Die Wirklichkeit von Weihnachten

19451960198020002020

Erst eine Generation mit den Kenntnissen der modernen Physik kann begreifen, daß es Wahrheiten gibt, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen.

19451960198020002020

Erst eine Generation mit den Kenntnissen der modernen Physik kann begreifen, daß es Wahrheiten gibt, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen.

Werbung
Werbung
Werbung

Weihnachten muß nicht erst entmythologisiert werden. Der heutzutage gängige Verdacht, daß jedes freundliche und liebliche Geschehen und Antlitz eine dunkle Kehrseite haben kann, findet längst im Kalender des Weihnachtsfestkreises seine Entsprechung. Schon einen Tag nach dem Hochfest der Geburt, am zweiten Weihnachtsfeiertag, berichtet die Liturgie vom Tod. Stephanus erlitt für die Verkündigung des Glaubens die Steinigung. Der erste Märtyrer des Christentums wird ermordet. Zeuge des Vorgangs ist noch dazu der Anführer der frühen Verfolgung, ein Mann aus Tarsus namens Saulus. Derselbe, der später in Damaskus als Paulus zum wichtigsten Verkünder und Gründer der christlichen Weltkirche werden sollte. Die Schatten von Blut und Terror fallen auf die Idylle von Bethlehem.

Was am dritten Tag nach dem Hochfest aus dem Matthäus-Evangelium berichtet wird, ist dagegen ungeheuerlich. Nicht ein Mann, der aus freier Entscheidung zum Christen und Verkünder wird, muß sterben, sondern alle Kinder unter zwei Jahren in einer Stadt werden auf Verdacht ermordet. Sie wußten nichts von Christentum, sie hatten keine Entscheidungsreife. Daß mit ihrem Tod ein Prophetenwort des Jeremias erfüllt wurde, ist ein biblischer Hinweis, aber kein Trost. Oder kann sich etwa jemand vorstellen, daß er den Mord an einem eigenen Kind leichter verkraftet, wenn ihm jemand sagt, daß das ein Wortgewaltiger vor etlichen Jahrhunderten vorausgeahnt hat?

Noch bitterer als dieser Kindermord von Bethlehem ist seine Informationskette. Die Magier aus dem Morgenland, die das göttliche Kind suchten, anbeteten und beschenkten, gaben ungewollt dem Vierfürsten Herodes den Hinweis. Sind sie durch Unvorsicht Mitverantwortliche und Mitschuldige? Die Frage besitzt Aktualität bis in unsere Tage.

Und Joseph, die Vatergestalt? War ihm, der als einziger vor diesem Massenmord an den Kindern gewarnt wurde, das Schicksal seiner Mitbürger gleichgültig? War die Rettung durch Flucht nach Ägypten eine Aktion unter der Devise "Hinter uns die Sintflut"? Hatte er wirklich nichts tun können, um Bethlehem vor der Gefahr zu warnen?

Bei diesen ermordeten Kindern geht es nicht um ein Glaubenszeugnis, sondern um nackte Willkür und Brutalität. Was haben sich die frommen Krippenbauer, die die blutige Szene später drastisch nachbauten, eigentlich dabei gedacht? Wie erklären freundliche Theologen einen Gott, der zum Anlaß vielfachen Kindesmords wird und sich dadurch von den menschenopferfordernden Gottgötzen nicht unterscheidet? Der Versuch einiger Fundamentalisten, die "Unschuldigen Kinder" von Bethlehem zu Patronen der Abtreibungsopfer und zum Anlaß entsprechender Demonstrationen zu machen, weckt erst recht die Frage göttlicher Zulassung und mündet in die Theodizee.

Der christliche Halbglaube verniedlicht und verdeckt die ungeheure Zumutung dieses Ereignisses. Die Prediger und Lehrer reden nicht gerne davon. Man traut seinen Augen nicht, wenn man bei Matthäus 2/16-18 die Stelle nachliest. Ja, es steht so geschrieben, allerdings nur bei diesem Evangelisten.

Selbst wenn man bedenkt, daß damals ein Kinder- und Menschenleben vielleicht weniger hoch geachtet und gewertet wurde, so verwundert es doch, daß die Erinnerung an diese Mordaktion in der ganzen späteren Geschichte des Jesuswirkens nie mehr erwähnt wird. Dachte keiner der Mütter und Väter, deren Kinder vor dreißig Jahren gemeuchelt wurden, beim Erscheinen und Lehren des wundertätigen Rabbi an das Ereignis von Bethlehem? Oder haben die Evangelisten, die ja nicht lückenlos und historiengetreu berichtet haben, die Erinnerung verschwiegen? Wir werden das nie erfahren.

Was wir hingegen neuerdings von Bibelexegeten erfahren, stellt das Glaubensvertrauen auf eine harte Probe. Um es kurz und verständlich zu sagen: Der Kindermord von Bethlehem, aber auch die anderen Berichte der wundersamen Ereignisse um die Geburt Christi, seien ebensowenig wörtlich und wirklich zu nehmen wie die Paradiesgeschichte von Adam und Eva.

Punkt. Damit ist der Skandal aus der Welt geschafft, und die peinlichen Fragen erübrigen sich. Aus der Welt und dem emotionellen Anteil des Glaubens geschafft, sind auch die Engel auf den Fluren, die Krippe und die Hirten, der Stern und die Magier, alles Anrührende und Menschennahe dieses Geburtsfestes bis zur Dogmatisierung der Jungfrauenschaft Mirjams. Unser ganzer gemütvoller Weihnachtsaltar ist abgeräumt. Die christliche Kunst aller Jahrhunderte ist als Märchendarstellung entlarvt und abgewertet.

Als Markus 20 bis 30 Jahre nach dem Tod Christi sein erstes Evangelium schrieb, war darin von der Geburt überhaupt nicht die Rede. Es war in dieser Zeit und Umwelt nicht üblich, nach Art heutiger Historien bei der Abstammung, Geburt und Kindheit des Helden zu beginnen. Dem Evangelisten ging es um Heilsverkündung. Vielleicht sparte Markus aber auch die Geburtsgeschichten aus, weil sie ihm zwar bekannt waren, aber nicht authentisch und von allerlei Erzählphantasie überwuchert erschienen.

Die mündliche Überlieferung hatte im Orient einen hohen Stellenwert. Die Evangelien sind überhaupt erst entstanden, weil dieses Weitererzählen auf die Dauer die Gefahr von Umdeutungen und Ausschmückungen barg. Um die frühchristliche Tradition zu rechtfertigen: Die Veränderungen, bildhaften Vorstellungen und rückwirkenden Ausschmückungen sind keine Lügen. Wer in unserer Gegenwart einen Bazar besucht hat, der weiß, welche unglaublichen Geschichten ein orientalischer Händler erzählt, um seine Ware anzubringen. Derselbe Händler ist aber sehr enttäuscht, wenn diese Geschichten für wahr gehalten und der Preis ohne Feilschen bezahlt wird. Lügt der orientalische Händler - oder bewegt er sich nur in der Kultur seines Volkes? Andere Länder, andere Sitten! Wer über Wahrheit und Wirklichkeit urteilt, muß die Unterschiede beachten. Auch bei den Autoren der Evangelien, die keine Bazar-Händler sind.

Zur Zeit des Markus, dessen Gebeine im goldenen Schrein des Doms von Venedig ruhen, gab es vermutlich schon einzelne schriftliche Aufzeichnungen, eine Art Ur-Evangelium, vor allem einen aramäischen Matthäus-Text. Die Exegeten wissen das aus Bruchstücken und Textvergleichen. Ein Original ist nicht überkommen.

Es ist aber durchaus möglich, daß die Christengemeinden nun doch mehr als bei Markus über die Herkunft und Geburt ihres Rabbi erfahren wollten. Sehr wichtig erschien ihnen die Rechtfertigung und Rückbindung des Messias an den Alten Bund und seine Propheten. Ob es im Ur-Evangelium Hinweise darüber gab, wissen wir nicht.

Lukas schrieb jedenfalls damals (50-60 Jahre nach Christus) seine Apostelgeschichte und - vielleicht auftragsgemäß - sein Evangelium mit einer detailreich ausgeschmückten Kindheitsgeschichte. Ihm verdanken wir unsere Weihnachtsidylle. Umständliche Stammbäume bis zu Abraham wurden konstruiert, ungeachtet der Tatsache, daß Joseph gar nicht der leibliche Vater sein sollte.

Als etwa um dieselbe Zeit auch Matthäus zu schreiben begann, geriet sein Stammbaum schon in Widersprüche zu Lukas. Ein Grund genug für die Exegeten, die Schilderung mehr symbolisch als wörtlich zu nehmen. Wollte Matthäus der allzu freundlichen Geschichte des Lukas mit dem Kindermord von Bethlehem einen düsteren Gegen-Akzent setzen? War eine Art orientalischer Entmythologisierung seine Absicht?

Wir wissen es nicht. Denn die Exegeten, die hier zwischen heilsgeschichtlicher Rechtfertigung durch Erzählbilder und der historischen Realität unterscheiden, äußern letztendlich Vermutungen. Es gibt weder einen stringenten Beweis für den tatsächlichen Kindermord von Bethlehem, noch das Gegenteil, daß er nämlich nur ein Phantasiebild zur Verdeutlichung der wunderbaren Rettung eines Gottessohnes ist. Ähnliches gilt für die rührenden Einzelheiten bei Lukas.

Im Glaubensbekenntnis wird uns außer der Jungferngeburt Mariens übrigens nicht abverlangt, weder an den Bethlehemitischen Kindermord noch an die Stall-Idylle, den Stern und die Magier ausdrücklich zu glauben.

Denn für die Lehre und ihre Konsequenzen ist das alles unwesentlich. Es stützt nur unseren Gefühlsbedarf. Schließlich sind die Geschichten vom Christkind, die mit umstrittenem pädagogischem Wert den Kindern erzählt werden, ja auch nicht pure Lügen. Jeder Erzähler versucht, seine Wahrheit im Hinblick auf die Zielgruppe dem Verständnis anzupassen. Durften Lukas und Matthäus für ihre orientalischen Christen das etwa nicht? Das Reden in Gleichnissen, Bildern und Parabeln hat ihnen der Rabbi Jesus doch meisterhaft vorgemacht.

Daß aufgeklärte Erwachsene heutzutage lieber auf den Kern der Sache kommen wollen ist ihr Recht.

Die Evangelien sind ganzheitlich zu verstehen. Und daher richtet sich der Blick nun auf den Evangelisten der nächsten Generation um die erste Jahrhundertwende nach der Geburt. Johannes scheint die Geschichten von Lukas und Matthäus auch schon mit einer gewissen philosophischen Erkenntniskritik betrachtet zu haben. Er läßt sich daher auf keine Einzelheiten mehr ein, sondern formuliert die Geburt in einer Weise höchster poetischer und geistiger Konzentration. Er bezieht sich auf die Einheit von Schöpfergott und Erlöser von Ewigkeit her und benützt dafür den griechischen Begriff des Logos. Die Übersetzung mit "Im Anfang war das Wort ..." ist unzureichend und hat manche Kritik gefunden. Nur wer die Macht des Wortes als Schöpfungsimpuls versteht und nicht mit unserem täglichen Gerede verwechselt, kann sich mit dieser Übersetzung abfinden.

Der Glaubens-Anspruch des Johannes-Prologs ist gewaltig. Hier gewinnt Weihnachten eine kosmische Dimension. Die Vorstellungskraft ist überfordert. Es gibt nur mehr ein hartes Entweder-Oder.

Erst eine Generation, welche die physikalischen Kraftfelder in ihrer Auswirkung bis zur Atomenergie kennt, kann zur Kenntnis nehmen, daß es Wahrheiten und Wirklichkeiten gibt, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen. Daß Materie und Energie letztlich dasselbe sind, kann man sich nicht vorstellen. Das Experiment hat es bewiesen.

So könnte Einstein eine kleine Hilfe zum Verständnis dessen sein, was aus der Sprache des Johannes ins christliche Credo gelangt ist: "Aus dem Vater geboren vor aller Zeit (das heißt präexistent), Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen. Er hat Fleisch angenommen aus der Jungfrau (der jungen Frau?) Maria und hat unter uns gewohnt ..."

Mit diesen sprachlich und bildlich nicht mehr zu fassenden Geheimnissen leben zu lernen und die Allegorien nur als unwesentliche Hilfestellungen zu betrachten, das ist reifer Glaube.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung