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Christentum“ vor Christus ?

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Im Sommer 1947 führte ein Zufall zum sensationellsten archäologischen Ereignis unserer Ttege, zur Entdeckung der bisher ältesten Texte der Heiligen Schrift. Aus einer Ziegenherde, die an den Hängen nordwestlich des Toten Meeres weidete, verlief sich im Frühling 1947 ein Tier. Mohammed, der „Wolf“, ein aufgeweckter Beduinenjunge vom Taamirestamm, stieg ihm nach und gelangte dabei zu einer runden, fensterartigen Oeffnung in der Felswand. Er warf einen Stein ins Innere und hörte, wie dort in der Tiefe etwas zerbrach. Als er später mit einem Kameraden wiederkam, zwängten sie sich durch die enge Oeffnung hindurch, krochen in die Höhle hinein und fanden einige mit Schriftrollen gefüllte Tonkrüge. Einer davon war durch den Stdnwurf beschädigt. Die Höhle liegt etwa zwölf Kilometer südlich von Jericho und einen Kilometer nordöstlich vom Ruinenhügel von Qumran. Unter den Lederrollen, die diese Beduinenhirten aufstöberten, befand sich auch eine 7,1? Meter lange Lederrolle mit dem lückenlosen Text des Isaias-Buches im hebräischen Urtext. Die Untersuchung durch Experten ergab, daß diese Isaias-Rolle zweifellos um etwa 100 vor Christus niedergeschrieben worden war, also rund 1000 Jahre älter ist als die älteste bisher bekannte hebräische Isaias-Hand-schrift.

In Khirbet Qumran, unweit der Hand-schriftenhöhle, wo diese aufsehenerregenden Funde gemacht wurden, wurden dann in den Jahren 1951, 1953, 1954, 1955 und 1956 systematische Grabungen durchgeführt. Diese förderten nicht nur einen Friedhof mit 1100 Gräbern zutage; eine umfangreiche Siedlung mit Töpfereiwerkstätr'en, :: 'Getreidemühlen, • Oefen, Vorratsbehältnissen urtd einer ausgedehnten Anlage zur Konservierung von Wasser, bestehend aus zwölf Zisternen, kam zum Vorschein. Es wurde dabei ein rechteckiges, zentrales Hauptgebäude im Umfang von 30 zu 37 Meter, das nicht ein gewöhnliches Wohnhaus, sondern vielmehr ein Versammlungshaus war, freigelegt. Ein zweiter großer Saal, der ausgegraben wurde, hat eine Länge von 22 Meter und kann als Speisesaal (refectorium) bezeichnet werden. Er muß religiösen Zwecken, besonders einer sakralen Mahlzeit gedient haben. In einem Obergeschoß des Hauptgebäudes wurden Reste von Tischen und zwei Tintenfässer gefunden, von denen eines sogar noch einen Rest eingetrockneter Tinte enthielt. Um den Tisch lief eine Bank aus Ziegelsteinen. Man schließt daraus, daß hier die Schreibstube (scriptorium) lag, aus der ein Großteil der neugefundenen Texte stammt. Ein völlig unversehrter Krug, der noch im Boden eines Hauses zum Vorschein kam und haargenau den Krügen aus der Manuskripten-höhle entspricht, bestätigt diese Annahme.

Nach allen Anzeichen muß diese hier aufgedeckte Ruinenstätte, die in der Forschung den Namen „Kloster“ erhielt, der jüdischen Sekte der Essener angehört haben. Von ihr berichtet der lömische Schriftsteller Plinius, wenn er schreibt: „Westlich vom Toten Meer lebten seit alten Zeiten sonderbare jüdische Asketen ohne Frauen, ohne Geld, ein Volk, das sich nicht durch Geburten erneuerte, sondern durch Ankömmlinge, die der Weltekel beständig herbeitreibt.“ Diese Essener waren eine Art Mönchsorden. Wie diese hatten sie ihre Ordenshäuser, in denen sie nach strengen Regeln zusammen lebten. An der Spitze der essenischen Ordensgemeinschaft stand der Vorsteher, dem die Mitglieder unbedingt gehorchen mußten. Nach einer dreijährigen Probezeit wurden die Novizen in den Orden aufgenommen, nachdem sie sich zuvor eidlich zur Offenheit gegen ihre Brüder und zur Geheimhaltung der Ordenslehre gegen die Nichtmitglieder verpflichtet hatten. Beim Eintritt in den Orden erhielten sie, nach dem Bericht des Josephus Flavius, drei Abzeichen: eine Grabhacke, einen Schurz und ein weißes Kleid. Nach dem Bericht des jüdischen Schriftstellers Philo „hatte keiner irgendwie eigenen Besitz, weder ein Haus noch ein Grundstück noch einen Sklaven noch Herden noch was überhaupt Reichtum verschafft, sondern ohne Unterschied legten sie alles zusammen und genossen den gemeinsamen Nutzen aller“. Ihr Leben war einfach, enthaltsam und bedürfnislos. Sie verwarfen die Ehe, ebenso das Schwören. Tieropfer lehnten sie ab. Deshalb waren sie vom Tempel in Jerusalem ausgeschlossen. Nach Josephus Flavius, der mit 16 Jahren sich den Essenern anschloß, war die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ein Hauptdogma, doch dürften auch noch Auferstehungshoffnungen im essenischen Milieu verbreitet gewesen sein.

Möglicherweise war Khirbet Qumran der Hauptsitz dieser Essenermönche. Hier, in dieser abgelegenen Gegend am Toten Meer, lebten sie, abseits des offiziellen Judentums und zu diesem im Gegensatz weltfern und abgeschlossen, in trostloser Selbstabkapselung dahin, studierten das Gesetz und nahmen unten am Meer ihre Tauchbäder, um der Forderung der rituellen Reinheit zu geniigen. Sie wohnten dabei teilweise in den umliegenden Felshöhlen und Grotten, teilweise in Hütten und Zelten, kamen jedoch zum Gebet und zur Erfüllung der übrigen religiösen Pflichten und zu den Mahlzeiten in ihr Gemeinschaftshaus auf dem Felsplateau von Qumran. Hier hatten sie eine umfangreiche Bibliothek, wo sie die Manuskripte kopierten. Hier lebten sie in der gemeinsamen Erwartung, daß die Endzeit unmittelbar bevorstehe, in echter Bußgesinnung und völliger Weltabgeschlossenheit dahin, bis dann im Jahre 68 nach Christus, währeffd des jüdisch-römischen Krieges (66 bis 70), die Soldaten der zehnten römischen Legion heranrückten. Wahrscheinlich wurden die Qumranleute rechtzeitig gewarnt, und so verpackten sie die Manuskripte sorgfältig, legten sie in zylindrisch geformte Tongefäße, die mit einem Deckel abgeschlossen werden konnten, und versteckten diese in den benachbarten Felshöhlen. Sie hofften, später wieder zurück-. zukehren und das Manuskriptendepot wieder holen zu können. Ihre Hoffnungen aber erfüllten sich nicht. Keiner kehrte zurück. Die Zerstörungen der Römer setzten ihrem Vorhaben ein Ende. So ging alles Wissen um ihr Versteck verloren. Die Sandstürme begruben, nach und nach jede Spur der einstigen Essenersiedlung und ihrer verborgenen Bibliothek mit den wertvollen biblischen und außerbiblischen Handschriften.

Diese sensationellen Manuskriptenfunde am Toten Meer, vor allem die außerbiblischen Texte der Sektenschriften, wie der Habakuk-Kommen-tar, die sogenannte Sektenregel und die Kriegsregel, haben bei einigen wenigen Gelehrten große Verwirrung gestiftet. In einer leichtfertigen und voreiligen Publizistik kündigten sie an: Durch die Schriftenrollen am Toten Meer sei die Originalität des Christentums in Frage gestellt. Das Spezifische am Christentum habe vorher schon existiert. Es habe ein „Christentum vor Christus“ gegeben, ja das Christentum sei geradezu aus der essenischen Sekte herausgewachsen. Christus sei ein Essener oder wenigstens ein Essenerschüler gewesen. Einer veTStieg sich dabei sogar zu dem Satz: ,',Der galiläische Lehrer, wie ihn die Schriften “des Nauen Testaments darstellen, erscheint in vieler Hinsicht wie eine erstaunliche Re-inkarnation des Lehrers der Gerechtigkeit“, von dem in den neuentdeckten Qumranschriften so oft die Rede ist.

Tatsächlich bestehen zwischen der Qumran-gemeinde und der christlichen Urgemeinde manche Parallelen und Uebereinstimmungen. So begegnen wir in den Essenerschriften ähnlichen Gebräuchen, wie sie uns aus dem Neuen Testament bekannt Sind. Beispielsweise wird da auf ein sakrales Mahl hingewiesen, bei dem ein Priester — in der Endzeit der Priestermessias — Brot und Wein segnet. Das mag in etwa an das christliche Abendmahl erinnern. Die vorchristlichen „Mönche“ von Qumran hatten einen Aufseher, dessen Funktionen mehr oder weniger denen eines Bischofs entsprachen. Auch in Stil, Sprache und Gedankenwelt ist der Qumran-gemeinde und der christlichen Urgemeinde manches gemeinsam. So nennen sich die Frommen dieser jüdischen Sekte „Söhne des Lichtes“, gegenüber den „Söhnen der Finsternis“, ähnlich wie das Neue Testament von den „Kindern des Lichtes“ (Luk. 16, 8; Joh. 12, 36; Eph. 5, 9) spricht. Aber es darf das eigentlich gar nicht wundernehmen. Denn beide, sowohl die Qumrangemeinde wie auch die christliche Urgemeinde, lebten ja zu gleicher Zeit, sind im gleichen Land beheimatet und hängen vom gleichen Alten Testament ab. Das Alte Testament ist für beide der gemeinsame Nähr- und Mutterboden. Diesem gemeinsamen Nähr- und Mutterboden entsproß manches, was uns an verwandten Zügen entgegentritt.

Auf der anderen Seite herrschen zwischen der Qumrangemeinde und der christlichen Urgemeinde doch wieder abgrundtiefe Unterschiede. Einmal auf dem Gebiete der Bußdisziplin. In Qumran gibt es schon für geringfügige Uebertretungen und Verstöße überaus harte Strafen. Derjenige, der das Mißgeschick hat, während der Versammlung einzuschlafen,, wird 30 Tage aus der Gemeinde ausgeschlossen. Wieviel menschlicher ist da das Christentum! Wie Paulus in Troas beim Sonntagsgottesdienst bis spät in die Nacht hinein predigte, fielen dem jungen Eutychus, der auf der Fensterbank saß, vor Müdigkeit die Augen zu. Er stürzte aus dem Fenster auf die Straße, wo er tot liegenblieb. Paulus beugte sich über ihn, nahm ihn in seine Arme und erweckte ihn zum Leben (Apg. 20, 7—12).

Unterschiede sind auch auf dem Gebiete der Liturgie und des Kultus. Vom Sabbat heißt es in der auch in Qumran heimischen Damaskusschrift: „Niemand soll dem Vieh am Sabbat Geburtshilfe leisten, und wenn es am Sabbat in einen Brunnen oder in eine Grube fällt, soll er es nicht herausziehen.“ Wie ganz anders ist da die Sabbatauslegung Jesu als die der Sekte! Für Jesus ist es ganz selbstverständlich, auch am Sabbat einem in die Zisterne gefallenen Tier zu helfen (Mt. 12, 11). — Auch der Unterschied des sakralen Essenermahles vom christlichen Abendmahl springt alsogleich in die Augen. Wohl wird bei diesem sakralen Gemeindemahl in Qumran Brot und Wein gesegnet. Aber nirgends ist dabei von einer Wandlung in das Fleisch und Blut des Messias die Rede. Das Segnen von Speise und Trank ist ein uralter Brauch und hat mit der Eucharistie nichts zu tun.

Fundamentale Unterschiede bestehen auch in bezug auf die theologischen Grundlehren. In Qumran wird im Regelbuch das Liebesgebot ausdrücklich auf die Glaubensbrüder beschränkt, der Feindeshaß gegen alle außerhalb ihrer Gemeinschaft Stehenden geradezu zum Gebot und Prinzip erhoben. Nur die Ordensmitglieder werden selig werden, alle andern, Juden wie Heiden, sind „Söhne der Finsternis“, die „mit ewigem Haß“ zu hassen sind und die Gott beim Gericht vernichten wird. Jesus dagegen gebot, die Feinde zu lieben: „Ihr habt gehört, daß gesagt wurde: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen I Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger“ (Mt. 5, 43—44). Das Christentum mit seinem missionarischen Auftrag an alle Völker und alle Nationen kennzeichnet universale Weltweite, die Essenergemeinschaft aber mit ihrem starken Feindeshaßgefühl und ihrer Selbstabkapselung von allen nicht Eingeweihten echt sektiererische Enge.

Was aber die Qumrangemeinde und die Christengemeinde abgrundtief voneinander trennt, ist das Neue, spezifisch Christliche, das das Christentum gebracht, und das ist neben der Trinität vor allem der Glaube' an Jesus Christus, den menschgewordenen Gottessohn. Dieser menschgewordene Gottessohn war kein Essenerschüler, wie das manche Gelehrte aus den Löchern und dem halbverfaulten Leder dieser vorchristlichen Fragmente herauslesen wollten. Er hatte es auch gar nicht nötig, in die Essenerschule zu gehen und dort seine Weisheit zu holen, weil „Er im Vater ist und der Vater in Ihm ..., weil Er vom Vater ausgegangen ist und alle Wahrheit vom Vater hat'i (Joh.14-*-16^. Daß Jesus kein Essenerschüler war, wußten seine Landsleute ganz genau. Denn als Jesus nach Nazareth kam, „verwunderten sie sich über die Worte voll Anmut, die aus seinem Munde kamen, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?“ (Luk. 4, 22). Wäre Jesus jahrelang fern der Heimat, eben drunten in der Wüste bei den Essenern gewesen, wäre das bei den Mitbürgern in der kleinen Stadt bekannt gewesen, und sie hätten keinen Grund gehabt, sich über Ihn zu wundern. — Dieser Jesus von Nazareth ist auch nicht nur ein Rabbi und Prophet wie der „Lehrer der Gerechtigkeit“ der essenischen Sektenschriften, sondern der Messias selbst. Er kommt nicht, um zu belehren und auszulegen, sondern zu erfüllen, was das Alte Testament vom Messias gesagt hat. In Ihm hat Gott selbst in die Menschheitsgeschichte eingegriffen. Auf Ihn war die ganze Geschichte hingeordnet, vor allem die Geschichte Israels. In Ihm ist das göttliche Licht sieghaft in die Welt der Finsternis hineingebrochen. In Ihm kommt Gottes Gnade und Sündenvergebung. Zu Ihm, als dem Sohne Gottes, bekennt sich der Christ bei der Taufe, und im eucharistischen Abendmahl empfängt er nicht nur ein gesegnetes Brot, sondern den Herrn selbst, Seinen Leib und Sein Blut. Durch Seinen Tod am Kreuze ist Er der Erlöser aller Menschen geworden, nicht nur einer kleinen Schar von Eingeweihten und Auserwählten. Mit Seiner Auferstehung hat Er die Macht des Todes gebrochen und herrscht nun als messianischer König, als Kyrios zur Rechten Gottes. Er wird wiederkehren und allem satanischen Wesen auf Erden ein Ende machen. Mit Recht fühlt sich die Gemeinde von Qumran am Ende der vor-messianischen Adventszeit stehen und wartet sehnsuchtsvoll auf das kommende Reich und seinen Messiaskönig. Die, Christusgemeinde aber fühlt sich in einem neuen Aeon, „in der Fülle der Zeit“ (Gal. 4, 4). In Jesus von Nazareth ist der Messias bereits gekommen! In Ihm hat sich erfüllt, worauf die Qumran-Essener noch sehnsuchtsvoll warten. Jesus hat in dieser Welt einer ganz neuen Anfang gesetzt und das messianische Weltzeitalter heraufgeführt. So viele Paralleler zwischen Qumrangemeinde und der christlicher Urgemeinde auch sein mögen, der Name Jesui ist es. der alles anders prägt und alles in einen anderen, neuen Licht erscheinen läßt.

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