Das gerührte Herz durchbrechen

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Sentimentalität genügt nicht. Auch heute entscheidet sich Weihnachten an der Bereitschaft, Jesus zu begegnen.

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Sentimentalität genügt nicht. Auch heute entscheidet sich Weihnachten an der Bereitschaft, Jesus zu begegnen.

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Die stillste Zeit im Jahr" (Karl Heinrich Waggerl) ist es schon lange nicht mehr. Der neutrale Beobachter muß eine Weile suchen, um den Grund für das hektische Treiben zu erkennen. Auf ein christliches Fest kann nur aufgrund mitgebrachter Bildung geschlossen werden. Obwohl wir uns aus einer schon nachchristlichen in eine multikulturelle Gesellschaft entwickeln, stimmen uns in diesem Jahr die vorweihnachtlichen Tage doch etwas stiller, ein wenig auch sentimental. Wir spüren die Hektik drückender, obwohl wir sie selbst produzieren, und wir haben das Herz da und dort ein klein wenig offener in diesen Tagen, die Not anderer kommt näher an uns heran.

Auch dort, wo sie nicht mehr im Zentrum des Feierns und Denkens steht, hinterläßt so die Botschaft des Weihnachtstages ihre Spuren. "Eine große Freude" ist es, was der Engel den Hirten verkündigen will - den Hirten wohlgemerkt: denn der Gott, der hinter dieser Botschaft steht, ist nicht ein Gott der Großen und Mächtigen, er ist es nie gewesen. Er hat jeden einzelnen Menschen im Blick, besonders die Kleinen, die Armen, jene in Not, auf die sonst niemand schaut. Gott ist ein Gott, der hinschaut, nicht einer der weg- oder vorbeiblickt, geschweige denn vorbeigeht. Deshalb ist auch die Geschichte vom Stall in Betlehem so stimmig, zugleich auch so spannungsvoll. Sie fordert uns heraus: Sohn Gottes in einer Futterkrippe! Und dennoch ist es gerade das, ist es dieser menschliche Widerspruch, der entscheidend ist. Dreimal stößt uns Lukas in der Weihnachtserzählung auf dieses Zeichen: ein Säugling, in einer Futterkrippe, gewickelt in Windeln ...

Sterben grundgelegt Nichtsdestotrotz lautet die Engelsbotschaft und seither die christliche Verkündigung aller Generationen bis heute: "... der Retter, Christus, der Herr." Geburt Jesu, das ist zu allererst die Klein-Werdung Gottes. "Erniedrigung" nennen es die Kirchenväter, "Selbstentäußerung" sagt Paulus der Gemeinde von Philippi, und er schließt weiter: Schon darin ist das Sterben Jesu grundgelegt. Gott gibt sich selbst in diese Welt, so klein, so unscheinbar, so alltäglich, so auf andere Menschen angewiesen. Darin den Retter der Welt zu erkennen und zu bekennen, den Messias, auf den schon die vorchristliche jüdische Überlieferung durch die Jahrhunderte ihre Hoffnung setzt - das ist der ganze Inhalt unseres christlichen Glaubens. In der Geburt Jesu liefert Gott selbst sich aus und macht er sich verwundbar. Nur in dieser gänzlichen Machtlosigkeit, in dieser Entkleidung alles Göttlichen wird unmißverständlich erfahrbar, wie sehr Gott uns liebt.

Es ist vermutlich die Geschichte von dem Kind, die uns ans Herz geht und rührt. Vielleicht versetzt sie uns auch in Staunen, so wie es den Hirten ergangen ist: Sie hören diese eigenartige Botschaft, sie gehen und prüfen nach, sie geben an der Krippe weiter, was sie von dem Kind gehört haben. Dann aber kehren sie um und loben Gott. Sie haben begriffen, worum es geht. Gotteserfahrung kann man nicht für sich behalten, sie muß verkündet werden. Sie wissen darum, daß ihr Gott in diesem Geschehen zu unserem Heil handelt - "der Retter", so hatte es geheißen.

Spätestens seit dem Leben und Wirken Jesu von Nazaret wissen wir, was das bedeutet. Wir wissen auch, daß die Hinwendung Gottes keine Einzelfall war und die Menschwerderung im Kind kein Zufall. Jesus von Nazaret tut nichts anderes als dieses Hinschauen Gottes auf die Welt, diesen heilenden Blick Gottes umzusetzen. Er verleiht ihm Nachdruck. Nicht in einer simplifizierenden Wundertätigkeit, die alles Unheil gleich wegnimmt oder löst, sondern im Vermitteln der Gewißheit, daß da immer noch, trotz allem, einer ist, der "Ja" sagt zu dir und mir, auch dann noch, wenn es menschlich aussichtslos scheint. In seinem Leben hat Jesus dies bezeugt, in seinem Tod und seiner Auferstehung hat er es selbst erfahren. Er macht umfassend deutlich, was das heißt: Immanuel: Gott mit uns. Deswegen wird er maßgebend für alle Menschen, die sich an ihm ausrichten, er wird zum Mittelpunkt ihres Lebens, ihres Glaubens, eben: Er ist der Herr.

Entscheidung gefragt Sentimentalität allein und ein gerührtes Herz werden da auf die Dauer nicht genügen. Was der Verfasser des Matthäusevangeliums uns über die Verfolgung des kleinen Kindes Jesus erzählt, deutet an, daß Entscheidungen gefragt sind. Stehen an der Krippe macht nur Sinn, wenn es vom Verhalten der Hirten geprägt ist, die hinausgehen und das Erlebte weitersagen, oder wenn die Haltung der Sterndeuter bestimmend ist, die von weit her kommen und suchen, die auf Gottes Führung vertrauen, ihr Ziel finden und vor dem Kind in die Knie fallen. Denn dort, in der Begegnung mit dem Kind, in dem Gott selbst sich offenbart, wird erfahrbar, was sich in der Menschwerdung Jesu ereignet und was neu wird in dieser Welt: Gott selbst wird darin Ehre zugesprochen, und der Mensch erfährt Frieden.

Das will heißen: Das Weihnachtsgeschehen selbst offenbart Gottes Herrlichkeit, Gottes Feststehen in seiner unveränderlichen Identität von Liebe und Bezogenheit auf das Geschöpf Mensch. Konsequent deutet Lukas im Engellob weiter: Deshalb ist dem Menschen Frieden zugesprochen, salom als Ausdruck eines ungestörten, uneingeschränkten Verhältnisses zu seinem Gott.

Diese Zusage, dieses Angebot Gottes gilt allen Menschen, und Jesus von Nazaret wird es in aller Konsequenz umsetzen. Denn nichts als die Geburt des Kindes in Betlehem kann deutlicher zeigen, daß die Menschen in Gottes Zuwendung stehen, eben: Er blickt hin auf sie.

Der Evangelist kann getrost beim Wort genommen werden. Denn dieses Angebot Gottes gilt durch alle Zeit, auch heute. An Weihnachten trifft es uns neu, so wie jedes Jahr. Und doch: Die bevorstehende Wende in eine neue Epoche unserer Geschichte stimmt uns besonders nachdenklich - ergreifen wir diese Chance! Durchbrechen wir den Mantel des gerührten Herzens und gehen wir tiefer. In Wort und Sakrament, vor allem in der Öffnung hin auf den anderen Menschen - auf vielfältige Weise begegnen wir Jesus von Nazaret, dessen Geburt wir feiern. Ob Weihnachten so ist wie alle Jahre, entscheidet sich nicht am Kalenderjahr und an anderen Äußerlichkeiten, es entscheidet sich an uns selbst.

Der Prüfstein ist unser Wille, ist unsere Bereitschaft zur Jesusbegegnung. Diese gelingt nur, wenn wir von seinem Maßstab ausgehen, sein Vorbild ernst nehmen: In den Menschen um uns, besonders in den "Armen und Bedrängten aller Art" (II. Vatikanum) ist er zu Hause, dort ist er anzutreffen, dort ist heute sein Stall von Betlehem. Dort wartet jemand, daß wir für ihn oder sie da sind, ebenso klein und auf Hilfe angewiesen, ebenso in eine Krippe gelegt wie das Kind, gerade darin - in aller Widersprüchlichkeit und Spannung - ein Mensch als Abbild Gottes. Das ist nicht immer von selbst wahrnehmbar. Gott selbst vermittelt uns diese Sichtweise, er zeigt uns seinen menschgewordenen Sohn.

In der wortgewaltigen Sprache dieser Tage müßte ich sagen: Es ist unsere Jahrhundert-, unsere Jahrtausendchance. Dabei genügt es durchaus, zu sagen: Es ist die Chance für unser Leben. Daher diesmal nicht wie alle Jahre, sondern anders, neu. Eben Weihnachten mit Jesus.

Der Autor ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Luzern.

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