferstanden ist, um die ganze Wellt mit Gott zu versöhnen und ihr das Leben bei Gott au sichern.

Eine so unwahrscheinliche, ja absurde Lehre wurde von diesen Leuten, die zum erstenmal in Antiochia als „Christianer“, „Christen“, bezeichnet wurden, verbreitet: nicht wegen des Subjekts jenes Satzes (sonst hätten sie sich als Jesuaner bezeichnen müssen), sondern ausgesprochen wegen des Prädikats. Die Benennung wurde von den Christen als adäquat übernommen und durch alle Jahrhunderte um dieses ursprünglichen Inhalts willen beibehalten.

Jedermann sieht ein, daß nach zweitausend Jahren der Sinn des Namens und der darin liegenden Aussage nicht geändert werden kann, daß somit einer, der jene Synthesis nicht verantwortlich vollziehen zu können meint, viel besser daran tut, auf eine Bezeichnung zu verzichten, die ihm immer und heute mehr als je doch nur „Schmach“ und Verachtung eintragen kann.

Aber vielleicht läßt die besagte Synthese „Jesus (ist) Christus“ Spielraum genug, um in sehr verschiedener Art ausgelegt zu werden? Ist sie nicht tatsächlich in der Kirchengeschichte (die immer weitgehend auch eine Geschichte von Häresien, Sekten und Schismen war) erstaunlich vieldeutig geblieben? Und ließe sich nicht gerade heute, im Zeitalter des weltlichen Pluralismus, eine solche Vielfalt von Auslegungen rechtfertigen? „Christus“ heißt zugleich: der Sohn Gottes; sind wir aber nicht alle Söhne des einen Vaters, braucht dieser Jesus mehr zu sein als unser „großer Bruder“, pri-mius inter pares? Genügt es nicht, in Ihm ein Vorbild zu sehen für Nächstenliebe und Philanthropie? Kann man Ihn nicht einfach in eine Reihe stellen mit Sokrates, Buddha und ähnlichen Initialzündern? Hier wird es Zeit, sich zu erinnern, was historisch mit der Synthesis der ersten Christen gemeint war. Wir fassen es am besten in dem uralten, vorpaulinischen Glaubenssatz (der sicher schon ums Jahr 40 für die christliche Liturgie geprägt war): „Christus ist gestorben wegen unserer Sünden gemäß den Schriften, und Er wurde begraben. Und Er wurde auferweckt am dritten Tag gemäß der Schrift und erschien dem Petrus“, heißt es im ersten Korln-therbrief. Aus der gleichen Zeit stammt der Satz des Römerbriefes: „Er wurde dahingegeben um unserer Sünden willen, und Er wurde auferweckt um unserer Rechtfertigung willen.“ Darin war unbedingt mehr gemeint als ein „Vorbild“, nämlich einerseits Stellvertretung (Er leidet an meiner Statt), und anderseits ein völlig einmaliger Durchbruch der menschlichen Gesamtexistenz in das Leben Gottes: Auf erweckung. Diese war es, die den Christen erst die Augen dafür öffnete, daß im Passionsleiden wirkliche Stellvertretung stattgefunden hatte. Das aber hieß elementar: Liebe. Gott „hat seinen eigenen Sohn nicht geschont, sondern Ihn für uns alle dahingegeben“. Jesus selbst ist „der Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat“. Und hier auf einmal hat die erste Christenheit ihr Kriterium, wer zu ihr gehört und wer nicht. Es gibt ja noch kaum ein auagearbeitetes Credo. Aber es gibt in der Synthesis „Jesus = Christus“ den Beweis, daß Gott die absolute Liebe zu mir, zu uns allen ist und daß diese Liebe elementar eine ebenso unbedingte Gegenliebe verlangt. Am Schluß des ersten Korintherbriefs hat Paulus, nach Beendigung des Diktats, einen handschriftlichen Gruß beigefügt: „Hier mein eigenhändiger Gruß.

Paulus. Wer den Herrn nicht liebt, sei verflucht.“ Die Formel war für jeden erkennbar, sie stammte aus einer in der Gemeinde üblichen Liturgie. Sie war also nicht nur ein Inbegriff, sondern eine Erkennungsmarke.

Der „Herr“ ist natürlich Christus; für Paulus kommt es überhaupt nicht in Frage, daß der Herr, der Auferstandene, ein anderer sein könnte als der gekreuzigte Jesus von Naaareth, obschon gerade die gnosti-schen „Modernen“ in Korinth gerne einen Christus ohne den historischen Jesus gehabt hätten; daher waren ekstatische Rufe während des Gottesdienstes erklungen: „Verflucht sei Jesus!“ Wir sind Geistmenschen, Mündige, im Geist Auferstandene, die nicht ewig an dieses historische Vehikel gebunden sein wallen! Paulus pariert mit seiner Aussage zu Beginn des Briefes, er wolle unter diesen Fortschrittlichen „nichts anderes verkünden als das „Wort vom Kreuz“: für die einen ist es reiner „Blödsinn“, während es für uns der Ausdruck der Liebesgewalt Gottes ist.

Was besagt hier das Wort „verflucht“ (anathema)? Es besagt: ausgeschlossen aus der (Liebes-)Ge-meinschaft. So, wenn Paulus sagt: „Ich möchte selber am liebsten anathema (weggeflucht) sein von Jesus Christus weg“, falls an Seiner Stelle Seine jüdischen Brüder in die Gemeinschaft Christi gelangen könnten.

Aus der Kirche wird niemand ausgeschlossen, der dazugehören will; aber wenn die Kirche sich als der Bund derer versteht, die — um den Tisch Christi geschart, auf dem Er sich selber in verschwenderischer Liebe zu Speise und Trank dahin-gibt — sich der Liebe Gottes in Christus verdanken, warum und wie könnten sie dann zu diesem Tisch Leute zulassen, die Christus nicht lieben? So lieben, daß sie wissen, was Gott ihnen mit Ihm schenkt? Das Einmalige, Teuerste, das Er für sie und für die vielen (das heißt für alle) dafaingibt. Woher sie das wissen? Durch die Einmaligkeit der Auferweckung, worin Gott zu diesem Leiden und zugleich zu Seinen höchsten Verheißungen steht. Der Kreis schließt sich, er ist ein Kreis der Liebe. Glaube ist christlich, Glaube an die absolute Liebe, und Eintritt in ihren Kreis. Von dieser Mitte aus läßt sich die ganze „Dogmatik“ entfalten und in sie hinein wieder einfalten. Von dieser Mitte aus hat auch alles historische Christentum seine Kraft geschöpft, in sie hinein hat es sich wieder gesammelt, wann immer es einer Erneuerung und Reform bedurfte. Nichts, was christlich vorbildlich war (und „heiliggesprochen“ zu werden verdiente), hat aus etwas anderem gelebt als aus dieser Mitte. Nur solche, die aus der Liebe Gottes, die ihnen in Kreuz und Auferstehung Christi begegnet ist, gelabt haben, vermochten der Kirche, die immer von Sündern und Abgestandenen starrt, neue Liebeskraft einzuflößen. Daß Gott ihnen in Christus den unvergleichlichen Mitmenschen geschenkt hat, daß sie zugleich Gott und einem Mitmenschen ihr Heil, ihr Liabenkönnen und -dürfen verdanken, war ihnen — durch die Synoptiker, Paulus, Johannes, Petrus, Jakobus — hinreichend eingeschärft worden. Wie hätten sie die Liebe Gottes echt beantwortet, wenn sie sich nicht effektiv-tat ig ihrem Nächsten zugewandt hätten?

Das Christliche ist hier überschwengliche Erfüllung des Alt-testamentlichen: Liebe Gott aus deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, weil Er allein dich erwählt hat (aus grundloser Liebe) und Er allein dich aus dem Haus der Knechtschaft Ägyptens herausgeführt hat mit starkem Arm, Er allein dich weiterhin behütet und in Treue Seinem verheißenen Reich entgegenführt. Und weil du selbst so geliebt worden bist, erzeige dich dankbar, indem du deinen Nächsten liebst wie dich selbst. „Taste das Recht des Fremdarbeiters nicht an, denke daran, daß du selbst ein Sklave warst im Lande Ägypten und daß Jahwe, dein Gott, dich daraus losgekauft hat.“

Die Parabel Jesu vom Schalksknecht, dem viel nachgelassen wurde und der das Wenige nicht nachlassen will, spricht genau die gleiche Sprache. Gott ist ja das Absolute; wer Ihn liebt, kann nichts aus Seiner Liebe 'ausschließen, dann schon gar nicht, wenn dieses Absolute Ihm in der Gestalt eines für Ihn verblutenden, ' gottverlassenen Menschen begegnet. Aber wie könnte ein Christ (von ihm reden wir ja nur) die Nächstenliebe als einen Ersatz für die Gottesliebe ansehen? Sie “muß immer neu deren Prüfstein sein. Sm unausweichlichen Ernst des Hier und Jetzt. Man kann erwidern: „Es gibt nicht zweierlei Liebe, wer die Nächstenliebe wirklich hat, hat auch die Gottesliebe.“

Ich würde antworten: das kann wahr sein (falls man sich klar ist, wie weit das Wort „wirklich“ hier führen kann), aber wir sprechen von etwas anderem, nämlich davon, was der Name „Christ“ beinhaltet. Nach dem Seibstverständnis der ersten Kirche, die hierin für uns maßgablich bleibt (zumal alle ihre Schriften uns dasselbe sagen), ist es der, der die Liebe Gottes in Jesus Christus gehorsam empfängt und in liebender Hingabe zu 'beantworten sucht, und dabei auf den zu liebenden Nächstea stößt.

Das ,A-nafihema“ der ältesten Kirche ertönt vom Tisch des Herrn her. Die Liebe der Kirche schließt keinen Menschen von ihrer Liebe aus, aber jeder wird von Paulus aufs strengste angewiesen, sich selbst zu prüfen, ehe er von dem Brot Ißt und von jenem Kelch trinkt, denn „sonst ißt und trinkt er sich das Gericht“. Wie könnten die Christen es dem Herrn gegenüber verantworten, einen Nichtglaubenden, Nichtliebenden am Tisch der Liebe Gottes mitspeisen zu lassen? Sie verurteilt keinen, der den Glauibensakt nicht zu vollziehen vermag, weil hier ja wirklich, wie es im ersten Korintherbrief heißt, „Gottes Wahnsinn“ und „Ohnmacht“ als Nahrung vorgelegt wird. Wer wäre da nicht geneigt, zu sänftigen, zu entimythologisieren? Alles auf ein erträgliches menschliches Maß zurückzubringen?

Jedermann ist frei, dies nach Belieben zu tun und das Christliche als überspannt und — für den heutigen Menschen — überholt hinzustellen. An den ungeheuren Aufgaben, die die Welt uns stellt, werden wir deswegen nicht weniger einträchtig mitarbeiten können. Nur wäre es sauber und ehrlich, wenn wir den von der Urkirche gezogenen Strich anerkennen würden. Man braucht die Sache nicht negativ, durch anathema auszudrücken; man kann sie auch positiv sagen, wie der Schluß des Epheserbriefs: „Gesagnet seien alle, die unsern Herrn Jesus Christus lieben.“

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